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Veröffentlicht am 13.05.2021

Traumhaft schön!

Die Unschärfe der Welt
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„Man kann die Liebe überschätzen, ihr zu viel zu muten. Zuallererst ihr. (...) Wenn du dir also etwas wünschst, sag es. Verlass dich nicht darauf, dass es zu dir kommt, oder bei dir bleibt.“ (S. 213)

Alles ...

„Man kann die Liebe überschätzen, ihr zu viel zu muten. Zuallererst ihr. (...) Wenn du dir also etwas wünschst, sag es. Verlass dich nicht darauf, dass es zu dir kommt, oder bei dir bleibt.“ (S. 213)

Alles ist miteinander verbunden, Menschen und ihre Geschichte, ihre Ängste und Wünsche, und sei es über Jahrzehnte, Generationen hinweg und noch zu unscheinbar.

In „Die Unschärfe der Welt“ erzählt Iris Wolff die Geschichte einer Familie in Banat, die Geschichte von Florentine, Hannes und ihrem Sohn Samuel. Doch sie sind nur Teil eines großen Ganzen, verflochten mit ihren Eltern und Großeltern, mit den Nachbarn, den künftigen Enkelkindern. All diese Menschen aus vier Generationen eint, wie sie trotz räumlicher Distanz, trotz Schicksalsschlägen und Glücksmomenten im Leben stehen, zu einander stehen und zusammenhalten, sich miteinander und aufeinander zu bewegen.

Von einer leicht schwermütigen, melancholischen Atmosphäre ummantelt, entwirft Iris Wolff eine zutiefst beeindruckende, bewegende Geschichte von einer Familie in Banat im 20. Jahrhundert, die von der Vergangenheit geprägt und dem Kommenden gegenüber ehrfürchtig ist. Mit leichtfüßiger, poetischer Sprache, intensiven Bildern und Eindrücken mäandert sie zwischen den Perspektiven von sieben Protagonisten, zwischen den Generationen, zwischen dem was ist und dem was sein soll. Eine jede Figur erhält eine ganz besondere Sprache, eine ihr eigene Färbung, die sie einzigartig und bedeutsam macht, denn auch scheinbar nebensächliche Charaktere sollen früher oder später einen großen Einfluss auf ihr aller Leben haben. Sensibel stellt sie ihre Gefühle und Ängste, die Trauer, die sie fühlen, die Freude, die sie aufleben lässt, in den Vordergrund, und erzeugt mehr als nur Gänsehaut. Mir gefällt sehr, wie undurchschaubar, wie wenig vorhersehbar sie Anknüpfungspunkte schafft, ohne viel Auflebens einen berauschenden, stimmungsvollen Faden spannt, der mich um den kleinen Finger gewickelt hat – und mein Herz mitsamt.

„Die Unschärfe der Welt“ ist zu einem meiner liebsten Romane avanciert, die ich jemals lesen durfte, und hält einen großen Teil meines Herzens gefangen.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Besonders und tierisch gut

Ein Beitrag zur Geschichte der Freude
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„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist ...

„Schwalben fliegen, ihre Weisheit nähert sich nur aus ihren Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie sich treu.“ (S. 11)

[TW: sexuelle Gewalt, expliziter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung]

Er ist tot, an einem Seil erhängt, Zeichen einer Strangulation zeichnen den Hals. Der scheinbare Selbstmord eines reichen Geschäftsmanns zieht einen namenlosen Ermittler auf den Plan, der von dessen Witwe davon überzeugt wird, dass ein Suizid ausgeschlossen ist. Daraufhin begibt er sich auf die Suche nach Verbindungen, nach den Menschen, die zuletzt mit ihm in Kontakt standen und stößt dabei auf ein orangefarbenes Haus, das im Prager Petřín-Hügel verbaut ist. Es wird von drei älteren Damen bewohnt: der Körpergedächtnis- und Yoga-Instruktorin Diana Adler, der Filmemacherin Erika Eis und der Schreiberin Birgit Stadtherrová. Sie führen in Prag eine Art Archiv, in dem jegliche Gewalt an Frauen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart dokumentiert ist. Als die drei Damen nicht zugegen sind, verschafft er sich Zugang zu den Gemäuern und versucht, eine Verbindung zwischen dem Mordfall, dem Gewalt-Archiv und den Machenschaften der Frauen herzustellen.

In ihrem vierten Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ (OT: „Prispevek k dejinam radosti“, aus dem Tschechischen von Eva Profousová) verwebt Radka Denemarková bildgewaltig intensive, erschütternde Berichte vergangener und gegenwärtige Gewaltverbrechen gegen Frauen mit eher seichten Elementen eines Kriminalromans, die hier aber eher eine hintergründige Rolle spielen. Von Beginn an ist die Geschichte begleitet vom Zwitschern der Schwalben, vom Flügelschlag eines Adlers, dem Balztanz eines Rotkehlchens – sie scheinen das verbindende, das prägende Element zu sein, das den Ton und die Atmosphäre des Romans begleitet. Denn das ist es, womit sich die drei geheimnisvollen Damen beschäftigen: Einst zu viert anzutreffen, haben sie es sich zur Aufgab gemacht, Gerechtigkeit in der patriarchalisch geprägten Welt zu schaffen, in der Frauen Menschen zweiter Klasse sind, erniedrigt werden, misshandelt werden; [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Experimentell und interessant

Der Himmel vor hundert Jahren
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„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein ...

„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein in der Zukunft (...).“ (S. 105)

Geschrieben steht das Jahr 1918. An einem Fluss in Russland liegt ein Dorf; so weit abgelegen, dass es von dem laufenden Bürgerkrieg, von allem, was außerhalb des Marktplatzes geschieht, noch nichts erfahren hat. Ist auch gar nicht so schlimm, denn die Ereignisse im Dorf halten die Bewohner:innen in Atem, in Aufregung und Erwartung. Während Ilja, der Dorfälteste, mithilfe eines mysteriösen Glasröhrchens, das eine silbrige Flüssigkeit umschließt, das Wetter vorherzusagen vermag, spricht Piotr, der graubärtige Greis, mit dem Fluss und seinen Geistern, hält ein ums andere Mal den befeuchteten Zeigefinger in den Wind zum Wetterbericht – die Geister scheiden sich in ihrer Kunst.
Doch als Inna Nikolajewna, der Frau von Ilja, eines Tages ein Messer herunterfällt, kommt ein Fremder, ein junger Mann in Uniform, aber ohne Stiefel, in ihr kleines Dorf – und bleibt. Er redet nicht viel, doch wenn er das Wort ergreift, verfolgt er jedes Mal einen anderen Faden. Jeder beobachtet ihn, versucht, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, doch sie scheitern alle, selbst Iljas Enkelin Annuschka. Als schließlich auch noch zwei Männer, die „Realitäten“, das Dorf aufsuchen, gerät das Dorf in Umbruch.

In ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“ entspinnt Yulia Marfutova ein poetisches, sprachliches Feuerwerk, das die seichte Monotonie der eigentlichen Handlung strahlen lässt. Zarte Charaktere erhalten eine eigensinnige, wundersame Stärke, die nicht handhabbar ist, aber doch irgendwie da. Die elliptischen, kurzen Sätze, wie zufällig eingeworfenen Wörter und dann wieder verschachtelten, hypotaktischen bestimmen das Tempo, das insgesamt eher langsam ist, nachdenklich – und dadurch die wunderschöne Sprache nur noch mehr zur Geltung bringen.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Eine berührende Geschichte

So wie du mich kennst
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„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen ...

„Der Mensch klammerte sich an alles. Erst an die Person, dann an die mit der Person verbundenen Dinge, dann an die Erinnerungen, und dann fiel man oder entstieg wie ein Phoenix der Asche. Am Kummer zerbrechen oder vom Herzschmerz auferstanden - hatte man wirklich die Wahl?“ (S. 153)

Als ihre Schwester Marie bei einem Unfall stirbt, bricht für Karla eine Welt zusammen. Sie fühlt sich nicht mehr ganz, als wäre ein Teil von ihr mit ihrer Schwester gestorben. Nun ist sie alleine, weiß nicht mehr, wie sie in ihrem Leben weitermachen soll, zumal sie sich kurz vor Maries Tod von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte. Aber irgendwie muss es ja weitergehen und so reist sie nach New York, um sich um die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Dabei lernt sie Menschen kennen, denen Marie nahe stand und von denen sie bislang nichts wusste, entdeckt Bilder auf ihrem Laptop, die sie verstören – und beginnt sich zu fragen, wer ihre Schwester eigentlich wirklich war – und wer sie dadurch ist.

In „So wie du mich kennst“ erzählt Anika Landsteiner die Geschichte zweier Schwestern, deren Leben nur zusammen funktionierte, sie sich einander besser kannten als sie selbst – bis sie traumatisch auseinandergerissen wurden. Marie und Karla sind in einem kleinen Dorf in Unterfranken aufgewachsen und haben von Kindheit an einen starken familiären Zusammenhalt erfahren. Marie ist erfolgreiche Fotografin und nach einer schnellen Hochzeit mit ihrem Mann nach Boston gezogen, Karla hingegen arbeitet als Lokaljournalistin in ihrem Heimatdorf. Doch Jahre später findet sich Karla alleine in einer kleinen Wohnung in New York wieder und zweifelt an ihrer Schwester, an ihrer Offenheit und muss sich eingestehen, dass sie schwerwiegende Geheimnisse vor ihr gehabt haben muss.

Aus der Sicht von Karla und Marie nimmt die Geschichte immer mehr Gestalt an, werden nach und nach vergangene Ereignisse preisgegeben, prägende Momente ihrer beider Leben beschrieben, die die zutage getretenen Geheimnisse nachvollziehbarer machen, verständlicher.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Grandios!

Leute wie wir
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„Vielleicht werden die Leute so zu Aasgeiern: Man kauft alles um sich herum auf, aus Angst vor dem, was man nicht hat, nicht vor dem, was einem schon gehört. Also kauft man noch etwas dazu, wohl oder übel, ...

„Vielleicht werden die Leute so zu Aasgeiern: Man kauft alles um sich herum auf, aus Angst vor dem, was man nicht hat, nicht vor dem, was einem schon gehört. Also kauft man noch etwas dazu, wohl oder übel, gezwungenermaßen, kauft und kauft, denn immer gibt es einen Zaun und jemanden jenseits davon.“ (S. 359)

Zeit für Veränderung – das dachten sich Osnat und ihr Mann Dror, als sie gemeinsam mit den beiden Töchtern Hamutal und Hannah in ein äußerlich schäbiges, noch nicht gentrifiziertes Viertel Tel Avivs ziehen, das aber in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach boomen wird. Es scheint ein Wink des Schicksals zu sein, dass sie schnell Freunde mit kleinen Kindern finden, die sie in die Geheimnisse des Lebens des Viertels einweihen – doch nicht alles scheint so zauberhaft, wie sie es sich vorgestellt hatten: ein mürrischer Nachbar, der grundlos unfreundlich ist, Sachbeschädigung, Einbrüche und Diebstahl. Übertreiben sie nur, angestachelt von Gerüchten der Nachbarn, den abwertenden Kommentaren ihrer Familien, oder was steckt hinter all dem?

Bissig und rasant, an der Grenze zwischen Wahnsinn und Genialität erzählt Noa Yedlin in „Leute wie wir“ von einer Mittelstandsfamilie, die der städtebaulichen Entwicklung einen Schritt voraus sein will, und sich doch irgendwie fehl am Platz fühlt. Doch es sind nicht nur die externen Scherereien der Nachbarschaft, des Viertels, die besonders Osnat zu schaffen machen: Seit ihrem Umzug werden die Abgründe der Familiendynamik immer sichtbarer, schweifen ihre Gedanken immer öfters um Sex und um vergangene Liebeleien. Sie macht sich Sorgen um ihre ältere Tochter Hamutal, zweifelt an der Ehrlichkeit ihres Mannes ihr Gegenüber, schwankt zwischen Neid gegenüber ihrer Schwester und deren scheinbar intakter, ach so perfekter Familie, und Frustration ob ihrer Situation.

Wie grandios Noa Yedlin all diese Themen sprachlich verpackt hat, beeindruckte mich von der ersten Seite an: Der zunächst dichte Schriftsatz schreckt auf den ersten Blick vielleicht ein wenig ab, doch schon auf den zweiten wurde ich eingesogen,

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