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Veröffentlicht am 13.05.2021

Mystisch gut

Heiße Milch
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„Die Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief.“ (S. 174)

Sofia begleitet ihre Mutter Rose in Spanien, um sich dort in einer Spezialklinik von dem bekannten Arzt Dr. Goméz untersuchen ...

„Die Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief.“ (S. 174)

Sofia begleitet ihre Mutter Rose in Spanien, um sich dort in einer Spezialklinik von dem bekannten Arzt Dr. Goméz untersuchen zu lassen. Immer wieder kann sie ganz plötzlich die Beine nicht mehr bewegen und ist komplett auf die Unterstützung ihrer Tochter angewiesen. Seit ihr Vater die beiden verlassen hat, als Sofia noch klein war, um in seiner Heimat in Griechenland eine neue Familie zu gründen, kümmert sich die Anthropologin um ihre Mutter. Doch je mehr Zeit sie mit Strandspaziergängen verbringt, je mehr Gespräche sie mit Dr. Goméz führt, je mehr sie sich in einer kuriosen Beziehung zu der deutschen Künstlerin Ingrid verliert, desto mehr wacht sie auf: Sie muss sich aus den medusengleichen Fängen ihrer Mutter befreien, aus ihrem Einfluss auf ihr Leben, endlich frei sein, ein eigenständiger Mensch – und so trifft sie eine Entscheidung, die alles verändern soll.

Deborah Levys Roman „Heiße Milch“, der bereits 2016 erschien, ist eine kuriose, manchmal verwirrende, oftmals unglaublich anstrengend zu ertragene Geschichte einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung, die mich aber vor allem durch die ihr zugrunde liegende Genialität begeistert hat. Die Protagonistin Sofia scheint ohne ihre Mutter gar nicht funktionieren zu können, sagt von sich selbst, dass die Worte ihrer Mutter ihr Spiegel seien (vgl. S. 92) und auch ihre Handlungen sind denen der kranken Frau angepasst: „Ich bin ihre Beine, und sie ist lahm. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich habe wieder zu hinken begonnen“ (S. 171). Doch sie hat Angst, sich aus der Beziehung zu befreien, undankbar zu erscheinen; sie befindet sich in einem Dilemma, aus dem ihr auch ihr Vater nicht helfen wird, der mit alledem nichts zu tun haben will, wie sie bei einem kurzen Besuch feststellt.

Auf der Suche nach ihrer Identität trifft sie einige denkwürdige Menschen, deren Rolle mir auch im Nachhinein nicht ganz klar sind, und zur

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ich lieb's!

Nie, nie, nie
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„Als ich jünger war, war ich nicht die, die ich jetzt bin, und in zehn Jahren werde ich wieder jemand anders sein. Eine Sache habe ich aber schon immer gewusst: Ich werde keine Kinder haben. Ich hab mir ...

„Als ich jünger war, war ich nicht die, die ich jetzt bin, und in zehn Jahren werde ich wieder jemand anders sein. Eine Sache habe ich aber schon immer gewusst: Ich werde keine Kinder haben. Ich hab mir nie Kinder gewünscht. Habe nie verstanden, warum wir Menschen unbedingt Kinder kriegen müssen.“ (S. 17)

Ein Leben ohne Kinder – das ist es, was die namenlose, 35-jährige Protagonistin möchte, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Doch nicht bei allen Menschen in ihrem Umfeld kommt diese Entscheidung, diese Lebenseinstellung aus Überzeugung gut an. Immer wieder wird sie mit dem Thema konfrontiert, verliert den Kontakt zu Freunden, die Eltern geworden sind, stößt auf Unverständnis, wenn sie Einladungen zu Spielplatzbesuchen absagt. Besonders die Beziehung zu ihrem Freund Philip leidet, denn er bezweifelt, dass sie so jemals eine gemeinsame Zukunft haben würden. Als dann ihre beste Freundin Anniken ein Kind bekommt, ändert sich alles und die junge Frau sieht sich dem Thema „Kind“ stärker ausgesetzt als je zuvor.

In ihrem Roman „Nie, nie, nie“ geht Linn Strømsborg auf Themen ein, mit denen vermutlich jede Frau an einem Punkt in ihrem Leben konfrontiert wurde oder die sie beschäftigen: Familiengründung, Kinderwunsch, Zukunftsplanung. Doch wieso ist unsere Gesellschaft der Ansicht, dass jede Person mit Uterus automatisch Kinder haben will oder muss, als lebten wir noch in der Steinzeit und müssten für das Fortbestehen einer aussterbenden Art sorgen? Ist eine Familie nicht auch ohne Kinder eben das: eine Familie? Eindrücklich und emotional beschreibt die namenlose Ich-Erzählerin, die, stellvertretend für eine breite Masse, sich dazu entschlossen hat, kinderlos bleiben zu wollen, welche Gründe sie dazu bewegen und wie übergriffig, verständnislos und verletzend nicht nur fremde Menschen zu ihrer Entscheidung stehen, sondern auch ihre Familie, ihre Mutter, die weiterhin beharrlich Babysocken strickt; Arbeitskolleg:innen, die plötzlich nur noch über Windeln und erstes Brabbeln sprechen wollen; ihr Freund, der sich eine gemeinsame Zukunft ohne Kinder nicht vorstellen kann.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Erwachen werden

Hard Land
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„Das Leben ist nicht einfach, es ist hart und schnell. Die meisten Menschen machen eine Menge durch und denken dabei kaum nach... Ich weiß bis heute nicht, wer ich eigentlich war.“ (S. 98)

Sam ist fünfzehn, ...

„Das Leben ist nicht einfach, es ist hart und schnell. Die meisten Menschen machen eine Menge durch und denken dabei kaum nach... Ich weiß bis heute nicht, wer ich eigentlich war.“ (S. 98)

Sam ist fünfzehn, findet in der Schule keinen Anschluss und weiß mit seinem Leben nichts anzufangen. Nun gibt es in der Kleinstadt Grady in Missouri, wo er gemeinsam mit seinen Eltern wohnt, aber, abgesehen von den 49 Geheimnissen, von denen er kein einziges kennt, aber auch nichts Spannendes zu erleben. Doch das soll sich ändern, als er in diesem alles verändernden Sommer einen Ferienjob im alten Kino annimmt: Er findet in dem toughen Cameron und dem sensiblen Quarterback Hightower wahre Freunde, die ihm ohne großes Zutun dabei helfen, zu sich zu finden, aus sich herauszukommen, mutig zu sein. Und – kein Sommer ohne Herzschmerz: Kirstie, die Tochter des Kinobesitzers, lockt Sam aus dem Schatten ins Licht und entfacht in ihm Gefühle, die er bis dahin noch nicht erlebt hat, eine wahre Sommerliebe. Aber Sam weiß, dass all das nicht von Dauer ist, denn die drei werden nach diesem Sommer die Stadt verlassen und an den Colleges des Landes studieren – und ihn auf sich allein gestellt zurücklassen. Nun gilt es, das beste aus der gemeinsamen Zeit herauszuholen und sich dem Leben mit all seinen Hochs und Tiefs zu stellen.

Benedict Wells‘ neuster Roman „Hard Land“ lebt von seiner Atmosphäre, einem gewissen „Feel Good“-Moment, und der Hoffnung darauf, dass alles besser werden wird. Der Protagonist Samuel leidet unter Angstattacken und wird daher in der Schule als Außenseiter angesehen, und so will niemand etwas mit ihm zu tun haben. Als er sich in diesem Sommer im Jahr 1985 aber darüber klar wird, dass das Leben endlich ist, dass seine Mutter, die einen Hirntumor hat, bald sterben würde, beschließt er, dass sich etwas ändern muss, dass er – für sie – stark sein muss, dass das „sein“ Sommer wird.

Da allerdings von Beginn an klar ist, was einen erwartet, wie dieser Sommer Sams Leben ändern wird, erlebt die Geschichte keine überraschenden Turning points, lebt vielmehr von der seichten, beschützenden Umarmung, die Benedict Wells‘ Worte sind.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Inhaltsvoll

Drei Kameradinnen
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„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. ...

„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“ (S. 233f)

Ihre Freundschaft ist es, was sie zusammenhält, was sie stärkt, was ihnen niemand wegnehmen kann. Seit ihrer gemeinsamen Jugend in der Siedlung gibt es Hani, Saya und Kasih nur im Dreierpack, und sie wissen alles über die jeweils anderen, über ihre Herkunft und ihre Haltungen. Doch was sie auch eint, sind die Blicke, die Vorurteile, all der menschengemachte Hass, der ihnen überall in der Stadt begegnet, jeder auf ganz unterschiedliche Art, aber doch mit demselben Zunder.

Mit ihrem zweiten Roman setzt Shida Bazyar neue Maßstäbe: „Drei Kameradinnen“ nimmt die Gegenwart glasklar und intensiv auseinander, ist ernüchternd und anklagend in der direkten Ansprache, kompromisslos und einfach unglaublich in der Ausführung. Von der ersten Seite an legt Kasih als Erzählerin ein enormes Tempo vor, gibt zunächst nur bruchstückhaft wieder, was der Ausgangspunkt, der Grund all der Aufregung sei, und erzählt von gegenwärtigen Ereignissen ebenso wie Anekdoten aus der Vergangenheit der drei Frauen, um die Ursprünge und Hintergründe deutlich zu machen. Dieser schnelle, atemlose Stil ist beeindruckend gut umgesetzt, und ich habe zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ein Einschub nicht stimmig oder gar überflüssig wäre. Leichtfüßig wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Fiktion und Realität, zwischen persönlicher Ansprache und Beobachterfunktion. Gerade die persönlichen Ansprachen haben etwas Anklagendes, Entlarvendes, das Gänsehaut bereitet, Schamesröte in die Wangen schießen lässt und sogar mit zermürbender Ratlosigkeit ob der eigenen vorgreifenden Gedanken zurücklässt. Noch nie fühlte ich mich so in eine Geschichte eingebunden, und noch lange nachklingend angesprochen, auch wenn hier ein eher negativer Ton anklingt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Vom Aufstehen
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„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt ...

„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt habe.
Als Erwachsene weiß ich, dass ich Konkurrenten und Neider habe, die hinter meinem Rücken ihre Fallstricke legen.“ (S. 45)

Treffender könnte ein Titel nicht gewählt sein: In „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ erzählt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert in 29 Erzählungen aus ihrem Leben. Nachdenklich und drückend skizziert sie Episoden aus ihrer Kindheit, den Leiden der Nachkriegsgeneration, ihrem Leben als Autorin in der DDR und den damit verbundenen Ängsten und Hindernissen – bis hin zur Mauerfall, der auch in ihr einen Befreiungsschlag auslöste. Man spürt förmlich den Druck, der auf ihren Schultern lastet, den Einfluss der Stasi auf ihr Schaffen, den sie durch die lakonischen Darstellungen, die Wiederholungen erzeugt. Umso freimütiger, leichter – quasi als Aufmunterung, als Hoffnungsschimmer – werden die längeren biographisch-historischen Erzählungen von kurzen Sinneseindrücken, Momenten der Fröhlichkeit, der Wertschätzung des Lebens abgewechselt: So schreibt sie herrlich selbstironisch von den Tücken des Alterns in der modernisierten Welt, von der Hängematte im Garten ihrer Großeltern, von den Düften der Blumen in ihrem Garten. Diese Passagen, die mit klug gesetzten Absätzen und bildhaften Darstellungen Zeit zum Verweilen und Reflektieren geben, haben mir besonders gefallen. Zu diesem Wohlgefühl zuträglich ist, dass alle Erzählungen aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, was die Erlebnisse und Eindrücke noch nachvollziehbarer, empathischer macht. Sie hält sich nicht mit unnötigen Ausschmückungen auf, sondern bringt klar auf den Punkt, was sie ausdrücken möchte, benutzt lediglich Wiederholungen zur Verstärkung, aber beruht sich sonst auf die Aussagekraft des Wortes selbst.

Die Titelgeschichte bildet den krönenden Abschluss des Erzählbandes, der an Schwermut nicht zu übertreffen ist: [...]

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