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Veröffentlicht am 25.07.2022

Das perfekte Sommerbuch

Freundin bleibst du immer
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Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren ...

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren Abschluss an der Universität Zaria feierten. Während es Enitan nach New York verschlug, wo sie nun geschieden und alleinerziehend mit ihrer Tochter Remi wohnt, pflegt Zainab ihren nach mehreren Schlaganfällen gelähmten Mann. Funmi hingegen lebt in Hülle und Fülle, sie ist reich: Shoppen-bei-Harrods-reich, Fahrer-und-Diener-und-was-ihr-Mann-macht-ist-unklar-aber-definitiv-korrupt-wobei-sie-lieber-nicht-darüber-nachdenkt-reich. Doch auch wenn tausende Kilometer, mehrstellige Dollarbeträge und abrupte Fluchten sie trennen, das Leben es nicht immer gut mit ihnen meinte, niemals brach der Kontakt zwischen den drei Freundinnen ab. Und umso größer ist die Wiedersehensfreude, als sie nun bei der Hochzeit von Funmis Tochter Destiny in Lagos wieder vereint sind. Das Wiedersehen bringt Erinnerungen ans Licht: an ihre gemeinsame Zeit, ihr Kennenlernen, an das, was sie liebten und verloren. Aber während sie in Vergangenem schwelgen, müssen sie erkennen, dass ihre Töchter ihnen in ihrem rebellischen Wesen in nichts nachstehen.

Es ist diese wärmende, behagliche Atmosphäre, die Tomi Obaros Debütroman „Freundin bleibst du immer“ (OT: Dele Weds Destiny: A Novel, aus dem Englischen von Stefanie Ochel) zu einem absoluten Wohlfühlbuch macht – trotz dessen das Leben der drei Freundinnen Enitan, Funmi und Zainab nicht immer einfach war. Aus ihren jeweiligen Perspektiven beschreibt die Autorin ihr Zusammentreffen, ihre familiären Hintergründe und persönlichen Schicksale. Sie alle hatten einst Träume, wollten Geschichten schreiben, Krankenschwester werden, ein sicheres, gutes Leben führen und Teil einer liebevollen Familie sein. Ihrem ersten Zusammentreffen Anfang der 1980er Jahre an der Universität Zaria gingen Neid und Abschätzigkeit voraus, Überheblichkeit prallte auf Schüchternheit und Bewunderung, doch allmählich rauften sie sich zusammen, waren aufeinander angewiesen und stärkten sich stets gegenseitig den Rücken: in Gesundheit, in Krankheit, in anderen Umständen. Als es 1987 bei studentischen Aufständen zu einem tödlichen Unglück kommt, verändert sich alles und ihre Wege trennen sich.

Mit ausdrucksstarker, schwereloser Sprache und spielerischer Leichtigkeit entwirft Obaro drei grundverschiedene Protagonistinnen, die man sofort ins Herz schließt. Ihre Entwicklung von der Studienzeit bis hin ins Erwachsenenalter, von jungen, zuversichtlichen Mädchen zu vom Leben gezeichneten Müttern, die sich nun in ihren Töchtern gespielt sehen, hat mich mitgerissen, mein Herz mit jedem Auf und Ab tanzen lassen. Sie gibt einen wertvollen, lebendigen Einblick in das Leben in Nigeria, die Klassenunterschiede und gesellschaftlichen wie kulturellen Besonderheiten gegenüber der westlichen Kultur, insbesondere der Hochzeitszeremonie. Darüber hinaus thematisiert sie Rassismus aufgrund von Hautfarbe und Aussehen, Gewalt und sexuellen Missbrauch sowie Abtreibung und psychische Erkrankungen, lässt immer wieder auch den Konflikt der Generationen zwischen Tradition und Moderne durchscheinen. Teilweise werden einzelne Aspekte nur oberflächlich behandelt, wie eine Randerscheinung, doch das tut der Atmosphäre der Erzählung keinen Abbruch, lässt sie eher ausgewogen erscheinen. Lediglich das flüchtige Betrachten der psychischen Probleme ließ mich ein wenig grummeln; hier hätte ich mir mehr Tiefe und Dialog gewünscht.

Müsste ich mich festlegen, ich denke, ich wäre Team Enitan; mit ihrer bodenständigen, ehrlichen Art und ihrer „Begeisterung“ für WhatsApp-Gifs sowie dem Risiko, das sie für die Liebe eingegangen ist, ist sie mir sofort ans Herz gewachsen und ihr Mut imponiert mir. Und doch sind sie alle unglaublich liebenswert und ich habe die gemeinsame Zeit mit den drei Frauen und ihren Töchtern sehr genossen. Eine sommerliche Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Bilder, die bleiben

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"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt ...

"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt sich auf eine Stelle, die zwar wenig aussagekräftig klingt, jedoch zwanzig Prozent mehr Lohn verspricht: "Mitarbeiter (m/w/d) im Qualitätsmanagement". Nach erfolgreicher Eignungsprüfung wird sie übernommen, arbeitet nun als Content Moderator für eine Social Media Plattform, deren Namen sie nicht nennen darf. Ihre Aufgabe: täglich mindestens 500 Videos und Postings ansehen, die als gewaltsam, rassistisch oder suizidal eingestuft wurden, und entscheiden, ob sie gelöscht werden oder stehen bleiben dürfen. Die Arbeitsbedingungen bei HEXA sind hart, die Arbeit zermürbend und die Gefahr, gekündigt zu werden, groß. Ein Team aus Supervisors bewertet ihre Arbeit, erstellt eine Erfolgsquote und analysiert, wie viel Zeit sie braucht, denn: Zeit ist Geld. Würde man Kayleigh nachts aufwecken, sie wüsste alle Regeln auswendig, und doch gelingt es ihr, trotz allem eine professionelle Distanz zu dem Gesehenen zu bewahren - und Spaß an der Arbeit zu finden. Nicht zuletzt wegen Sigrid. Während der gemeinsam im Pub verbrachten Feierabende kommen sie sich näher, verlieben sich; ihr Glück scheint vollkommen. Doch plötzlich verändert sich alles: Ihre Kollegen halten dem psychischen Druck nicht mehr stand, brechen zusammen, reden über Verschwörungstheorien - und Sigrid beginnt sich zunehmend von ihr zu distanzieren. Kayleigh versteht nicht, was vor sich geht. Ist sie die Einzige, die dem Druck standhalten kann - oder merkt sie nur nicht, wie sie sich allmählich verändert?

Eindringlich und aufwühlend entwirft Hanna Bervoets in ihrem Roman "Dieser Beitrag wurde entfernt" (OT: Wat wij zagen, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten) ein Psychogramm der gegenwärtigen Gesellschaft, in der Social Media und die Nutzung von Smart Devices über den Alltag und die soziale Interaktion bestimmen. Ein Leben ohne wäre für die meisten undenkbar. Was wir sehen, beeinflusst uns und unser Handeln, unser Denken - unser Leben. Was nicht ungefährlich ist, denn: die Abhängigkeit entsteht leise. Hanna Bervoets blickt hinter das Bild, das wir auf unsere Bildschirmen sehen, unter Umständen selbst erzeugen: Sie deckt auf, unter welchen abstrusen, unmenschlichen Bedingungen die Menschen arbeiten, die darüber bestimmen, was wir in der digitalen Parallelwelt sehen, welchen Bildern sie ausgesetzt sind, um uns vor traumatischem oder negativ beeinflussendem Content zu schützen.

Nachdem ihre Kollegen bei HEXA gekündigt hatten, Kayleigh selbst auch schon seit mehreren Monaten nicht mehr dort arbeitete, wurde eine Sammelklage gegen die Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen der Arbeit auf ihre mentale Gesundheit aufgesetzt. Herr Stisic, der zuständige Anwalt, fordert sie nun unerbittlich dazu auf, sich an der Klage zu beteiligen. Darauf hat Kayleigh keine Lust, doch sie ist bereit, ihm von ihren Erfahrungen bei HEXA zu erzählen, wenn er sie dafür in Ruhe lässt. Es gleicht einem Geständnis oder viel eher einer Offenbarung, wie Kayleigh ihre sexuellen Erfahrungen mit anderen Frauen, ihre Zeit als Content Moderator und die Beobachtungen und Erfahrungen, die sie machen musste, mitteilt. Nüchtern reflektiert sie, wie die Grenze zwischen moderierter und gelebter Realität allmählich verschwimmt, sie und ihre Kollegen ohne psychologische Betreuung in der Luft schweben mussten, immer unter dem Druck standen, zu versagen. Und das Bedürfnis verspürten, helfen zu müssen. Solange, bis sie daran zerbrechen.

Auf der einen Seite finde ich den Roman in seiner Intention unglaublich interessant, die Kritik, die die Autorin übt, und auch den sanft gezogenen Vergleich zwischen der Arbeit bei HEXA und der Unbeständigkeit von Kayleighs Beziehungen, dass all das der subjektiven Einschätzung, dem Blickwinkel unterliegt. Doch irgendwo fehlte mir die Tiefe in den Beschreibungen der psychologischen Auswirkungen, das gewisse Etwas und letztlich die Empathie und Nähe zu den Charakteren und ihren Schicksalen. Nichtsdestotrotz ein kurzweiliges, eindringliches Buch, das zum Denken anregt und Spuren hinterlässt.

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Veröffentlicht am 09.06.2022

Ein Jahreshighlight

Der Papierpalast
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"Der Gedanke, dass ich ihn nicht sehen werde, erfüllt mich mit dem schmerzlich scharfen Verlangen, ihn zu berühren, unter Wasser seine Hand zu streifen. Es ist ein Hunger. Eine Sucht. Er ist ...

"Der Gedanke, dass ich ihn nicht sehen werde, erfüllt mich mit dem schmerzlich scharfen Verlangen, ihn zu berühren, unter Wasser seine Hand zu streifen. Es ist ein Hunger. Eine Sucht. Er ist wie eine Sirene." (S. 66)

[TW: Vergewaltigung, körperlicher Missbrauch] Die Erinnerungen an die vergangene Nacht brennen wie ein Phantomschmerz an Elle, ihre Lippen pulsieren, sehnsuchtsvoll und drängend; ihr Herz schlägt, wenn sie an seine Hände denkt, seine Berührungen. Jonas. Seit mehr als dreißig Jahren hatte sie ihren Jugendfreund nicht mehr gesehen, den Jungen, mit dem sie als kleines Mädchen in Cape Cod durch die Wälder rannte und im See schwamm, gemeinsam das Segelboot-Fahren lernte - bis... Es sind Erinnerungen, die sie lange verdrängt hatte und sich nun Bahn brechen, an fremde Hände, sinkende Hände, liebende Hände. Lange hatte sie sich auf ihre Rückkehr nach Cape Cod gefreut, darauf, den Sommer gemeinsamen mit ihrem Ehemann und den Kindern im Papierpalast, dem Ferienhaus ihrer Eltern, zu verbringen. Da konnte sie noch nicht ahnen, dass sie ihn nach all den Jahren wiedersehen würde. Dass sie diese eine unvergessliche Nacht verbringen würden, während im Nebenzimmer ihre Familien feiern, reden, lachen. Ihre Gefühle übermannen sie, denn es ist immer Jonas, an den sie denkt, immer Jonas gewesen, den sie liebte - und das hat ihre auch diese Nacht bewiesen. Sie steht am Scheideweg: Bleibt sie bei ihrem Ehemann oder verlässt sie ihn, um mit Jonas das Glück zu finden?

"Was unter der Wasseroberfläche liegt, bleibt unseren Blicken verborgen." (S. 46)

Bereits nach wenigen Seiten war ich mir sicher: Das hier wird ein Jahreshighlight, ohne Frage. Und dieser erste Eindruck sollte sich bis zum Ende halten. Mitreißend und unglaublich intensiv erzählt Miranda Cowley Heller in ihrem Debütroman "Der Papierpalast" (OT: The Paper Palace, aus dem Englischen von Susanne Höbel) die Geschichte von Elle Bishop. Nach außen hin scheint sie glücklich zu sein: Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie glücklich mit ihrem Ehemann Peter verheiratet, sie haben drei gemeinsame Kinder und sichere Jobs. Doch in der Vergangenheit sind Dinge passiert, die sie bis heute prägen, die Spuren hinterlassen haben - und die ihr zudem eine gemeinsame Zukunft mit Jonas, ihrem Jugendfreund verwehrten. Noch nie schien ihr Leben "einfach" zu sein: Schon als Säugling musste sie nach einer Notoperation um ihr Leben kämpfen, wuchs in einer dysfunktionalen Familie mit wechselnden Vätern und tyrannisierenden Stiefbrüdern auf, einzig ihre Schwester war eine bleibende Konstante. Und Jonas. Jeden Sommer, wenn sie wieder in den Papierpalast fuhren, tobte sie mit dem schüchternen Jungen herum und sie schworen sich ewige Freundschaft. Er war es, dem sie das anvertraute, was ihr angetan wurde und ihn so für immer an sich band - bis sie ihn verlor. Sie zog nach London, lernte Peter kennen und er gab ihr Geborgenheit und Liebe, kittete die Risse, ohne zu wissen, wer oder was sie verursacht hatten. Umso schwieriger ist es nun für Elle, sich zwischen einer Zukunft mit Peter, der ihr jahrelang Sicherheit und Vertrauen entgegenbrachte, oder mit Jonas zu entscheiden.

Was nun vielleicht wie eine abgedroschene Liebesgeschichte klingt, ist in Wahrheit so viel mehr als das: Cowley Heller erzäghlt nach und nach, wie sich für Elle "der Tag danach" gestaltet, das Tohuwabohu ihrer Gefühle, das Gedankenkarussell, das "was wäre, wenn...", jetzt und damals. Elle sind eine unnachahmliche emotionale Stärke und Strahlkraft zu eigen, ein für sie einnehmendes Wesen mit Ecken und Kanten, ungeahnten Tiefen. In all ihren Entscheidungen wirkt sie aber niemals berechnend, viel eher auf der Suche nach Ruhe, sich nicht mehr verstellen zu müssen. Immer wieder gewährt die Autorin einen Blick in die Zukunft, sodass sich das Gesamtbild der gegenwärtigen Beziehungsgeflechte allmählich erschließt und mit Fakten und prägenden Erinnerungen unterfüttert wird: Elles Kindheit, das Schicksal ihrer Schwester, das Kennenlernen mit Peter. Und: inzestuöse Übergriffe, Fehlgeburten, Gewalt und Nötigung. Bildgewaltig, hart, fühlbar. Es könnte auch das Transkript eines Netflix-Serie sein, so durchdacht und genial getimet bauen die einzelnen Szenen aufeinander auf, so lebendig ist ein jeder Charakter gezeichnet, Anspannung bis zur letzten Seite. Und das kommt nicht von Ungefähr, denn Miranda Cowley Heller war Head of Drama Series bei HBO und entwickelte zahlreiche Serien wie Die Sopranos oder Six Feet Under.

Um nicht noch weiter abzuschweifen: Das Buch hat mit von der ersten Seite an vollends für sich vereinnahmt und ich konnte es bis zuletzt nicht - oder nur ungern - zur Seite legen. Es ist kein Feel Good-Buch, keine leichte Lektüre für zwischendurch, es ist vielmehr die schmerzhaft-liebevolle Geschichte einer Frau, geprägt von sanften Abgründen, ihrer Sehnsucht nach bedingungsloser, ehrliche Liebe und Geborgenheit und ihrem Kampf, den Kopf über Wasser zu behalten und dabei das Ufer nicht aus dem Blick zu verlieren. Ein Jahreshighlight.

Veröffentlicht am 01.06.2022

Damals im Sommer

Man vergisst nicht, wie man schwimmt
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"Die Möglichkeiten sind unendlich. Wenn man eine Geschichte schreibt, meine ich. Wo und wann diese beginnt. Wie man sie verzweigt, wie Handlungsstränge und Figuren sich treffen und gegenseitig ...

"Die Möglichkeiten sind unendlich. Wenn man eine Geschichte schreibt, meine ich. Wo und wann diese beginnt. Wie man sie verzweigt, wie Handlungsstränge und Figuren sich treffen und gegenseitig beeinflussen. Und wie die Geschichte endet. Man kann es sich aussuchen. Solange man nicht weiß, wie es wirklich ausgegangen ist." (S. 203)

Niemals hätte Pascal gedacht, dass dieser eine letzte Tag des Sommers, der 31. August 1999, ihm so viel bedeuten, sein Leben für immer verändern würde. Zunächst scheint alles wie immer, die Sonne knallt auf den Asphalt und lässt die Luft flimmern, sein Heimatort Bodenstein liegt in sommerlicher Trägheit. Doch während die anderen Spaß im Freibad oder im Skatepark haben, wünscht sich Pascal nur, dass dieser Sommer endlich zuende geht. Er hat den Spaß am Sommer verloren, seit er nicht mehr schwimmen gehen kann. Wieso, weiß nicht einmal sein bester Freund Viktor. Stattdessen hängen sie zuhause ab oder spielen "Tony Hawk Pro Skater" auf der Xbox - und dann fällt plötzlich Jacky, dieser rothaarige Wirbelwind, in ihre Welt. Nur ein gemeinsamer Tag bleibt ihnen, denn am nächsten Tag würde der Zirkus, mit dem sie in der Stadt ist, seine Zelte abbauen. Ein Tag wie ein Leben, die Zeit scheint stillzustehen - und Pascals Bestreben, sich nicht zu verlieben, niemals!, schmilzt unter Jackys blauen Augen dahin.

„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“

Die Luft flimmert warm und golden, den Geruch von Sonnencreme auf der Haut, das Salz der Pommes im Freibad an den Fingern - und im Kopf dieses eine Lied, "Dream of Californication", Soundtrack eines Sommers. Genau das sind die Vibes, die Christian Huber mit seinem Romandebüt "Man vergisst nicht, wie man schwimmt" in mir weckte. Auf melancholische Art wohltuend und wärmend erzählt er, verdichtet auf einen einzigen langen Tag im Jahr 1999, die Coming of Age-Geschichte des 15-jährigen Pascal, genannt Krüger, einem in sich gekehrten, aber unglaublich kreativen und empathischen Jungen, dem seit seiner Kindheit drei schwerwiegende Geheimnisse auf der Seele liegen. Um all das, was er erlebt und fühlt, zu verarbeiten, schreibt er Geschichten, nur für sich. Doch auch das scheint ihm nicht zu helfen, einfach unbeschwert zu leben, diese Hürde zu überwinden, die ihn zurückhält und all das hinter sich zu lassen und sich zu öffnen. So lebt er einfach vor sich hin, bis: Jacky. Dieses Mädchen mit den roten Haaren. Im Begriff, eins der neuen Nokias zu klauen, fällt sie auf der Flucht vor dem Ladenbesitzer in sein Leben, als er und Viktor gerade in demselben Laden Xbox zocken - nicht ahnend, dass das ihren Tag - und Krügers Leben - völlig auf den Kopf stellen soll. Das Zirkusmädchen lockt Krüger aus der Reserve, schafft es, die Mauern, die er um sich baute, sanft zum Fallen zu bringen. Und sogar seine Regeln abzulegen, wohlwissend, dass dies ihr erster und einziger gemeinsamer Tag sein würde.

Dieses Buch ist wie eine warme Umarmung, ein Kaleidoskop zurück in die Kindheit, als jeder Tag unendlich schien, unbeschwert und sorgenlos; es lässt einen die Welt draußen einfach vergessen. Die Art und Weise, wie Christian Huber seinen Protagonisten Pascal behutsam, beinahe zaghaft, sich immer weiter öffnen, im übertragenen wie im Wortsinn Schicht um Schicht ablegen lässt, zu erfahren, wie er Mut fasst und an allem, was ihn zurückhielt, wächst - das ist ganz groß. An manchen Stellen erschien es mir alles ein bisschen drüber, ein bisschen zu gewollt, und doch hat dieses Buch wirklich gut getan. Muss ja auch nicht immer alles bis ins Kleinste auf Glaubwürdigkeit seziert werden, manchmal will man auch einfach nur vor der Realität fliehen, Kopf aus und weg. Davon mal abgesehen, habe ich aber auch viel aus dem Buch mitgenommen, und das zählt am Ende noch viel mehr als alles andere: Steh zu dir selbst, und sei mutig. Wozu auf später warten, ergreife jetzt deine Chance, lebe und liebe im Hier und Jetzt, denn das kann dir niemand zurückbringen.

Veröffentlicht am 13.05.2022

Atemberaubend

Wo die Wölfe sind
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"Ich kenne dieses Dunkel. Darin habe ich mich schon früher verloren. Seine Hände sind meine, auch seine Lippen und und seine Zunge, und ich bin in ihm, werde tief hineingezogen, weit weg von ...

"Ich kenne dieses Dunkel. Darin habe ich mich schon früher verloren. Seine Hände sind meine, auch seine Lippen und und seine Zunge, und ich bin in ihm, werde tief hineingezogen, weit weg von aller Luft." (S. 102)

[TW: explizite (häusliche) Gewaltdarstellungen] Schon seit sie ein junges Mädchen war, ist Inti Flynn von Wölfen fasziniert, von ihrer Eleganz und ihrer Kraft, und nicht zuletzt auch von ihrer Fähigkeit, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, unsichtbar zu sein. Für sie gab es nichts Schöneres, als durch die Wälder zu streifen, von der Natur zu lernen, und so machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf. Im Rahmen eines Projekts zur Rettung des Lebensraums in den Highlands kommt Inti nach Schottland und betreut die Wiederansiedlung einer Gruppe von Wölfen als leitende Biologin. Doch das ist nicht der einzige Grund für sie, ihre Heimat zu verlassen: Sie hofft auf einen Neuanfang, darauf, alles Gewesene, alle Erinnerungen hinter sich zu lassen, denn sie ist nicht mehr die, die sie einst war - seit dem Vorfall. Seit sie diese vernichtende Gewalt spüren musste. Doch nicht etwa am eigenen Leib: Inti hat die seltene Begabung, die Gefühle anderer Lebewesen körperlich nachzuempfinden. Als eines Tages ein Farmer tot aufgefunden wird, richtet sich alles gegen sie, gegen "ihre" Wölfe. Aber sie würden doch niemals einen Menschen angehen. Oder? Wer ist die wahre Bestie, Mensch oder Tier?

Es sind Bilder, die mich bis in meine Träume verfolgt haben, die Charlotte McConaghy in ihrem Roman "Wo die Wölfe sind" (OT: Once There Were Wolves, aus dem Englischen von Tanja Handels) zeichnet. Bilder von Gewalt und Schmerz, von Enttäuschung und Verzweiflung, von Zerstörung. Von Blut, so viel Blut an den Händen von Menschen, das niemals vergessen wird, dessen Spuren bleiben. Und Bilder atemberaubender Landschaften, rauer Wälder und tanngrüner Ausläufer. Unglaublich lebendig erzählt die Autorin die Geschichte einer jungen Frau, die, von ihrer Vergangenheit gezeichnet, versucht, gegen ihre Ängste anzukämpfen. Immer wieder wird sie mit Dingen konfrontiert, die alte Wunden reißen lässt, trotz dessen sie stets darauf bedacht ist, die Distanz zu wahren - zu Menschen wie zu ihren geliebten Wölfen. Sie scheut es, emotionale Bindungen einzugehen, das hat ihr ihre Erfahrung gelehrt. Der einzige ihr nahe stehende Mensch ist ihre Schwester Aggie, die gemeinsam mit ihr nach Schottland gekommen ist, um die Schottischen Highlands mithilfe der Wölfe vor der Verendung zu bewahren; sie sollen das natürliche Gleichgewicht der vom Klimawandel gezeichneten Landschaft wiederherstellen. Aggie spricht nicht, geht nicht aus dem Haus, das Leben hat das einst so mutige, wilde Mädchen kaputt gemacht - und Inti mit ihr. Durch ihre Mirror Touch-Synästhesie, bei der bestimmte Hirnareale stärker miteinander verknüpft sind und es in der Folge zu Hyperaktivität kommt, hat sie all das gefühlt, was ihr angetan wurde, und das hat sie vorsichtig gemacht. In Rückblicken wird immer deutlicher, wieso Inti und Aggie heute so sind, wie sie sind, woher ihre Liebe zur Natur kommt und was sie mit ihr verbinden, und wieso sie so misstrauisch im Umgang mit anderen Menschen sind. Ihre schwesterliche Verbindung überstrahlt alles, strahlt in hellen Farben und bereitete mir ein warmes Gefühl der Geborgenheit und Ruhe.

Aber dieser Ruhe sollte bald ein Ende gesetzt werden: Wie eingangs bereits beschrieben, sehen manche Menschen in der Gewalt den einzigen Weg, sich zu behaupten, wenn die Worte fehlen. Fast meinte ich, selbst eine Synästhetin zu sein, so schneidend, stechend, kratzend spürte ich die Übergriffe häuslicher Gewalt, die Ausdrücke männlicher Selbstbehauptung und Rache, das Blut, das auf den Boden tropfte, von den Lefzen der Wolfsschnauzen oder den Fäusten wutblinder Menschen. Die Gänsehaut bleibt, atemlos.

Doch es ist auch eine Atemlosigkeit der Überwältigung, wie viel die Autorin mit ihren Worten in mir ausgelöst hat. Nicht nur gibt sie gesellschaftsrelevanten Themen wie den Auswirkungen des sich immer weiter zuspitzenden Klimawandels eindringlich Raum zu wirken, endlich aufzuwachen, sie vermag es auch, Gefühlen ohne Worte eine Sprache zu geben, die im Ohr bleibt und emotional an einen Menschen zu binden, der einem bis vor wenigen Seiten noch völlig fremd war. Es war, als liefe ich selbst durch die feuchten Wälder, als spüre ich das warme Fell des Pferdes, dem Inti das Leben rettet, unter meiner Haut - als kämpfte ich selbst um mein Leben. Zu verfolgen, wie Inti sich immer mehr öffnet, Berührung zulässt, für sich und die Wölfe kämpft, hat mich mitgerissen, doch auf den letzten Seiten wollte die Autorin einfach zu viel. Die Ereignisse überschlugen sich, es wurde beinahe schon abstrus und irgendwo hinterlässt das bei all der Begeisterung - auch wenn vieles ziemlich hart, vielleicht grenzwertig war -, einen kleinen Dämpfer. Und doch, ich möchte es wirklich sehr.

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