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Veröffentlicht am 08.08.2021

Sehr spannend

Der Brand
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„Manchmal ist das wohl nicht zu verhindern, dass zwei Menschen nicht mehr im Gleichschritt gehen.“ (S. 174)

Auch vor der Liebe macht die Zeit nicht halt, man lebt sich auseinander und die Gewohnheit übernimmt ...

„Manchmal ist das wohl nicht zu verhindern, dass zwei Menschen nicht mehr im Gleichschritt gehen.“ (S. 174)

Auch vor der Liebe macht die Zeit nicht halt, man lebt sich auseinander und die Gewohnheit übernimmt im Alltag die Oberhand. Sind all die gemeinsamen Erlebnisse, die geteilten Emotionen nicht Grund genug, zusammenzubleiben? Rahel und Peter haben sich nach dreißig Jahren Ehe und zwei gemeinsamen Kindern allmählich, schleichend voneinander entfernt, emotional wie körperlich, und die Gefühle tanzen aufs Messers Schneide. Eine gemeinsame Auszeit fernab des Alltags soll Klarheit darüber verschaffen, wie es weitergehen soll, ob sie sich noch einmal annähern können. Drei Wochen verbringen sie auf dem alten Bauernhof einer Freundin, kümmern sich um die Tiere, um den Hof und – noch wichtiger – um ihre Beziehung zueinander: Sie lernen sich in neuen Rollen kennen, erfahren komplett exponiert vor dem jeweils anderen all die Wut und die Hilfslosigkeit, die sich über die vergangenen Jahre anstaute, sprechen Ungesagtes frei heraus und lassen die Hüllen fallen. Ob sie sich wieder zusammenraffen können?

Wieder einmal hat Daniela Krien es geschafft, mich mit ihren klugen, empathischen Worten und einer Fülle an Emotionen zu begeistern. In ihrem neuen Roman „Der Brand“ beschreibt sie mit feinfühliger Beobachtungsgabe selbst die feinsten Nuancen der Beziehung von Rahel und Peter, die durch die Beschreibung aus Rahels Sicht eine sehr klare, getroffene und fragende Tonalität erhalten. Es ist interessant zu beobachten, wie sie miteinander agieren, wie aus dem Schatten des Unwissens Licht wird und alte Wunden aufbrechen. Krien lässt dezent auch das aktuelle Zeitgeschehen einfließen, erwähnt beiläufig Hamsterkäufe und Gesichtsmasken und die Limitierung auf eine Reise im Inland. Durch Peters Job als Dozent, der ein einschneidendes Erlebnis für Leben bedeuten soll, werden auch Genderdebatten thematisiert, kurz nur, für den Verlauf der Geschichte aber wichtig. Durch den hohen, gut situierten sozialen Status ihrer Protagonisten klingt auch immer wieder, gerade im Zusammenspiel mit der Tochter der beiden, Kritik an der deutschen Klassengesellschaft an, ohne wertend zu sein.

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Veröffentlicht am 08.08.2021

Eine düstere Reise

Raumfahrer
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„Nachkriegszeit und Wendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur die Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweisen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen, ...

„Nachkriegszeit und Wendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur die Brocken und Steine eingestürzter Häuser. Nicht nur die Fundamente suchen und ihnen nachweisen. Gebäude ließen sich abtragen und aufbauen, Erinnerungen nicht. Schmerzen nicht.“ (S. 270)

Losgelöst vom Erdboden, in der vergangenen Zeit stehengeblieben – so würde Jan seine Eltern beschreiben. Der junge Mann arbeitet im Krankenhaus und wohnt zurückgezogen bei seinem Vater; über die Mutter reden sie nicht, genauso wenig wie über die DDR-Vergangenheit der Eltern. Als eines Tages Herr Kern, ein Patient im örtlichen Krankenhaus, Jan eine Kiste mit alten Dokumenten überreicht, gerät das zarte Gleichgewicht der Familie aus den Fugen, denn wie sich herausstellt, haben sie eine Verbindung zueinander, die Jahre zurückliegt und Jans Eltern ebenso wie Herrn Kern fürs Leben zeichnen sollte. Vertieft in die Geschichte seiner Eltern und der Gebrüder Baselitz kommt er einer dunklen Vergangenheit auf die Spur, die ihre Fühler bis in die Gegenwart ausstreckt.

In seinem neuen Roman „Raumfahrer“ zeichnet Lukas Rietzschel umsichtig, aber unglaublich ausdrucksstark ein eindrucksvolles Bild der Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des geteilten Deutschlands, einer Zeit, als die Mauer Familien trennte, Generationen von Menschen auseinanderbrachte und ihnen Narben zufügte, psychisch wie physisch, die auch noch Jahre später fühlbar sind. Seine reduzierte Sprache verleiht der Geschichte eine sehr präzise, fesselnde Sogwirkung, der Wechsel der Zeitebenen, die ständige Reise zwischen Gegenwart und naher wie ferner Vergangenheit lässt innehalten, erfordert Momente des Sackenlassens, des Nachwirkens.

Der Protagonist Jan erlebte eine traurige, graue Kindheit inmitten des Industriegebiets, umgeben von metallenen Gebäuden, Abgasen und abgelegener Stille. Seine Eltern schwebten stets in anderen Sphären, waren in der eigenen Vergangenheit verankert, haben komplett den Sinn zur Gegenwart verloren: Sie sind „Raumfahrer, schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während die schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht. Sie sahen dabei zu, streckten die Hände aus. Versuchten, vor- oder zurückzukommen. Hoch, runter. Aber wo sie sich befanden, gab es keine dieser Richtungen im Raum. Und Jan stand auf der Erde und richtete sein Fernglas aus sie.“ (S. 196) Entsprechend geistert Jan nun durch sein Leben, weiß nichts mit sich anzufangen und ist allgemein ein eher abwesender, unsicherer Mensch. Er agiert sehr passiv, es ist ihm egal, was ‚der alte Mann‘ von ihm möchte, am liebsten hat er seine Ruhe – die habe ich manchmal auch sehr gerne, aber mit Jan wurde ich nicht warm.

Es hat mich beeindruckt, wie fein und empathisch Rietzschel jedem seiner Protagonist:innen ihr:sein persönliches Trauma, eine eigene Atmosphäre verleiht, Ängsten und Träumen zwischen den Zeilen Raum gibt, eingesogen zu werden. Er bringt ein Tabuthema zutage, die graue Zeit der Überwachung und Erniedrigung, Zeiten von Angst und Flucht: "Können wir uns die nächsten vier Wochen nur bei laufender Waschmaschine unterhalten?" (S. 192) Noch dazu flicht er zeitgenössische Kunst ein, ein von ihm fiktional erschaffenes Schicksal wahrer Menschen, die phasenweise ein wenig der Rasanz raubten, aber nichtsdestoweniger interessant zu verfolgen waren.

Insgesamt hat mich „Raumfahrer“ arg für sich gefangen genommen, und das Charisma des Schreibstils Rietzschels wie die geschichtliche Relevanz und Bedeutsamkeit der Geschichte wirken noch immer nach.

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Veröffentlicht am 08.08.2021

Ein Meisterwerk

Auszeit
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„Ich glaube, alles ist eine Frage der Geschwindigkeit. Man muss eine Grundbetriebsgeschwindigkeit haben, die einen über die tausend kleinen Abgründe hinwegträgt, die in jeder Handlung, ja, eigentlich in ...

„Ich glaube, alles ist eine Frage der Geschwindigkeit. Man muss eine Grundbetriebsgeschwindigkeit haben, die einen über die tausend kleinen Abgründe hinwegträgt, die in jeder Handlung, ja, eigentlich in jedem Gedanken versteckt sind.“ (S. 85)

Henriette muss raus. Abschalten und nachdenken, Abstand gewinnen zu ihrer Studienarbeit, zu dem, was war, zu der Rolle, die sie hätte ausfüllen können. Sie hätte Mutter sein können, aber sie trieb das Kind ab, und fragt sich nun, wie es überhaupt so weit kommen konnte, was sie eigentlich vom Leben will, was ihre Ziele sind, denn immer öfter fühlt sie sich haltlos, schwebt ohne Anker absichtslos durch die Welt. In einer Ferienhütte nahe Landshut, weit ab vom grauen Alltag, möchte ihre Freundin Paula ihr dabei helfen, sich zu erden – bis ihr Freund Tom ins Bild tritt und Staub aufwirbelt.

In ihrem Debütroman „Auszeit“ skizziert Hannah Lühmann eine Gefühlswelt, die wohl jeder:m bekannt ist: Ausgebranntheit, Unwohlsein, Ziellosigkeit – man sucht einfach den Sinn des Ganzen, warum man das macht, was man gerade macht. Äußerst präzise, aber doch auf eine Weise distanziert, seziert Lühmann über den Verlauf des Romans die Gefühlsschwankungen der Protagonistin Henriette, die kurz nach ihrer Abtreibung in einer Art Loch ist, sich einsam fühlt, deprimiert, und noch dazu im Hinblick auf ihre Dissertation zum Thema Werwölfe in der Literatur am Nullpunkt angekommen ist. War die Promotion eh nur ein notdürftiger Ausweg aus ihrer Ziellosigkeit im Leben, treibt sie sie nun noch viel mehr in die Verzweiflung: „Ich konnte meinen Fehler nicht zugeben, ich konnte die Jahre nicht rückgängig machen, also konnte ich nicht aufhören.“ (S. 12)

Düster, bedrückt ist die Grundatmosphäre des Romans, wenn die länger werdenden Schatten der Bäume beschrieben werden, Henriette sich in die Theorie der Werwölfe vertieft, wenn sie ihren Gefühlen Raum verleiht, ihre Ängste und ihre Trauer zu Worten werden. Ihre Situation scheint ausweglos und vertrackt, und doch britzelte stets auch ein wenig Hoffnung mit bei, die bis zum Ende währte.

Der Roman hat mich noch lange nach der Lektüre beschäftigt. Zunächst war ich ratlos, wusste nichts mit dem Gelesenen anzufangen, fand alles auf eine Art überzogen, zu reduziert, einfach nicht stimmig, doch nun, ein paar Tage später, muss ich immer wieder an Henriette denken, wie sie stellvertretend für die Ziellosigkeit der heutigen Generation steht, denen alle Möglichkeiten offenstehen, sich aber nicht entscheiden können oder – und das ist noch eine ganz andere, aber unglaublich relevante Ebene – denen es finanziell gar nicht möglich ist, ihre Ziele zu verwirklichen. Auch das Thema Kinder: Immer später entscheiden sich Frauen dazu, Mutter zu werden, benötigen heutzutage nicht einmal mehr einen Partner, um eine Familie zu gründen; kurz: der klassische Lebensentwurf stirbt aus. Mich hat bewegt, wie sehr sich Henriettes Psyche durch die Schwangerschaft verändert hat, durch den Ausblick auf eine Aufgabe in ihrem Leben, die Aussicht, gebraucht zu werden, nicht mehr alleine zu sein: „Ich wusste, dass es zwei Lösungen für mich gab, die eine hieß "Zeit" und die andere hieß "jemand". Menschen wie ich, vielleicht Menschen überhaupt, brauchten entweder sehr viel Zeit, eine Länge, sie bräuchten etwas Lineares, einen Raum, in den sie sich hineinentwickeln konnten - oder aber sie brauchten einen anderen Menschen, der sie begrenzte, der ihnen etwas vorgab, der ihnen half, ihre Motive zu entwickeln.“ (S. 101f)

Ein wirklich denkwürdiges Debüt, dass Zeit zur Entfaltung braucht, dann aber mit eiskalter Faust in Beschlag nimmt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Brandenburger Idylle

Über Menschen
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"Glaubst du, dass man sich ändern kann?", fragt Dora.
"Man kann sterben", erwidert Gote.
"Das meine ich nicht."
"Ist aber ne ziemliche Veränderung." (S. 372)

Dora hat genug; genug von Berlin, von der ...

"Glaubst du, dass man sich ändern kann?", fragt Dora.
"Man kann sterben", erwidert Gote.
"Das meine ich nicht."
"Ist aber ne ziemliche Veränderung." (S. 372)

Dora hat genug; genug von Berlin, von der Enge und der Hektik, genug von ihrem Freund Robert, der sich immer mehr verändert. Da kommt es gerade recht, dass sie im vergangenen Jahr, bevor die Pandemie ausbrach und das Leben noch so war, wie man es gewohnt war, ein altes Gutshaus in Bracken, einem kleinen Dorf irgendwo in Brandenburg, gekauft hat. Kurzerhand packt sie ihr Hab und Gut und ihren Hund und zieht aufs Land. Doch ganz so idyllisch, wie sie sich das vorgestellt hatte, ist es hier wahrlich nicht und der Neuanfang gestaltet sich sehr holprig. Ihr Grundstück gleicht einer Wildnis, der nächste Supermarkt befindet sich eine Stunde entfernt und ihr Nachbar, dessen Grundstück hinter einer hohen Mauer verborgen liegt, ist der „Dorf-Nazi“. Langsam muss sie sich über ihr neues Leben in Bracken, ihren Gedanken und Vorurteilen gegenüber dem Land und seinen Leuten klar werden, ihr Leben neu ordnen und erfahren, nicht allen vorgefertigten Meinungen Glauben zu schenken. Und lernt, hinter die Fassade von Menschen zu blicken, einen zweiten Blick und eine zweite Meinung zu wagen.

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zeichnet Juli Zeh ein eindrückliches Bild unserer gegenwärtigen Gesellschaft, die mit sich selbst hadert, mit ihren Schwächen und Ängsten, vor allem aber aktivistischer denn je motiviert ist. Doch sie beleuchtet auch die Stärken, Menschlichkeit und Verletzlichkeit zuzulassen, sich Fehler einzugestehen und sich Hilfe zu suchen, wenn man alleine nicht mehr weiterkommt.

Die Protagonistin Dora macht dem Klischee einer Städterin alle Ehre; völlig überfordert und unvorbereitet flüchtete sie kurz vor Beginn des ersten Lockdowns zu Beginn des Jahres mit ihrem wenigen Hab und Gut und notdürftigen Einkäufen mitten ins Nirgendwo, nämlich nach Bracken. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, und – wenn man den Hetzen ihres Vaters Jo, einem angesehenen Neurochirurgen, Glauben schenken mag – auch der nächste Nazi lässt nicht lange auf sich warten, wohnt er tatsächlich im Nachbarhaus.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Unfassbar gut!

Gestapelte Frauen
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„Vergessen heißt verlieren. Verlieren heißt töten. Finden heißt leben.“ (S. 73)

Alle sieben Stunden wird in Brasilien eine Frau wegen ihres Geschlechts Opfer eines sexuellen oder gewalttätigen Übergriffs ...

„Vergessen heißt verlieren. Verlieren heißt töten. Finden heißt leben.“ (S. 73)

Alle sieben Stunden wird in Brasilien eine Frau wegen ihres Geschlechts Opfer eines sexuellen oder gewalttätigen Übergriffs mit Todesfolge – begonnen von ihrem Mann, Exfreund oder einem anderen männlichen, nahen Verwandten. Im Jahr 2006 wurde das „Maria-da-Penha“-Gesetz in Brasilien verabschiedet, das Gewalt gegen Frauen härter bestrafen soll, doch eine nachweisliche Besserung ist nicht zu verzeichnen. Das macht Patricia Melo in ihrem Roman „Gestapelte Frauen“ mehr als deutlich.

Wie auf Wolken fühlt sich die junge Anwältin, als sie Amir kennenlernt. Er ist intelligent und humorvoll, und berauscht tanzen sie gemeinsam durch die Nächste São Paulos. Schnell entwickelt sie intensive Gefühle für ihn, doch als er sie auf einer Party ohrfeigt und beleidigt, verbricht etwas in ihr. Um so viel Abstand von ihm zu haben wie möglich, ist sie dankbar für die Möglichkeit, als Prozessbeobachterin in das Dorf Cruzeiro do Sul fahren zu dürfen. Dort soll sie den Gerichtsverhandlungen beiwohnen, die Morde an jungen Frauen und Müttern abhandeln und ein Schema aus den Motiven und Todesursachen entwickeln. Je mehr Verhandlungen sie besucht, je intensiver und abstruser die Urteile werden – je höher sich die Körper toter Frauen stapeln – umso lebendiger werden die Bilder der Opfer in ihrem Kopf und damit die Erinnerungen an ihre Mutter, die dasselbe Schicksal erlitt. Sie flüchtet sich aus Angst davor, von ihnen erdrückt zu werden, immer öfter in eine Traumwelt, um an Ritualen der indigenen Völker teilzunehmen und Rachepläne zu entwickeln. Doch die Grenze zwischen Realität und Vorstellung scheint unüberwindbar.

Schockierend und bildreich erzählt Patricia Melo in „Gestapelte Frauen“ von der grausamen Realität, die in Lateinamerika Normalität zu sein scheint: Gewalt gegen Frauen. Sie findet eindrückliche, klare Worte für die Abstrusität, mit der die Gerichte gegenüber den Tätern urteilen, für die Gräuel, die den Frauen angetan wurden, für die perverse Einstellung der Gesellschaft.

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