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Veröffentlicht am 13.05.2021

Einfach nur WOW

Alef
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„Es liegt in der Natur des Verliebtseins, dass man am Anfang alles für überwindbar hält. Man lebt wie in einem Kokon, einer Blase, die das, was man gemeinsam hat, vor der Außenwelt schützt. Man sieht nur ...

„Es liegt in der Natur des Verliebtseins, dass man am Anfang alles für überwindbar hält. Man lebt wie in einem Kokon, einer Blase, die das, was man gemeinsam hat, vor der Außenwelt schützt. Man sieht nur einander, jede Trennung fühlt sich an, als würde man sich selbst in zwei Stücke zerreißen.“ (S. 301)

Als sie sich zum ersten Mal sahen, wusste sie beide, dass es Liebe ist. Dass sie zusammengehören und ihr Leben miteinander verbringen würden; Maja und Eitan, eine atheistische Deutsche und ein jüdischer Israeli. Für Eitans Mutter bricht eine Welt zusammen, als ihr Sohn, ihr Leben, Israel hinter sich lässt, um zu seiner Freundin nach Deutschland zu gehen, dem Land, das ihr und ihrer Familie so viel Leid zugefügt hat. Doch die anfängliche Euphorie schwindet bald, und Eitan sieht sich immer öfters Antisemitismus ausgesetzt, findet keinen Anschluss, verliert sich selbst. Maja schmerzt es, ihn so leiden zu sehen, führt sie doch selbst innere Kämpfe aus: Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bat Eitan sie inständig, für ihn Jüdin zu werden, aber sie tut sich schwer damit, sich nur der Liebe wegen zu entscheiden, welches Leben sie führen möchte. Sie sieht sich gezwungen, zwischen Liebe und Zugehörigkeit, zwischen Deutschland und Israel zu entscheiden.

Katharina Höftmann Ciobotaru hat mit Alef – „der Beginn von allem und die Unendlichkeit“ (S. 397) – Großartiges geschaffen: Leise, bedacht wirft sie zunächst einen Blick in die Vergangenheit, die familiären Ursprünge Majas und Eitans und verwebt einschneidende, die beiden Länder und Kulturen prägende historische Ereignisse wie das Leben im Nationalsozialismus und die Grenzöffnung in der DDR auf der einen Seite und den Golfkrieg auf der anderen Seite mit den teils tragischen familiären Hintergründen. Der Ton wird eindringender, kraftvoller und schmerzhafter, und so lasten nun all der Schmerz und die Schuld, die Frage nach Opfer und Täter auf den jungen Schultern von Eitan und Maja. Bis zuletzt bemüht sich Maja, Eitan gerecht zu werden, die Giur, den Übergang ins Judentum, ihm zuliebe nach mehrmaligen Anläufen endlich durchzuziehen, so schwer der Weg, so groß ihre Zweifel auch sind.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Welcome to Berlin

Mond über Beton
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"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine ...

"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine Flasche Wodka mit Schluckresten.“ (S. 95)

Hier spielt das wahre, das düstere Leben; sozialer Brennpunkt, eiskalter Beton, Drogenhochburg ist „diese[s] herrlich schwarze Loch von Berlin“ (S. 57): das Kottbusser Tor. Als städtebauliches Projekt Anfang der Siebziger aus dem Boden gezogen, ist der Kotti auch weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. In Gebäudekomplex Neues Zentrum Kreuzberg, kurz NKZ, wohnen die unterschiedlichsten Menschen, die alle ihre Geschichte zu erzählen, ihr Päckchen zu tragen haben: Mutlu mit seinen Söhnen Barış und Barik; Mutlus Nichte Aylin; das alte Pärchen Marianne und Günther; und nicht zuletzt die Witwe Stanca mit ihrem Hund. Sie machen das NKZ zu dem, was es ist, und das NKZ beeinflusst ihr Leben und ihre Schicksale gleichermaßen.

Seit dem Tod seiner Frau Hilal ist Mutlu nicht mehr der, der er einmal war, lediglich ein Schatten ist übrig geblieben von ihm, und so bemerkt er nicht, wie seine Söhne allmählich ins Drogenmilieu abrutschen, immer auf der Suche nach dem Durchbruch, dem ultimativen YouTube-Fame. Aylin hingegen ist es leid, für ihre Neffen zu sorgen, hat sie doch selbst genügend eigene Probleme: ihr Studium, ihre Arbeit im Gemüsemarkt von Mutlu und im REWE, und seit neustem auch den Junkie Ario, der ihr, seinem Engel, immer öfters nachstellt. Marianne und Günther haben genug davon, in welche Richtung sich der Kotti verändert, es ist einfach nicht mehr sicher hier! Überall liegen die Abfälle der Junkies, die eh an jeder Ecke herumlungern, und die Jungen von Mutlu sind auch nicht mehr so lieb, wie sie als Kleinkinder mal waren. Doch zumindest müssen sie sich nicht wie Stanca um die Miete sorgen: Seit dem Tod ihres Mannes hadert sie, im nach Deutschland gefolgt zu sein, und hat nun einen jungen Studenten zur Untermiete. Sie alle verbindet aber eine Gefahr, die im Verborgenen lauert und ihrer aller Leben ein neues Ende schreiben soll.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Modern Walking Dead

New York Ghost
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„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand ...

„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand fragte, was sie in ihrem Leben erreichen möchte – sie wüsste keine Antwort. Beständigkeit vielleicht, Sicherheit, Geborgenheit. Als Kind ist Candace Chen mit ihren Eltern aus China in die USA eingewandert, doch seit sie gestorben sind, hat sie ihrem alten Leben, der Sorglosigkeit, das in den Tag hineinleben und den krassen Partynächten, den Rücken gekehrt. Routiniert, wenn auch ziellos, geht sie gewissenhaft ihrer Arbeit in einem Verlagshaus nach, in dem sie Bibeln produziert, und verbringt die Nächte bei ihrem Freund Jonathan mit Take Away-Essen und Rom Coms. Als er ihr plötzlich eröffnet, New York verlassen zu wollen, stürzt sich Candace aus Frust vollends in die Arbeit, lebt in ihren Routinen, sodass sie gar nicht mehr mitbekommt, was sich draußen eigentlich abspielt: Das Shen-Fieber, ein durch Pilzsporen übertragenes Virus, das in China seinen Ursprung hat, bricht über New York herein. Die Endzeitstimmung ist perfekt: der öffentliche Verkehr steht still, die Menschen fliehen, und es herrscht strenge Maskenpflicht. Doch Candace hat keine Familie mehr in New York, keinen Ort, an den sie gehen könnte, und so bleibt sie in Aussicht einer Prämie im Büro, hält den Betrieb am Laufen. Bald schon ist sie die letzte Verbliebene und dokumentiert das, was von der Stadt, die niemals schläft, übrig geblieben ist auf ihrem Blog „NY Ghost“. Als sie einsehen muss, dass auch sie die Stadt verlassen muss, um zu überleben, schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an. Unter der Führung des geltungssüchtigen Bob machen sie sich auf den Weg zu „Der Anlage“, einem Ort, der ihnen – wie Bob verspricht – alles bietet, das sie zum Überleben brauchen würden. So weit, so gut, aber Candace hat kein gutes Gefühl bei der Sache und schmiedet einen Plan.

Zuerst könnte man denken: Ja wow, sehr originell, unser Leben sieht doch gerade ganz ähnlich aus. Doch weit gefehlt: Bereits 2018 veröffentliche Ling Ma ihren Debütroman „Severance“, [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Feuerwerk

Ein Spalt Luft
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„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen ...

„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen in einer wohnung, alleine mit seiner mutter, erlebt ein kleiner junge die ersten zwei jahre seines lebens. sie leidet an einer psychose, bleibt alleine, hat keine kontakte zu anderen menschen mehr, auch nicht zum vater des kindes. dieser kämpft unterdessen verzweifelt darum, das alleinige sorgerecht für das gemeinsame kind zu erhalten und erhält recht. in eine neue familie aufgenommen, beginnt ein neues leben für ihn, und der kontakt zur mutter bricht ab – bis er fast zwanzig jahre später erfahren möchte, was damals wirklich passierte. sein vater händigt ihm sämtliche psychologischen gutachten, tonbandkassetten und gerichtsakten aus, die er hat, erzählt davon, wie er die damalige zeit erlebt hat und so setzt sich für den jungen mann nacheinander ein leben zusammen, wie es gewesen sein könnte; ein leben so surreal, irgendwo zwischen realität und albtraum.

in seinem debütroman „ein spalt luft“ berichtet mischa mangel mit starken, einfühlsamen worten sowie einer beeindruckenden vielfalt sprachlicher ideen von anekdoten und prägenden ereignissen aus dem leben eines jungen mannes, der auf der suche nach seiner vergangenheit ist, nach erinnerungen, die er selbst nicht mehr zu rekonstruieren vermag. der autor spielt dabei mit dem satz der worte, den worten selbst und lässt durch das erklingen verschiedener stimmen, etwa dem stotternden vater mit ausgeprägtem dialekt, dem hochsprachlich analysierenden ton eines psychologischen gutachters, dem ausfallenden, lauten geschrei der mutter und nicht zuletzt dem wissbegierigen jungen mann, die verwirrung perfekt werden. erst nacheinander setzen sich die einzelnen puzzleteile logisch zusammen, wird klar, was gegenwart und was vergangenheit ist, was realität und was fiktion sein müsste. über allem schwebt eine dunkle, mysteriöse atmosphäre, die beklemmend wirkt, für sich einnehmend, und so geriet ich schnell in einen sog, der mich bis zuletzt nicht mehr entließ.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Volltreffer

Frühling
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"Und falls du vor mir stirbst, werde ich die ganze Zeit, die ich ohne dich lebe, durch die verschiedenen Zeitzonen der Welt reisen, damit ich auf diesem Planeten so viel Zeit wie möglich im Frühling verbringen ...

"Und falls du vor mir stirbst, werde ich die ganze Zeit, die ich ohne dich lebe, durch die verschiedenen Zeitzonen der Welt reisen, damit ich auf diesem Planeten so viel Zeit wie möglich im Frühling verbringen und nach die suchen kann.“ (S. 106)

Er bedeutet Verwandlung, Anfang, Wiederbelebung. Frühling bedeutet, dass etwas Neues beginnt, etwas Altes der Vergangenheit angehört und dass jeder, so unscheinbar man für sich allein gesehen auch sein mag, die Chance hat, etwas Großes, Bedeutendes anzustoßen.

All diese Kraft, die vom Frühling ausgeht, scheint Richard, einem unbekannten Regisseur, der nach dem Tod seiner geliebten Freundin Paddy den vergangenen Zeiten nachtrauert, den Projekten, die sie gemeinsamen erarbeitet haben, komplett entsagt zu sein. Ziellos steigt er in einen Zug in King’s Cross und steigt auf einem abgelegenen Bahnsteig in Schottland einfach aus – immer in Gedanken bei den Wolken, die ihn seiner großen Liebe näherbringen.

Und da ist auch Brit, die als Angestellte in einem Flüchtlingszentrum in London dem wundersamen Einbruch eines kleinen zwölfjährigen Mädchens, Florence, beiwohnt, dass es, ohne in jeglicher Weise aufzufallen, bis zum Leiter der Einrichtung schafft, um ihn dazu zu bringen, die Toiletten der Wohneinheiten – oder vielmehr, der Zellen – reinigen zu lassen und mit ihm über die Flüchtlingspolitik zu reden. Kurzerhand fahren die beiden gemeinsam in den Norden, um dort zufällig auf Richard zu treffen und ihrer aller Geschichten verschmelzen zu lassen.

Der dritte Band des Jahreszeiten-Quartetts von Ali Smith wartet mit einer atemraubenden Atmosphäre auf, die die der beiden vorherigen Bände noch übertrifft. Düster, voller Trauer und Bedauern führt sie zunächst in das Leben von Richard Lease, einem Regisseur, ein. Er hängt mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit fest, als alles besser war, sowohl privat als auch beruflich. Er hat niemanden mehr, außer seine imaginäre Tochter, mit der er in Gedanken redet, die ihn aufzieht, wenn er mit der modernen Welt nicht zurechtkommt, kein gutes Haar an ihm zu lassen scheint. Und doch ist sie ihm eine ungemeine Stütze.

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