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Veröffentlicht am 01.04.2024

Ein echter Ostsee-Pageturner

Ostseefinsternis
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Mit >OstseefinsternisOstseefinsternis< und doch wird auch sofort mit unserer Erwartungshaltung gespielt. Stella Böttcher wird nachts auf dem Nachhauseweg überfallen und misshandelt – wider Erwarten überlebt ...

Mit >Ostseefinsternis<, dem inzwischen 19. Band der Pia Korittki-Reihe, legt Eva Almstädt in gewohnt guter Manier erneut einen echten Pageturner vor, den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Wie gewohnt startet es spannend in Eva Almstädts neuem Ostseekrimi >Ostseefinsternis< und doch wird auch sofort mit unserer Erwartungshaltung gespielt. Stella Böttcher wird nachts auf dem Nachhauseweg überfallen und misshandelt – wider Erwarten überlebt sie den Angriff jedoch relativ unbeschadet (wir haben also gar keine Leiche) und führt uns in die Geschichte einer alten Familienfehde zwischen den „Böttchers“ und den „Hagendorfs“. Ein Inselklassiker In diesem Zusammenhang feiere ich extrem die Aufmachung des Buches mit dem eingefalteten Buchdeckel, hinter dem sich die Stammbäume und Familienkonstellationen der Böttchers und Hagedorns verbergen und so einen guten Überblick geben – die lesende Person wird den Stammbaum mehrfach heranziehen, so kompliziert ist die Gemengelage und auch Pia selbst stöhnt in der Mitte des Buches auf und wünscht sich genau eine solche Grafik, ein schöner Binnenwitz.
Was also hat es auf sich mit diesem Überfall? Almstädt liefert uns auf den ersten Seiten direkt eine Vielzahl von Motiven und Verdächtigen, schafft es für mich aber dennoch gut, dass mensch all die Namen und Personen einsortieren kann und ein Bild von ihnen bekommt. Über all dem wacht die Familienchefin Helmgard, die vielleicht im physischen Sehen eingeschränkt ist, ansonsten aber vielmehr sieht, als manch anderer.
Und Pia? Kämpft erst einmal mit ihrem Privatleben, mit ihrem Sohn Felix, der Angst vor tiefem Wasser hat (wie ungünstig, wenn man in Lübeck, genau zwischen Nord- und Ostsee lebt), dem sie noch irgendwann irgendwie erklären muss, dass eigentlich Marten, ihr Freund, sein Vater ist, mit dem Urlaub, den sie tatsächlich mal machen kann, und von dem wir schon ahnen: Das wird nix.
Der Schreibstil ist, wie immer bei Almstädt, einfach super, genau die richtige Menge an Details, unterlegt mit einem feinen Humor, sehr gute, unaufwändige, oft indirekte, also eher durch die Wirkung auf das Gegenüber erzählte Figurencharakterisierungen und ein spannungsgeladener Faden, der sich durchzieht.
Während sich Pias Konflikt mit sich selbst vertieft, zum einen die Traumatisierung, zum anderen ihre Besessenheit von ihrem Beruf, die es ihr fast unmöglich macht, abzuschalten und dann noch die innere Not, ihrem Sohn zu erzählen, wer wirklich sein leiblicher Vater ist, kommt es nach knapp 50 Seiten dann auch zum Mord.
Wie immer findet Almstädt die genau richtige Dosis zwischen Privatleben der ermittelnden Personen und Handlung des Falles. Und wer das Leben auf dem Dorf kennt, der weiß: Hier ist jede:r mit jede:m verstrickt, so dass sich die Verdächtigen munter die Klinke in die Hand geben und die Verwirrung immer mehr steigt. Hier hätte fast jede:r ein Motiv, was die Mörder:innensuche extrem spannend und vielfältig gestaltet über lange Strecken des Buches. Almstädts flüssiger Schreibstil und ihr herrlicher Humor tun ein Übriges und drumherum immer präsent: Die Ostsee.
Am Ende wurde es für mich leider an einigen Stellen unplausibel und die ermittelnden Personen standen doch mehr auf dem Schlauch, als ich es ihrer Intelligenz und Erfahrung zutraue, dann noch ein retardierendes Moment, das zuvor für mich nicht wirklich sauber aufgebaut wurde und auch kaum Handlungsrelevanz hatte. So hat mich Almstädt trotz eines wirklich 1A rasanten Showdowns dann doch ein bisschen verloren auf den letzten Metern, weswegen es nicht ganz für die 5 Sterne reicht, die ich dem Buch über weite Strecken gern gegeben hätte. Dennoch in jedem Fall ein absolut lesenswerter Krimi, für den mensch sich am besten ein Wochenende nichts vornimmt, denn aus der Hand möchte mensch ihn nicht mehr legen!

Ein großes Dankeschön an lesejury.de und Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Ein Leben, das in kein Genre passt?

Das verborgene Genie
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In Marie Benedicts neuem Buch „Das verborgene Genie“ begleiten wir die Ausnahme-Wissenschaftlerin Rosalind Franklin durch ihre zweite Lebenshälfte von 1947 bis 1958. Der Einstieg ins Buch ist etwas holprig, ...

In Marie Benedicts neuem Buch „Das verborgene Genie“ begleiten wir die Ausnahme-Wissenschaftlerin Rosalind Franklin durch ihre zweite Lebenshälfte von 1947 bis 1958. Der Einstieg ins Buch ist etwas holprig, da die Autorin einerseits versucht, sehr viele Informationen in sehr wenige Seiten zu pressen, andererseits noch nicht ganz in einen klaren Stil findet zwischen Roman und Bericht. Nach den ersten Kapiteln kommt aber Schwung ins Ganze, so dass Wissenschaft und wirklich spannende Handlung zunehmend ins Gleichgewicht kommen. Warum es so ist, dass Rosalind Franklin wie viele andere Frauen in der Wissenschaft zeitlebens nie die Anerkennung für ihr bahnbrechendes Schaffen bekamen und sie leider auch heute noch vielen Menschen unbekannt ist, darüber gibt dieses Buch viel Aufschluss.
Sehr gut schafft es die Autorin, das Kolorit der Nachkriegszeit in Frankreich England sowie die hohe Frauenfeindlichkeit in der Wissenschaft darzustellen. Dabei hilft die Ich-Perspektive, in der das Buch geschrieben ist, sehr dabei, in Rosalinds Kopf und Gefühle zunehmend einzutauchen, so dass ich mich schon nach ein paar Kapiteln gut mit ihr verbunden gefühlt habe. Benedict bettet elegant immer wieder in kleinen Häppchen Informationen über Rosalind ein, wie z.B. ihre Herkunft, ihr Alter, ihre Position als Außenseiterin in ihrer Familie, ihren Werdegang und der wissenschaftliche Anteil bis zum berühmten Beugungsfoto 51 ist gut recherchiert. Ein bisschen Interesse für Naturwissenschaft ist allerdings hilfreich, die Vorgänge werden schon sehr fachlich und wenig populärwissenschaftlich erklärt. Schnell wird auch deutlich, wie sehr Franklin kämpft, um für sich eine Rollenbild der Frau zu definieren – und dass sie schnell von Männern beeindruckt ist, die sich in ihrem Wissensgebiet auskennen und ihr ein Gefühl von Geltung geben. Ihr Arbeitseifer, ihre Genauigkeit, ihr Beharren auf Wissenschaftsethos und der totale Fokus auf die Forschung, das alles erlebt man lesend intensiv mit. Bedrückend war für mich der Leichtsinn, mit dem Rosalind in ihrer Arbeit vorgeht und immer wieder die Schutzkleidung ignoriert, aber das war natürlich die Naivität ihrer Zeit. Ein tolles Buch also, um einer großartigen Forscherin auf die Spur zu gehen.
Ein großes Manko war für mich aber, dass Benedict leider immer wieder in den Kitsch abgleitet und sich für mich unnötig mit – teils erfundenen? – scheiternden Liebesgeschichten von Franklin beschäftigt. Und auch das Ende des Buches romantisiert extrem und hat für mich damit Rosalind Franklin in ein Licht gestellt, in das sie gar nicht passt. So pendelt die Autorin immer wieder zwischen Dokumentation, Bericht, Sachbuch, Roman und Romance, was dem Lesefluss nichts Gutes tut. Leider ordnet die Autorin im Nachwort auch nicht ein, welche Anteile ihres Buches fiktiv sind und welche historisch belegt, was für mich auf jeden Fall dazu gehört, wenn man ein solches Buch, noch dazu in der Ich-Form schreibt. Das sind für mich klare Kritikpunkte. Am Ende überwiegen aber viele lesenswerte Abschnitte und die Freude darüber, das Leben von Rosalind Franklin so sichtbar und begreifbar zu machen, eine Wissenschaftlerin, die uns die Struktur des Lebens so unglaublich nah gebracht hat durch ihre Forschung und damit die Basis für viele Erkenntnisse geliefert hat. Also unbedingt reinlesen!

Ein großes Dankeschön an lovelybooks und Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Am Ende liegt es immer an uns

Noto
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Mit „Noto“ ist Adriano Sack ein schriftstellerisch brillanter und emotional extrem berührender Roman der Meisterklasse geglückt. „Noto“ fängt die dunklen Wolken über den Bergen Siziliens genauso atmosphärisch ...

Mit „Noto“ ist Adriano Sack ein schriftstellerisch brillanter und emotional extrem berührender Roman der Meisterklasse geglückt. „Noto“ fängt die dunklen Wolken über den Bergen Siziliens genauso atmosphärisch ein wie die aufgehende Sonne über dem Meer, es ist ein Buch über Trauer und Verzweiflung – und über Leben, Leben, Leben! Und die Liebe.
Konrad bringt die Asche seiner großen Liebe, Adriano, nach Sizilien, um sie dort zu zerstreuen. Sizilien, der Ort ihrer Liebe, der Ort, an dem mit einem Haus, dass sie aus einer Laune heraus anfingen zu bauen, ein Bekenntnis zu ihrem Miteinander steht. Ein Miteinander, das in den letzten Jahren auch aus viel Trennung bestand, aber Trennung, die Raum gibt, die Atmen möglich macht und immer wieder neues Aufeinanderzugehen: „Ich brauche meine Schlösser und Inseln, zu denen Du keinen Zutritt hast.“
Adriano ist einen viel zu frühen und viel zu sinnlosen Tod gestorben (gibt es sinnvollen Tod?) und hat Konrad überfordert und überrumpelt mit einer eben genau nicht Leere, sondern einer Fülle zurückgelassen, eine Fülle von schwebenden Erinnerungen und unglaublicher Präsenz, von der Konrad sich nicht befreien kann und vielleicht auch nicht will. „Du musst dich öffnen! Entpanzern!“ Dieser Herausforderung stellt sich der einsame Mann, der nicht nur die Tage seit Adrianos Tod immer exakt benennen kann, sondern auch die Stunden.
Sack spielt eindrücklich mit Sprache und Bildern für die emotionale Katastrophe, Bilder, die am Anfang des Romans traumatisch und düster sind, in denen immer eine Hälfte fehlt und es viel um das Sehen geht, um den Kontrast zwischen Fehlen und Vernichtung und Dasein und Horizont. Wenn in der Mitte des Buches ein Feuer fast den gesamten Berg aufzufressen droht, und eine Entscheidung im Raum steht – abfackeln, Asche zu Asche oder doch löschen und retten, was zu retten ist – dann sind alle Emotionen klar auf dem Tisch, ohne jemals benannt werden zu müssen. Überhaupt ist es das, was diesen Roman ausmacht, wie der Autor unglaublich geschickt alles Innen in ein Außen bringt und so wirklich tief ins Herz trifft, weil er eben nicht verkitscht ein Innen beschreibt.
Sein zweiter genialer Schachzug ist, dass er Adriano weiter Sprechen lässt und dieses Sprechen kein Dialog wird, sondern immer über allem schwebt, wie ein Voice Over, das gar nicht zwingend das Geschehen kommentiert, aber immer klarer herausarbeitet, wie die Beziehung und das Zusammenleben von Konrad und Adriano waren, was nun alles fehlt. Mit aller Deutlichkeit wird gezeichnet, dass wir Vergangenheit nun einmal nicht aufholen können und Zukunft immer anders sein wird, als wir sie planten.
Wann also ist Jetzt und wie lebt man darin? Wann darf man wieder lieben und ist jedes Lieben nur ein Außer Sich Sein? Wie viel Trauer muss sein, wie viel darf, wie viel Zeit muss man den Atem anhalten, bis man sich erlösen darf davon? Und muss das alles überhaupt? Kann man annehmen, dass alles im Leben seine Zeit hat und ganz ohne Schmerz? Es sind existentielle Fragen, die dieser Roman einem so karg und schroff entgegenschreit, wie die Felswände um Palermo aufragen. Und die Menschen, die in ihm durch das Leben reisen, sind dabei so warm und herzlich und glaubwürdig, wie der Grillo abends auf der Terrasse, wenn die Nacht still wird. Wer Sizilien kennt, sieht es perfekt eingefangen mit all seinen Widersprüchlichkeiten und den vielen Bezügen auf lokale Gegebenheiten. „Sizilien ist wie eine Kaktusfeige“, sagte er: „Du spürst es zuerst kaum, aber es bohrt sich etwas in dein Fleisch, was du nie mehr rauskriegst.“ Am Ende liegt es immer an uns. Wir sind schon glücklich. Wir wissen es nur noch nicht.
Unbedingt erwähnt werden muss auch noch das wunderschöne Cover im Stil des Expressionismus mit seinen leuchtenden Farben – ist mir sofort ins Auge gesprungen und bildet für mich perfekt alles ab, was in diesem Roman steckt. Eine ganz klare Leseempfehlung. Wer dieses Buch nicht liest, hat wirklich was verpasst.

Ein großes Dankeschön an vorablesen.de und Nagel und Kimche in der Verlagsgruppe Harper Collins für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Pageturner mit unfassbar viel Gehalt und Abgrund

Trophäe
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Mit „Trophäe“ ist Gaea Schoeters ein Ausnahmeroman geglückt, der zu einem atemlosen Leseerlebnis führt, nach dem ganz sicher nichts mehr so ist wie es vorher war. Das eindringliche Cover mit dem würdevollen ...

Mit „Trophäe“ ist Gaea Schoeters ein Ausnahmeroman geglückt, der zu einem atemlosen Leseerlebnis führt, nach dem ganz sicher nichts mehr so ist wie es vorher war. Das eindringliche Cover mit dem würdevollen Nashornkopf führt uns direkt in den Konflikt von archaischer Natur und machthungriger Zivilisation, der im gesamten Buch die Handlung vorantreibt und nur zu lösen wäre, wenn – ja wenn der Mensch nicht der Mensch wäre.
Hunter White ist ein Mensch, der an Widerlichkeit wirklich kaum zu überbieten ist – und er versucht, die Big Five vollzumachen, indem er endlich ein Nashorn schießen kann. Denn vor allem ist Hunter White auch: Jäger. Und Mann. Die Kunst der Autorin besteht darin, richtig nah ran an die innere Logik des Jägertäters zu gehen und schonungslos dessen Besessenheit aufzudecken – aber auch die Logik, die hinter seinem Denken und Handeln liegt und die dieses für ihn zwingend macht. Dabei geht sie so sachlich und klar vor, dass man über weite Teile nicht darum herumkommt, das eigene Denken in Frage zu stellen und zumindest kurzfristig immer wieder eine ganz neue Perspektive auf die Großwildjagd zu entwickeln. Und das wühlt wirklich auf. Hunters Gedanken und Äußerungen machen einerseits sehr klar, dass die Jagd für ihn nur ein Mittel ist, um sich lebendig zu fühlen, um ein Machtgefühl zu erhalten, um den Adrenalinkick zu erleben und zu siegen, einfach nur zu siegen. Unendlich viel Kolonialdenken steckt auch in vielen Gesprächen, wenn er beispielsweise formuliert, dass ihm schon als Kind „das ursprüngliche Afrika“ geraubt wurde oder überhaupt in der Art wie er erwartet, dass Tiere und Reviere für ihn bereitgestellt werden. Dem entgegen steht auf schon absurde Weise ein Teil seines Business, das darin besteht, recht willkürlich Landzonen aufzukaufen, um die Erde als Natur zu bewahren (und sie nach seinem Goodwill zu gestalten). „Er, Hunter, Mann.“
Ein Gedanke, der leider erst einmal bestechend war, war für mich, dass es letztlich die Großwild-Jagdlizenzen sind, die zum Artenschutz beitragen, weil sie die Wilderei aushebeln, indem sie ausreichend Geld ins Land spülen und dafür sorgen, dass es einen Grund gibt, die Arten zu schützen. Ich bin innerlich dem Gedanken erst einmal komplett gefolgt und dachte, oha, da ist ja viel dran. Bis mir dann wieder aufgefallen ist, dass das natürlich nur daran liegt, dass die Mehrheit der Menschen kapitalistisch, kurzfristig und ausbeuterisch lebt und denkt – wäre das nicht so, dann würde auch diese Logik nur auf tönernen Füßen stehen.
Auf jeden Fall gelingt es der Autorin bedrückend gut, in die Gedanken- und Gefühlswelt von Hunter White (ich liebe alles daran) einzusteigen und einen auf diese Reise mitzunehmen – und die Jagd selbst ist superspannend gestaltet, ich habe mich mehrfach selbst ans Atmen erinnern müssen. Der Ekel, den man parallel empfindet, während man spannungsgeladen mit auf die Jagd geht, ist enorm und die Autorin schafft es genial, einen die ganze Zeit eng an der Hand zu führen, es wird keine Pause gegönnt.
In der zweiten Hälfte des Buches geschieht dann ein Plottwist, der hier nicht verraten werden soll, der Schoeters aber die Möglichkeit gibt, die Jagd komplett ad absurdum zu führen und uns in brutaler Ehrlichkeit all die Hässlichkeit zu zeigen, die ihr inneliegt. Dabei verrutschen die Dimensionen des gelangweilten Menschen aus der „Zivilisation“ immer weiter und die pseudologischen Rechtfertigungen auch. Die Jagd der Native Inhabitants und der Weißen kommt immer mehr in Konfrontation: „Für uns ist das eine Frage des Überlebens, Mister White. Nicht des Egos. Oder der Trophäen.“ Das Ende des Buches ist im Detail nicht vorhersehbar und bietet Möglichkeiten, die man in seiner kühnsten Phantasie eigentlich nicht denken möchte.
Mein Fazit: Ein aufrüttelndes, mich absolut bewegendes, über viele Teile heftig abstoßendes (aber im guten Sinne) Buch, das eine unglaublich brillante Autorinnenleistung darstellt und fast durchweg die Spannung extrem hochhält. Pageturner mit unfassbar viel Gehalt und Abgrund. Für mich klare 5 Sterne und ein Stoff, der mich noch länger beschäftigen wird. Mein großer Respekt an die Autorin, sich mit diesem Thema so auseinanderzusetzen und es in diese geniale Form zu bringen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Unbedingt lesen. Großer Anwärter auf das Buch des Jahres.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Paul Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Nie vergeblich

Liebesmühe
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Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ...

Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ihren Schatten betrachtet – den Schatten ihrer Selbst. Es gibt wahrscheinlich kein besseres Bild für das Thema des Buches.
Wessely beschreibt in „Liebesmühe“ punktgenau und in schonungsloser Ehrlichkeit die Emotionen einer jungen Mutter, die nach der Geburt eines Kindes in eine postpartale Depression verfällt, ein Phänomen, das in unserer Gesellschaft noch immer radikal tabuisiert wird und zu dem mensch kaum Hilfestellung erlangt. Klar arbeitet sie heruas, dass diese Diagnose unter Umständen nur eine Pathologisierung von etwas ist, das im modernen Zeitalter in der westlichen Welt leider ganz normal ist. Damit sind nicht die Symptome gemeint, sondern die attestierte Krankhaftigkeit, die letztlich nur eine sehr logische, systemische Reaktion darstellt. Frauen im westlichen Europa, insbesondere privilegierte Frauen, haben ein reiches, selbstbestimmtes Leben vor einer Schwangerschaft und Geburt, und werden auf einmal komplett in eine Fremdbestimmung geworfen – größer kann die Lücke im Selbstbild nicht gespannt werden – so ergeht es auch Wessely, was sie sehr berührend und eindringlich beschreibt ab dem Punkt, wo sie Worte findet für all das, was nach der Geburt wie ein Tsunami über sie schwappt. Und mit all dem sind, so wie Wessely, die meisten Gebärenden allein. Der Partner verschwindet spätestens nach ein paar Wochen Elternzeit wieder in große Anteile seines vorherigen Lebens, die Freunde und Freundinnen leben ihr Leben weiter und schauen nur ab und zu auf einen Kaffee vorbei, die Eltern leben meist an einem anderen Ort und selbst wenn nicht: Wie können wir auf einmal wieder Kind sein, wo wir doch selbst nun Eltern sind? Die daraus entstehende Zerrissenheit zwischen altem und neuem Selbstbild macht Wessely leicht nachzuempfinden. Und zu wem also in diesem System sollte man einen Satz sagen können wie „Ich habe Angst vor dem Kind“ – ohne sofort als „krank“ angesehen zu werden? Doch Frauen, denen es so geht, gibt es viele und nein, sie sind nicht krank. Sie sind einfach nur entwurzelt und mit etwas Fremdem konfrontiert, für das sie Verantwortung tragen – das aber nicht mit ihnen kommuniziert. Und ja: Das kann furchtbare Angst machen. Wenn dieses Etwas dann auch noch pünktlich am Abend stundenlang schreit, egal was man tut, dann wird alles, was man über sich selbst weiß, in Frage gestellt. Und da helfen keine Sätze wie „Das wird wieder anders“ „Ist nur eine Phase“ usw. All das beschreibt die Autorin so schnörkellos und klar und schriftstellerisch in tollen Bildern, dass mich das Buch schon auf den ersten Seiten sehr begeistert hat, trotz des schweren Inhalts. Gut ist, dass Wessely dabei nicht aus einer Betroffenheit heraus emotional schreibt, sondern sich selbst in der dritten Person analysiert, was der lesenden Person durchweg ermöglicht, bei aller Empathie auch die Außenschau zu bewahren. Und neben dem Schmerz bekommen auch andere wichtige Emotionen Raum, „Zorn über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die mütterliche Depression noch fördern. Über die vollkommen irrsinnigen, überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen Mutterschaft betreffend, die strukturell in größter Spannung mit weiblichen Erfahrungen stehen. Denen man nie entsprechen kann. Die krank machen.“
Im zweiten Teil des Buches wird es nach der emotionalen Achterbahnfahrt des ersten Teils deutlich wissenschaftlicher – Wessely findet wieder mehr Zugang zu sich selbst und somit auch Zugang zu der kritischen Gesellschaftswissenschaftlerin, die sie ist. Analytisch nimmt sie deshalb auseinander, wie Mütter in der westlichen Gesellschaft zum einen in einen Berg von Theorien und Wissen geworfen werden, mit dem sie sich unbedingt auseinandersetzen sollen, zum anderen aber ständig zurück „zur Natur“ geführt werden sollen und so ein „das ewig Weibliche“-Mythos über sie gestülpt wird. Beides führt dazu, wie Wessely auch hervorragend herausarbeitet, dass frau sich eigentlich ständig defizitär und ungenügend fühlt und sich on top auch noch die damit einhergehenden Gefühle abspricht und verbietet. Und wie dieses Denken nicht durch Solidarität unter Frauen abgefedert, sondern oft noch dazu durch eine Art „Gute-Mutter-Wettbewerb“ verstärkt wird. Unser heutiges Mutterbild wird in seiner historischen Entwicklung aufgedröselt und viele ideologischen Aspekte werden hinterfragt. Dieser zweite, viel mehr theoretisch unterfütterte Teil mag für manche Leser:innen zu viel theoretischen Impact zum Weiterlesen haben, hier liegt definitiv ein Wechsel im Duktus vor. Das ist ein kleiner Kritikpunkt an diesem wichtigen Buch, dass Wessely hier etwas elitär aus ihrer eigenen Bubble heraus schreibt und unter Umständen dadurch minder privilegierte Leser:innen verliert.
Am Ende des Buches spricht Wessely ganz offen über die Scham und das im Nachhinein auf sich selbst schauen und manchmal nicht verstehen können, wie man als denkender Mensch in so einem Tunnel feststecken konnte. Da bleibt ein Gefühl von Schuld, das ganz schwer zu kanalisieren ist – und auch dort ist Gesellschaft wirklich keine Hilfe, manchmal ist dort sogar Therapie keine Hilfe, je nachdem, an wen man so gerät. Es ist noch so viel zu tun für die moderne Frau. Der erste Schritt ist ehrliches darüber Sprechen – weshalb es mehr als wichtig ist, dass Wessely so offen darlegt, wie sie mit sich gekämpft hat, sich doch zumindest ein bisschen besser darstellen zu wollen. Und die Sorge, was das bedeuten kann, wenn dieses Zeugnis in der Welt ist und irgendwann ja auch von ihrem Sohn gelesen werden kann – welche Veränderung wird das dann für ihr Verhältnis bedeuten? Insofern ein besonders mutiger Schritt, diesen Bericht nicht unter Pseudonym zu veröffentlichen, was ja auch möglich gewesen wäre.
Was definitiv fehlt: Triggerwarnungen und ein Anhang mit Verweisen auf Beratungsstellen und Hilfsangebote. Das ist leider ein großes Manko. Das Buch ist so super, schonungslos ehrlich und auch schriftstellerisch auf einem hohen Niveau, aber es gibt den lesenden Personen gar keine konkreten Hilfestellungen - und erzählt doch selbst so deutlich davon, wie schwierig es ist, die passende Hilfe zu finden / die Energie dafür aufzubringen. Das wäre ein klarer Wunsch an den Verlag von mir, hier nachzubessern. Und ja, die Angebote ändern sich, aber da reicht ja ein QR-Code, der auf Seiten verweist, wo solche Angebote gebündelt werden.
Auf jeden Fall ist „Liebesmühe“ aber ein extrem wichtiges Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche, vor allem auch viele Leser.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Carl Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!

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