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Veröffentlicht am 13.05.2021

Wundervoll!

Der Tod des Vivek Oji
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„Ich bin nicht, wofür mich alle halten. Das war ich nie. (...) Es war schwer, jeden Tag mit dem Wissen herumzulaufen, dass die Leute mich auf eine bestimmte Art sahen und falsch lagen, so völlig falsch, ...

„Ich bin nicht, wofür mich alle halten. Das war ich nie. (...) Es war schwer, jeden Tag mit dem Wissen herumzulaufen, dass die Leute mich auf eine bestimmte Art sahen und falsch lagen, so völlig falsch, dass ihnen mein wahres Ich verborgen blieb. (...) Aber wenn dich niemand sieht, bist du überhaupt noch da?“ (S. 47)

Er ist tot. Ihr geliebter Sohn Vivek ist tot. Als sie den notdürftig in Tücher gewickelten, gebrochenen Körper ihres einzigen Kindes vor ihrer Haustür entdeckt, bricht auch in Navita etwas, von dem sie sich nicht wieder erholen wird. Er war schon immer besonders, anders, und sie und ihr Mann Chika haben ihn oftmals nicht verstanden: Er litt schon von Kindheit an an Black Outs, die ihn scheinbar in Parallelwelten ziehen, und ließ sich die Haare lang wachsen. Während sein Onkel Emezi und deren Frau Mary davon überzeugt sind, dass er von einem Dämon besessen sein muss, tut Kavita all diese Anschuldigungen ab. Doch der einzige, dem sich Vivek anvertraut, mit dem er seine Sorgen und Ängste, seine Bedürfnisse teilt, ist sein Cousin Osita – und so entspinnt zwischen den beiden eine feine, liebevolle Liaison. In den 90er Jahren in Nigeria undenkbar! Was hat all das mit dem Tod Viveks zu tun?

Akwaeke Emezi erzählen in „Der Tod des Vivek Oji“ viel mehr als die verzweifelte Suche Kavitas nach der Wahrheit, nach den Gründen für den Tod ihres geliebten Sohnes. Viel mehr ist es ein unglaublich wichtiger, berührender Appell dafür, man selbst zu sein, keine Angst zu haben vor seiner oder ihrer wahren Identität. Vor dem Hintergrund strikter kultureller und religiöser Vorstellungen entspinnt sich eine von Angst und Verzweiflung geprägte Geschichte, die Vivek aus verschiedenen Blickwinkeln zu unterschiedlichen Stationen seiner Leben betrachtet, und dabei sukzessive aufdeckt, wer sie wirklich sind. Die klare, einfache Sprache kommt ohne bunte Beschreibungen aus und stellt beinahe nüchtern die Handlungen dar. Wie sensibel Awaeke Emezi all die Aspekte rund um Geschlechtsidentitäten, soziokulturelle und ethnische Differenzen – die nur zart, beinahe nebenbei erwähnt werden, trotzdem aber unglaublich wichtig sind!

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Giovannis Zimmer
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"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein ...

"Ich begriff, weshalb Giovanni mich gewollt und in seine letzte Zuflucht mitgenommen hatte. Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, das, um Giovannis zu verwandeln, erst ein Teil von Giovannis Zimmer werden musste." (S. 101)

Paris, 1950er Jahre. Aus seinem Elternhaus in den Staaten geflohen, findet der junge David in Paris einen Zufluchtsort. Als er eines Abend mit einem Geschäftspartner in eine Bar einkehrt, lernt er den Barkeeper Giovanni kennen, einen frevelhaften, hochmütigen Italiener, der etwas in ihm weckt, das er bislang nicht aktiv wahrgenommen hatte. Sie kommen sich näher, werden intim und beginnen eine Affäre. Gemeinsamen leben sie in Giovannis Zimmer, einer kleinen Kammer außerhalb der Pariser Altstadt, wo sie keine Angst haben müssen, ihr Verlangen zu rechtfertigen. Doch David kann mit diesen intensiven Gefühlen nicht umgehen, schämt sich einerseits, verlangt aber auch nach Giovannis Körper, seiner Liebe. Als plötzlich Davids Verlobte aus Spanien zurückkehrt, ist er völlig überfordert, während Giovanni, von seinem Geliebten verleugnet, aus seinem Leben abtritt.

Nachdem ich "Im Wasser sind wir schwerelos" von Tomasz Jedrowski gelesen hatte, war es für mich fast schon selbstverständlich, "Giovannis Zimmer" (OT: Giovanni's Room, Neuübersetzung von Miriam Mandelkow) von James Baldwin lesen zu müssen. Bereits 1956 im Original erschienen (in Deutschland erstmals 1963), gilt es als eins der prägendsten Bücher der LGBTQ+-Community, und ist auch auf anderen Ebenen unglaublich wichtig. Nach seinem Durchbruch mit "Go Tell it on the Mountain" ging Baldwin nach Paris, und schrieb, entgegen der Vorgaben seines Verlags in den USA, wie sein nächstes Werk beschaffen sein sollte, bewusst ein Buch mit weißen Protagonisten, um sich von der Stigmatisierung seiner Herkunft loszumachen; die Beschaffenheit ihrer Liebe ist somit nur nebensächlich die Intention des Romans. Vielmehr wollte er ausdrücken, was passiert, wenn man Angst hat zu lieben.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Phänomenal!

Unter Deck
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„Was bin ich für ein Mensch? Heute, gestern, morgen? (...) Woher soll man so etwas wissen? Woher soll man wissen, wo die Reise hingeht, wenn man nicht weiß an welchem Punkt man startet? Kann man so etwas ...

„Was bin ich für ein Mensch? Heute, gestern, morgen? (...) Woher soll man so etwas wissen? Woher soll man wissen, wo die Reise hingeht, wenn man nicht weiß an welchem Punkt man startet? Kann man so etwas wissen?“ (S. 278)

Manchmal eröffnet das Schicksal einem Möglichkeiten, von denen man nicht zu träumen gewagt hätte, dass sie einmal Wirklichkeit werden würden. So findet sich Olivia nach einem langen Abend plötzlich auf einem Schiff wieder, genauer: dem Segelschiff Robynne, das Mac, einen gutmütigen, älteren Herrn, und dessen guter Freundin Maggie gehört. Maggie ist blind und – genau wie Olivia – Synästhesistin; sie nimmt Geräusche und Gefühle als Farben wahr. Ermuntert von den Gemeinsamkeiten und dem Gefühl von Heimat beschließt Olivia, mit den beiden an einer Regatta teilzunehmen, endlich das blaue Meer der Korallenriffs zu sehen, und dafür ihr Praktikum bei einer großen Bank abzusagen. Sie verliebt sich in das Meer, die Weite und die Freiheit – bis es einige Jahre später zu einem traumatischen Erlebnis unter Deck eines Schiffs mit fünf jungen Männern kommt, das seine Spuren hinterlässt.

„Unter Deck“ (OT: Below Deck, übersetzt von Verena Kilchling) ist erschreckend intensiv und ehrlich, wortgewaltig und poetisch, verletzlich und sensibel. Sophie Hardcastle erzeugt mit wenigen Worten eindrückliche Bilder, sodass man das Salz auf der Haut zu spüren meint, den frischen Geruch des Meeres, sogar die Berührungen des jungen Mannes, dessen Finger wie ein Stempel haften bleiben. Ihre Protagonistin Olivia hat mich mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer durchweg intelligenten und starken Art beeindruckt: "Du bist ein eigenständiger Mensch, Oli. Vielleicht macht ihm das Angst." (S. 19) Sie wird mit allerhand Schicksalen konfrontiert, die an niemandem spurlos vorübergehen würden: der Tod eines Familienmitglieds, eine toxische Beziehung, fehlender familiärer Rückhalt. Trotz dessen wächst sie mit den Herausforderungen, behauptet sich in der männerdominierten Welt der Schifffahrt und findet sich doch immer wieder Vorurteilen und Sticheleien ausgesetzt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Fordernd und berauschend gut

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
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„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; ...

„Ich glaub, ein paar Hirnzellen weniger wurden mir guttun, ich habe mit der Intelligenz keine so guten Erfahrungen gemacht, bisher.“ (S. 15)

Aufstehen, programmieren, kurz schlafen – und wieder von vorne; im Leben von Syz gibt es – abgesehen von gelegentlichen Arcade-Treffen mit seinen drei Freunden – nichts Anderes, was ihn am Laufen hält. Als Programmierer in Ebene 3 des großen Wohnkomplexes, dessen Ziel es ist, eine künstliche Intelligenz mit menschlichem Bewusstsein zu erschaffen, implementiert er Codes, erschafft Algorithmen und beseitigt Bugs. So weit, so gut, doch DAVE, eben diese KI, wird immer komplexer, verbraucht immer mehr Datenvolumen und ein Kollaps des Systems scheint unausweichlich. Noch dazu trifft Syz im Labor auf eine junge Ärztin, die sich in seinen Gedanken festsetzen soll, und ihn des Öfteren vom Arbeiten ablenkt. Die Lage spitzt sich zu und Syz droht in den Strudel des Machtgefüges zu geraten: Eines nachts findet er sich im Kern des Labors wieder, in der Machtzentrale, und wird Teil eines immensen Plans, der alles verändern soll – und ihn der Geschichte des Labors und dem Gedankenspiel um die ethische Korrektheit und die Interessen hinter DAVE näherbringt.

In ihrem zweiten Roman „DAVE“ verspinnt Raphaela Edelbauer das komplexe, gegenwärtige Phänomen der KI und die Diskussionen um ihren Nutzen, die Ziele und ethischen Hintergründe mit einer verzwickten, abenteuerlich anmutenden Heldensaga. Der junge Programmierer Syz wurde dafür ausgewählt, die entscheidende Wendung in der Erschaffung einer weltverändernden KI herbeizuführen, doch zu welchem Preis, das wird erst allmählich klar. All die Wendungen, Abzweigungen, die seine Geschichte nimmt, scheinen zunächst unvorhersehbar, im Nachhinein gesehen teils nachvollziehbar, aber oftmals behält die Überraschung die Oberhand. Streckenweise verlor ich oftmals den Faden, wenn die Handlung zu abstrakt wurde und ich keine Anhaltspunkte mehr festmachen konnte, und doch zog mich der Verlauf in seinen Bann, wollte ich unbedingt wissen, was nun mit Syz passieren würde, welches Outcome DAVE haben würde.

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Veröffentlicht am 27.02.2021

Eine Idee der Zukunft und der Vergangenheit

Farm der Tiere
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„Can you understand that liberty is worth more than just ribbons?“

Die Farm der Tiere (OT: Animal Farm) von George Orwell ist bereits 1945 erschienen. Die dystophische Erzählung handelt von der Erhebung ...

„Can you understand that liberty is worth more than just ribbons?“

Die Farm der Tiere (OT: Animal Farm) von George Orwell ist bereits 1945 erschienen. Die dystophische Erzählung handelt von der Erhebung der Tiere auf einer Farm in einer englischen Grafschaft gegen ihren menschlichen Besitzer. Angeführt von dem Schwein Old Major, der verkündet, dass sie die ganze Zeit über ausgebeutet, ja gar vernachlässigt, ihrer nicht würdig behandelt wurden, planen sie, die Menschen von dem Hof zu vertreiben und von nun an für sich selbst zu sorgen, denn „zwei Beine sind schlecht, vier Beine sind gut“. Doch aus der anfänglichen Nostalgie wird schnell eine von den Schweinen, den wohl klügsten Tieren der Farm, angeführte Diktatur, die schlimmer zu werden vermag, als sie es je erlebt haben.

Vielen wird die Geschichte vermutlich aus der Schule oder dem Studium bekannt sein, ist sie doch aufgrund der möglichen und offensichtlichen Interpretationsvorlagen gesellschaftshistorisch relevant einzustufen. Mir persönlich hat die Geschichte weniger zugesagt; das lag nicht nur am Plot an sich, dessen Idee zwar wahren Ursprungs sein mag, doch ich fürchtete mich ein wenig davor. Der schwerfällige Schreibstil und die kryptischen Beschreibungen taten dann ihr übriges.

Doch hervorzuheben ist umso mehr das wunderschöne Cover dieser Neuauflage des Manesse-Verlags!

Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar!

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