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Veröffentlicht am 27.11.2022

Grandioses Debüt

Für euch
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Als Iris' Mutter ins Krankenhaus kommt, sie ihr beim Waschen, beim Essen, beim Schminken helfen muss, tut sich etwas in ihr. Immer war ihre Mutter es, die für sie da war, die all das, was sie ...

Als Iris' Mutter ins Krankenhaus kommt, sie ihr beim Waschen, beim Essen, beim Schminken helfen muss, tut sich etwas in ihr. Immer war ihre Mutter es, die für sie da war, die all das, was sie durchstand, immer "für euch" gemacht hatte. Für sie, Iris, war sie anschaffen gegangen, hatte mit Drogen gedealt, geklaut, war im Gefängnis. All das Geld, das sie verdiente, war dafür vorgesehen, dass ihre Tochter alles haben, ein Leben führen könnte, ohne jemals zurückzustecken oder sich zu schämen. Lieber die Flaschejacke, als dass sie Brot zum Frühstück haben. Iris blickt zurück auf ihre Kindheit, auf das bewegte Leben ihrer Mutter, wie sie ihren Vater kennenlernte, sie selbst geboren wurde, sie erwachsen wurde - und sich schließlich abkapselte. Warum zog sie sich zurück und lehnte die Nähe und Fürsorge ihrer Mutter am Ende ab, warum war sie ihr jemals peinlich? Schließlich hatte sie für sie, Iris, sogar Kotze vom Diskoklo gewischt.

Iris Sayrams Debütroman "Für euch" hat mich umgehauen. Sie erzählt aus ihrer Sicht von all den Menschen, die ihr während ihres Lebens begegneten, immer im großen Kontext, das Leben ihrer Mutter, wie sie sich aufopferte, sich im Köln der 80er und 90er Jahre kaputt arbeitete, immer im krassen Gegensatz zu ihrem Vater, der als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland emigrierte und sich dort in Sonja verliebte. Iris als Protagonistin ist aufgeweckt, unglaublich klug - besonders in Mathe - und muss schnell lernen, erwachsen zu sein. Ihr dabei zu folgen, wie sie älter wird, welche Erfahrungen sie schon in jungen Jahren machte, mit welchen Kreisen sie in Kontakt war, den Prozess der Trennung, der Inhaftierung und des Abschieds, immer begleitet von Scham, von Traurigkeit, von dem unbedingten Wunsch, es einmal besser zu haben, sich aus ihrer Klasse zu emanzipieren.

Sprachlich mitreißend, große Bilder, kam das Ende für meinen Geschmack ein wenig zu schnell, zu rasant - aber der Tod klopft schließlich auch nicht an. Ein grandioses Debüt mit argen Daniela Dröscher- und Klassenkampf-Vibes, toll!

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Veröffentlicht am 27.10.2022

Abgebrochen.

Die Meerjungfrau von Black Conch
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David ist ein junger Seemann, der es liebt, mit seiner Gitarre aufs Meer hinauszufahren und seine Lieder zu singen. Eines Tages lernte er dabei ein sonderbares Wesen, eine Meerjungfrau - nicht ...

David ist ein junger Seemann, der es liebt, mit seiner Gitarre aufs Meer hinauszufahren und seine Lieder zu singen. Eines Tages lernte er dabei ein sonderbares Wesen, eine Meerjungfrau - nicht ganz Fisch, nicht ganz Mensch - kennen, die ihn von da an auf seinen Fahrten begleitete und seinem Spiel und Gesang lauschte: Aycacia. Geflohen vor gewalttätigen Männern, den bösen Zungen der Frauen, suchte sie im Meer ihre Freiheit. Doch als sie eines Tages von einer Gruppe junger Fischer gefangen wird, wird ihr auch diese Flucht entsagt. Als David von den geflügelten Worten der Betrunkenen hört, macht er sich sofort auf den Weg, seine große Liebe zu retten. Aber wird sie im niedrigen Wasser seiner Badewanne, in seinem kleinen Haus glücklich werden?

Was soll ich sagen. Ich hatte so Lust auf dieses Buch, endlich mal ein wenig davonträumen, weg von der harten Belletristik, den schweren Themen, ein wenig fantastisch denken. Aber das Buch bereitete mir eine harte Zeit: Bereits auf den ersten fünfzig Seiten häuften sich rassistische Formulierungen und Ausdrucke, die Sprache der Menschen und ihre Handlungen stießen mir unangenehm auf. Dadurch entschloss ich mich schweren Herzens, das Buch nach fünfzig Seiten abzubrechen. Es hat nicht sollen sein...

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Veröffentlicht am 20.10.2022

Enttäuschend

Unsre verschwundenen Herzen
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Ich wollte es so sehr lieben. Von ihren Worten ein ums andere Mal verzaubern lassen, wie sie es mit "Kleine Feuer überall" schon einmal schaffte. Mitfiebern, leiden, wie betäubt die letzte Seite umblättern. ...

Ich wollte es so sehr lieben. Von ihren Worten ein ums andere Mal verzaubern lassen, wie sie es mit "Kleine Feuer überall" schon einmal schaffte. Mitfiebern, leiden, wie betäubt die letzte Seite umblättern. Doch mit ihrem neuen dystopisch anmutenden Roman "Unsere verschwundenen Herzen" (OT: Our Missing Hearts, übertragen von Brigitte Jakobeit) konnte Celeste Ng mich leider nicht abholen. Von Beginn an erzeugt sie eine bedrückende, düster wabernde Atmosphäre des Verlusts und der Angst, zeichnet das trostlose, monochrome Bild eines von der Krise gebeutelten Landes, das nur durch Demonstrationen gegen das PACT-Abkommen Farbe erhält, wieder und wieder rote Wunden, auf die Straße gemalte Herzen. Sie sollen aufmerksam machen auf all die Kinder, die ihren Familien, ihren Eltern asiatischer Herkunft, entrissen wurden. Die Welt, die sie beschreibt, wirkt so real, so echt, wie eine böse Vorahnung, ist die wirtschaftliche Situation gar nicht mal so abwegig - und, wie man es jeden Tag in den Nachrichten sieht, auch die Zunahme rassistischer Gewaltakte allgegenwärtig. Allerdings vermisste ich im Hinblick auf PACT und die Denunziation asiatisch-stämmiger Menschen eine reflektorische Komponente. Die Darstellung der politischen Situation und ihrer Hintergründe wirkte eher inkonsistent und willkürlich, eindimensional.

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Veröffentlicht am 20.10.2022

Magnifique

Anleitung ein anderer zu werden
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Immer wieder gibt es diese Bücher, die einem den Atem nehmen; die sich gleichermaßen wie eine wärmende Decke um einen legen und einem Tränen in die Augen treiben. Bücher, die einen nicht mehr loslassen, ...

Immer wieder gibt es diese Bücher, die einem den Atem nehmen; die sich gleichermaßen wie eine wärmende Decke um einen legen und einem Tränen in die Augen treiben. Bücher, die einen nicht mehr loslassen, etwas bewegen, Gedanken weit über das Ende der Zeile hinaus provozieren.

Schon immer strebte er danach, ein Anderer zu werden, seiner Herkunft, die sich in Gestik, in Stimme und Haltung in ihm manifestiert hatte, zu entfliehen. Seinem Vater. Der Armut, der Scham. Er wollte Édouard werden, in Paris studieren und leben, aufsteigen. Frei sein, sich frei machen, ein gutes Leben führen. Doch diese Veränderung hat einen Preis. In "Anleitung ein anderer zu werden" (aus dem Französischen von Sonja Finck) beschreibt Édouard Louis reflektiert, ehrlich und ungemein vulnerabel, wie die letzten Jahre seit der Veröffentlichung seines Debütromans "En finir avec Eddy Bellegueule" und der damit verbundenen Bekanntheit, aber auch welche Personen ihn verändert haben. Aus einer gereiften, erfahreneren Perspektive blickt er zurück auf die Beziehung zu seinem Vater und Szenen seiner Kindheit, die er in seinen drei vorherigen Romanen bereits umriss, und erzeugt so ein Gefühl der Nähe, des „Eingeweihtseins“. Doch nun, Jahre später, ist im vieles klarer, so auch die Rolle seiner einstmals besten Freundin Elena, die ihm ein Vorbild war, seine Metamorphose begünstigte und unterstützte.

Gleichermaßen sehnsuchtsvoll, schambehaftend und ablehnend versucht er in einer fiktiven Ansprache an seinen Vater Distanz- und Fixpunkte zu definieren, um den Erfolg seines Bemühens, seine Herkunft abzulegen, zu objektivieren. Es sind Dinge, die er sich nie traute, ihm zu sagen, aus Angst, sie könnten ihn verletzen; „ich will nur, dass du es weißt, mehr nicht“ (S. 28); Dinge, die er sich im Schreiben immer wieder vergegenwärtigt, um sie zu verarbeiten und mit Abstand betrachten zu können: den Umgang mit Sexualität und Rassismus, seine soziale Klasse und seine Erziehung.

Erst durch seine Freundschaft zu Elena, einem wohlhabenden Mädchen am Gymnasium, das ihn zu sich nach Hause einlud, erkannte er: Was für ihn normal ist, was im suggeriert worden war, normal zu sein – Rauchen in der Wohnung, Essverhalten, von Geschwistern trübes Badewasser –, ist es in anderen gesellschaftlichen Schichten nicht. Er verbringt immer mehr Zeit im Kreise ihrer Familie, schaut sich ab, wie er zu lachen, sprechen, zu essen, wie er sich zu betragen hat. Wie er ein besserer Mensch werden kann. Er färbte seine Haare, begann, andere Kleidung zu tragen; Jahre später unterzog er sich mit der finanziellen Unterstützung seiner Geliebten einer Haartransplantation und umfassender Kieferchirurgie. Bis er endlich Édouard wurde.

In gewisser Weise sollten seine Begegnung mit Didier Eribon und dessen Autobiographie „Retour à Reims“ einen Punkt in seinem Leben markieren, an dem ihm bewusst wurde, was er wirklich will, wohin er will, dass er der sein kann, der er immer sein wollte. Er suchte seine Nähe, sehnte sich danach, von ihm zu lernen, wie er zu sein, talentiert und wohlhabend, und fand schließlich einen Freund in ihm, der ihn leitete, prägte und bei seinem Aufstieg weiterhalf. So hangelte er sich schließlich von einer Bekanntschaft zur nächsten, flog hoch und stürzte tief – und wie er dies so offen darlegt, sich seinem Scheitern und dessen Gründen komplett bewusst ist, das hat mein Herz wirklich berührt. Immer wieder springt er in diesen schwierigen Erinnerungen von der Vergangenheit in die Gegenwart, um eine „Pause zu machen“, schließlich ist es auch für ihn emotional belastend, all das aufzuarbeiten. Und immer wieder: Perspektivwechsel, kurze, schneidende Einwürfe, in denen er sich selbst anspricht, vor einem Spiegel stehend anklagt, um dann, um sich wiederum zu distanzieren, von sich selbst in der dritten Person redet, sich objektiviert. Der Raum zwischen den Zeilen voller Schmerz.

Könnte ich jemals solch drastische Maßnahmen ergreifen, um eine andere zu werden, meine Art zu sprechen, zu schreiben verändern, um mich meiner Herkunft zu entsagen? Ich glaube nicht, es würde sich komisch anfühlen, wie ein Schauspiel hinter geschlossenem Vorhang, das Skript noch in der Hand. Édouard jedoch, er spricht frei aus seinem Herzen, spricht mit all dem Willen und Mut, den es braucht, die Fesseln abzustreifen, mit all der Demut und dem Schmerz, den er erfuhr, und letztlich auch voller Respekt vor all den Menschen, die ihn zu dem machten, der er heute ist. Auch vor seinen Eltern, denn sie werden immer ein Teil von ihm bleiben, auch wenn in seinem Pass ein anderer als sein Geburtsname steht. Und wegen all dieser Aspekte, dieser tiefen Menschlichkeit, Offenheit, seine Geschichte in dieser Art mit uns zu teilen, bleibt sie für immer in meinen Gedanken. Magnifique, monsieur Louis!

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Veröffentlicht am 21.09.2022

Ein wahres Herzensbuch

Verbrenn all meine Briefe
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Schulman vermag es, mit wenigen Worten komplexe, ausdrucksstarke Charaktere zu zeichnen, die einen nicht mehr loslassen. Seite um Seite habe ich mit Karin, dieser starken, gebrochenen Frau, gefühlt, zuckte ...

Schulman vermag es, mit wenigen Worten komplexe, ausdrucksstarke Charaktere zu zeichnen, die einen nicht mehr loslassen. Seite um Seite habe ich mit Karin, dieser starken, gebrochenen Frau, gefühlt, zuckte bei jedem Geräusch in banger Erwartung Svens zusammen, weinte mit ihr ob der Erfahrungen, die sie bereits in jungem Alter – und in der Ehe mit Sven tagtäglich – machen musste. Und hoffte bis zuletzt, dass sie sich von ihm befreien, ein glückliches Leben voller Liebe, ohne Angst, würde führen können. Geradezu ängstlich, worauf seine Recherchen hinauslaufen würden, streut Schulman immer wieder Erinnerungen an einen Urlaub bei seinen Großeltern im Jahr 1988, seine Wahrnehmung des allmächtigen Svens und seine zufällige Entdeckung, und sein gegenwärtiges Spurenlesen, Reflektieren und Zusammensetzen der Puzzleteile ein. Respektvoll, geradezu dankbar geht er dabei mit seinem Erbe, den Erinnerungen, die ihm ein Schlüssel zu ihm selbst sein sollen, um, und diese Dankbarkeit ist mit jedem Wort spürbar. Er hat seiner Großmutter Karin eine Stimme gegeben, der Frau, die sich immer im Hintergrund, hinter ihrem Ehemann, hielt, die immer still war, ausgehalten und ertragen hat und es nie schaffte, das Leben, das sie sich wünschte, zu führen. Nun, gut zwanzig Jahre nach ihrem Tod, tritt sie aus dem Schatten - und wie! Die tragische Liebesgeschichte Karin und Olofs hat mich mitten ins Herz getroffen, und da werde ich dieses Buch auch noch lange tragen.

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