Profilbild von galaxaura

galaxaura

Lesejury Profi
offline

galaxaura ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit galaxaura über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 31.03.2024

Ein Leben mit einer ständig aufgeklappten Schere im Herzen

Und dann sind wir gerettet
0

„Und dann sind wir gerettet“, das Romandebut von Alessandra Carati, erschienen 2023 im nonsolo Verlag, ist eines dieser seltenen Bücher, die mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte: Ein Ausnahmebuch, ...

„Und dann sind wir gerettet“, das Romandebut von Alessandra Carati, erschienen 2023 im nonsolo Verlag, ist eines dieser seltenen Bücher, die mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte: Ein Ausnahmebuch, das es verdient, auf den Bestsellerlisten ganz weit nach oben zu wandern. Ein Buch, dem ich nicht mit einer kurzen Rezension gerecht werden kann.

Die Autorin beschreibt die Situation einer Familie auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg so klar, schnörkellos, gedrängt, teilweise gewaltvoll aber vor allem immer auch poetisch, dass es einen direkt packt. Vor allem die Sprache ist einfach wunderschön, es sind so viele so eingängige Sprachbilder, die Carati findet. Nur ein paar Beispiele aus dem Buchanfang: "Er packte seine ganze Enttäuschung darüber, dass er mich nicht schlagen durfte, in seine geschlossenen Fäuste und rannte weg." (S. 15) "...schon immer hatte sie sich wie zu Besuch in ihrem eigenen Leben gefühlt." (S. 16) "Ich löste mich auf und wurde zu Wasser..." (S.20) "Das einzige Mal, dass ich das Wort "auslöschen" gehört hatte, war in einem Dokumentarfilm über die Dinosaurier gewesen. Nach ihrer Auslöschung war nichts von ihnen übriggeblieben, nicht mal ihre Jungen." (S. 24) Ich könnte endlos weiterzitierten. Ein ganz starker Start in den Roman.

Der erste Abschnitt April 1992/Flucht gibt vor allem indirekte Informationen über den Jugoslawienkrieg. Es ist eher der emotionale Gehalt, der einem mit aller Brutalität bewusst wird. Die Härte, mit der alle wehrfähigen Männer (und eigentlich noch Kinder, 12 Jahre ist ja weit weg von Erwachsen) im Land gehalten werden, das Eingesperrtsein auf engem Raum, mit dem die Flucht von Grund auf verhindert werden soll, die Bedrohung durch die Milizen und die damit einhergehende Willkür, die dauerhafte Traumatisierung durch das Grundgefühl der Angst, das immer mitschwingt. Was mich sehr berührt hat, ist die Unmöglichkeit, Kindern den Krieg zu erklären als das, was er ist - und somit von einer Lüge in die nächste zu schlittern, was dazu führt, dass Kinder, in diesem Fall Aida, ihren Eltern nicht mehr glauben, ein Vertrauensverlust, der immer weitreichende Konsequenzen hat. Ich fand die Beschreibung auf der ersten Seite ganz toll, denn irgendwie gilt sie für alle Menschen, nicht nur für Kinder - wer kann sich Krieg schon vorstellen?: "Wir wussten nicht, was Krieg war, für uns war er nur ein geflüstertes Wort, das die Macht besaß, die Erwachsenen unsicher und böse werden zu lassen." Auch sehr deutlich wurde für mich, wie der Krieg jegliche Individualität aufhebt und den Menschen in eine Masse umformt, eine Funktion. Angesichts des aktuellen Ukrainekriegs, der teilweise durchaus ähnliche Züge hat, sind diese Gedanken sehr bedrückend.

Im zweiten Abschnitt, 1992/1993/Die Familie zieht mit der Geburt von Ibro auch das Thema "Geschwister" in den Roman ein. Ich hatte mich schon davor gefragt, wie es wohl sein muss, wenn ein Geschwisterkind Krieg, Flucht und alte Heimat am eigenen Leib erlebt hat und erinnert und das andere nicht. Beide sind zwar Teil derselben Familie, wachsen aber unter so unterschiedlichen Voraussetzungen auf, das stelle ich mir schwierig vor. Zumal die Eltern sich zunehmend so traumatisiert zeigen, dass hier wenig Unterstützung vorhanden ist: Der Vater, der immer aggressiver und gewaltvoller wird, weil er keine Lösung für all die Probleme finden kann und die Mutter, die sich immer weiter zurückzieht und apathisch schweigt, keine Liebe mehr geben kann. Beide Eltern erzeugen wirklich heftige und gewaltvolle Momente in ihrer Hilflosigkeit. Es muss furchtbar sein, als Kind so aufzuwachsen, wenn man noch dazu selbst auch Traumatisierungsspuren trägt. Auch da findet Carati wieder tolle Worte: "Samir und ich nannten das ihre "Bosnitis" (S. 95), weil wir dachten, die hätte Heimweh." Die Familie zeigt ansonsten erstaunlich wenig Anpassungsprobleme, verdrängt aber mehr oder minder erfolgreich durchweg, dass der Krieg noch länger dauern kann. Immer wieder wird das Hier und Jetzt als Provisorium angesehen, wird beschworen, dass man zurückgehen wird. Das macht es schwierig anzukommen und sich weiterzuentwickeln.

Bedrückend, wie sehr der Krieg auch zehn Jahre später noch das Leben der Familien bestimmt. Sehr plastisch wird für mich beschrieben, wie absurd die recht willkürliche Neuaufteilung in neue autonome Länder ist - mit weitreichenden Konsequenzen für die Bevölkerung, die entwurzelt wird und neu zugeordnet, was auch zu extremem Misstrauen unter Menschen führt, die früher alle zusammen an einem Ort gelebt haben. Sehr klar zusammengeführt in einem Dialog zwischen Großmutter und Soldaten: "Das hier ist ein serbisches Dorf", hatten die russischen Soldaten gesagt, als sie zusammen mit den UNO-Blauhelmen gekommen waren. "Muslime können hier nicht mehr bleiben." (...) An der Spitze der Gruppe hatte meine Großmutter laut gesagt: "Geht mal auf den Friedhof, wenn dort auch nur ein einziges christliches Kreuz steht, dann ist das Dorf serbisch." Alle Grabsteine waren muslimisch. Der Krieg war zu Ende, die Grenzen waren wiederhergestellt worden, und uns hatte man zu Fremden in unserem eigenen Dorf gemacht. (S. 113) Die daraus abgeleiteten Gedanken, dass man nun für immer im Exil ist und seine Heimat verloren hat, dass sie nicht wieder herstellbar ist, finde ich zutiefst schmerzhaft. Verrückt, wie die Elterngeneration dann dennoch weiter an einer Rückkehr klammert und sich einfach nicht neu in Italien zuordnen und einleben kann. Ein Leben auf gepackten Koffern, mit einer ständig aufgeklappten Schere im Herzen.
Carati schildert all dieses so dicht und emotional stark und mensch ist durchgehend sehr berührt von allen Figuren. Es fühlt sich an, als wären sie alle in Schraubzwingen gepresst, beim Lesen oft kaum auszuhalten. Man wünscht ihnen allen so sehr Luft unter den Flügeln. Der, der scheinbar am besten mit allem klarkommt, ist Ibro. Und doch gibt es auch in ihm immer wieder eine Unruhe und eine überschießende Kraft, die zeigt, dass auch in ihm etwas brodelt. Ein Satz, der für mich einfach alles beschreibt: "Ich hielt mich auf Abstand zu allem, als wäre meine Haut zart und dünn wie nach einer Verbrennung." (S. 141) Dauerhafte Vorsichtigkeit. Wie ein Hase auf offenem Feld.
Der letzte Abschnitt bringt noch einmal eine starke Wendung mit sich, die ich hier auf keinen Fall spoilern möchte. Was ich aber noch sagen kann: Fertig mit dem Buch und auch ein bisschen fertig mit der Welt war für mich im letzten Abschnitt sehr eindrücklich, dass es einfach nie ein vollkommenes Ankommen in der neuen Welt gibt. Aida macht eigentlich eine Vorzeigeintegrationsgeschichte durch und dennoch verfolgt sie bis zum Schluss der Krieg, das Trauma, die Zerrissenheit. Wie muss es sein, immer aus einem empfundenen Defizit heraus zu leben (und sich zeitgleich immer schuldig zu fühlen und das Gefühl zu haben, aus allem das Maximum rausholen zu müssen, denn man hat es ja herausgeschafft, anders, als viele andere)? "Ich fand, mir stehe für das Leben, welches mir das Schicksal beschwert hatte, eine Entschädigung zu..." (S. 182) "Sie hatte geglaubt, ihr Opfer werde mich retten, aber niemand kann einen anderen retten. Ich musste einfach nur lernen, in mir selbst Frieden zu finden." (S. 280)
Alle Wege führen letztlich immer wieder zurück nach Bosnien, für die ganze Familie schließt sich dort immer der Kreis. Die Heimat lässt sie nicht los.
Auch in diesem letzten Abschnitt ist der Krieg präsent, wie eine mahnende Wolke, die über allem schwebt und sich nie richtig auflöst. Vor allem aber erscheint der Krieg hier auch als Erblast, als etwas, aus dem man als Sieger:in im neuen Leben hervorgehen muss: "Wir waren seine geliebten Enkelkinder, die den Krieg und die Armut überlebt hatten, und die er sich immer aus der Ferne vorgestellt hatte." (S. 260) Dieser Druck auf einer Generation, für die die Eltern alles aufgegeben haben. Wie kann man dem standhalten?
Das Buch hat für mich bis zum letzten Satz einfach alles eingehalten, was ich mir von einem Buch nur wünschen kann. Sprachlich einfach ganz besonders ausgezeichnet, durchweg zutiefst berührend, eine so kluge Geschichte über das, was Kriege EIGENTLICH auslösen, in uns, in den Menschen, im Miteinander, wie weitreichend die Folgen über Generationen hinweg sind, ich bin auf eine sehr gute Art vollkommen zerstört 5-Sterne-deluxe, ich würde gerne 6 Sterne geben können. Einzig die einleitenden Zitate vor den Abschnitten hätte ich nicht gebraucht. Sie geben für mich nichts dazu, das ist so ein komisches Dekor, das gegen den Roman sowieso nur abfallen kann. Und wenn ich mir etwas für die nächste Auflage wünschen dürfte, wären das noch ein paar mehr Begriffserläuterungen. Aber das sind Marginalitäten angesichts dieses wirklich großen Wurfs. Ich hoffe, wir werden noch ganz viel von Alessandra Carati zu lesen bekommen.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den nonsolo Verlag für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.03.2024

Einfach mal Abstand gewinnen

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
0

>Mein ziemlich seltsamer Freund Walter

>Mein ziemlich seltsamer Freund Walter<, getextet von Sibylle Berg und illustriert mit den wundervoll ironischen Zeichnungen von Julius Thesing, erschienen 2024 im Fischer Verlag, lässt uns zusammen mit Frau Berg durch den Vorhang schauen, hinter dem sich eine ganz spezielle Welt verbirgt. Gemeinsam mit extraterrestrischen Lebensformen werfen wir einen Blick darauf, was wir Menschen hier auf Erden so treiben und aber hallo! Da geht es ja schon ganz schön komisch zu („Komisch“ zum Glück auch im Sinne von Humor, der etwas schwärzere ist hier gemeint, aber sonst wäre es ja auch nicht Sibylle Berg, die da schreibt und manche Dinge: Die sind auch nur mit schwarzem Humor gut zu ertragen und zu erzählen.).
Denn auf der Erde gibt es Menschen wie Lisa, die wir wohl zu den sogenannten „sozial Benachteiligten“ zählen würden, denn Lisa ist neun Jahre alt, und ihre Eltern sind arbeitslos, was sie offenkundig in einen depressiven Zustand versetzt hat, aus dem sie nicht mehr herausfinden, was Lisa wiederum in einen Zustand der Verwahrlosung versetzt, da sich niemand mehr um sie kümmert. Zum Glück oder auch dummerweise gehört Lisa wohl auch zu den sogenannten „besonders begabten“ Menschen, so dass sie pfiffig genug ist, nach und nach alles aus der Wohnung zu verkaufen und so genug zu essen zu haben, stark genug, um irgendwie das Mobbing in der Schule auszuhalten, weil sie anders ist als andere („Die meisten Menschen mögen nicht, was irgendwie anders aussieht, und Lisa sieht anders aus als die meisten.“) und auch noch gut in der Schule sowie resilient genug, um das Mobbing auf dem Nachhauseweg auszuhalten, welches gar keinen besonderen Grund hat, außer die Langeweile der anderen Teenager. Und noch viel mehr zum Glück hat Lisa eine Obsession: Das Weltall. Und ganz besonders: Die extraterrestrischen Lebensformen. Denn wenn mensch schon die Menschen auf der Erde nachvollziehbar unerträglich findet, dann könnte doch ein Freund, ein guter Freund vielleicht im All zu finden sein?
Da Lisa, wir erinnern uns, nicht nur besonders benachteiligt, sondern auch besonders begabt ist, hat sie sich ein Außerirdische-Bewegungen-Finde-Programm geschrieben und ist deshalb am Platz, als die Außerirdischen auf der Erde landen. Ich möchte nicht verraten, in welcher Form das geschieht, weil es, wie alles an diesem Buch, einfach viel zu herrlich, kreativ, einzigartig, witzig und wundervoll ist. So viel aber kann verraten werden: Plötzlich ist ein Walter in der Welt und wo ein Walter ist, da kommt auch eine Menge über die Erde ans Tageslicht: „Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen.“ Okay, der Dude hat eine Latzhose an, vollkommen unpassend für einen Außerirdischen im 21. Jahrhundert, und er heißt „Klakalnamanazdta“. Da versteht sich schon von selbst, dass man ihn in Walter umbenennt und zur Sicherheit erstmal mit nach Hause nimmt. Wir würden das alle so machen, oder? Falls ihr jetzt denkt „öh, würde ich nicht“ – dann ist das auf jeden Fall ein Fehler. Denn so ein Walter, der räumt auf mit eurem Leben, und da ist am Ende auch ganz egal, ob das ein bisschen zu fantastisch ist. In liebevoller Form erzählt uns Berg davon, wie wir die Dinge manchmal von außen Betrachten müssen und uns einen Ruck geben, damit Bewegung reinkommt – auch wenn es schwer oder unmöglich scheint. Und wie wir unsere Energie aufteilen sollten und nicht verschwenden auf das Unveränderbare, sondern nutzen für das Veränderbare.
Das hat so viel Humor und ist von Thesing mit so vielen Details geschmückt, dass mensch mit einer irrsinnig gewärmten Seele am Ende des Buches in den Himmel schaut und denkt: „Nochmal!“
Ist das ein Buch für Kinder? Unbedingt! Ist das ein Buch für Erwachsene? Noch viel unbedingter!! Sollte jeder Mensch dieses Buch lesen? Aber sowas von!!!

Ein großes Dankeschön an vorablesen.de und den Fischer Verlag für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.03.2024

Ein großes Plädoyer, genau darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten

Malnata
0

„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das ...

„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das geprägt von Mussolinis Faschismus und extrem patriarchalen Katholizismus war: Keine gute Zeit für unangepasste Frauen. Oder Mädchen. (Props an die Autorin gehen raus, dass sie auch sichtbar macht, wie sehr auch die Männer in diesem System gefangen sind und ihre toxische Männlichkeit sich gegen sie richtet.) Francesca und Maddalena (La Malnata) sind dabei als Protagonistinnen zunächst scheinbar so unterschiedlich wie es nur sein kann – doch je näher wir beiden im Verlauf des Buches kommen, desto klarer schält sich ein gemeinsamer Kern heraus. Beide suchen schon verzweifelt ihre Identität, kämpfen und Sichtbarkeit, Autarkie und die Abgrenzung von geltenden Rollenbildern.
Das Buch startet mit einer sehr gewaltsamen Szene, derentwegen ich dem Verlag dringend ans Herz legen möchte, eine Triggerwarnung voranzustellen, da der Klappentext einem nicht wirklich einen Hinweis darauf gibt, dass so etwas einen erwarten könnte – und es gibt viele Menschen, die in Buchläden mal eben in die ersten paar Seiten hineinlesen. Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
Die Themen sind sofort auf dem Tisch: Maddalena, die Unangepasste, wird mit vielen ausgrenzenden Attributen belegt: Malnata, die Unheilbringende, die Hexe, die dir den Tod einhaucht – was sonst soll man auch zu einem Mädchen sagen, dass große Verbrechen begeht: Die Beine zeigen, mit Jungs abhängen, am Fluss spielen, einfach weil sie es will, nicht in die Kirche gehen, mutig sein, sagen, was sie denkt, Kirschen klauen, wenn man sie nicht bezahlen kann, Menschen in die Augen sehen. Es ist eine Welt, in der Jesus und Gott alles sehen und Kinder mit dem Glauben aufwachsen, bloß keine Fehler machen zu dürfen. Nicht nur die Mädchen. Auch die Jungs. Die werden tendenziell eher verprügelt, Mädchen wird neben den Schlägen noch das Gefühl von Scham und Schande eingebleut. Und auch wenn die Geschichte in Monza in der Lombardei spielt, eine Stadt, die deutlich größer ist, als sie sich im Buch anfühlt, so sind viele Reste dieses Denkens genau so auch heute noch immer im gesellschaftlichen Denken überall vorhanden. „Die Welt bestand aus Regeln, die man nicht übertreten durfte.“ Daran hat sich nichts geändert, manchmal denke ich fast, es ist auf eine perfide Art schlimmer geworden, weil die Regeln gläsern geworden sind: Nicht mehr zu sehen, aber doch vorhanden, und trittst du hindurch, dann läufst du auf Scherben. Bedrückend fand ich zu lesen, wie die Ich-Erzählerin sich durch ihren Bruder so sehr verdrängt fühlt, dass sie keine Trauer empfindet, als er stirbt, sondern nur Erleichterung. Eingeengt in eine Welt, in der sie zwar irgendwie behütet aber auch sehr eingesperrt aufwächst, ist es bedrohlich, ihr bei ihren ersten Schritten in die Freiheit mit Maddalena zuzuschauen, da schon klar ist: Dafür wird sie bezahlen. Die bildgewaltige Sprache der Autorin und ihr atmosphärischer Schreibstil ziehen die lesende Person intensiv in die beschriebene Welt.
Im weiteren Verlauf übernehmen Faschismus und Katholizismus eine immer tragendere Rolle, das Leben der beteiligten Menschen spitzt sich immer weiter zu und die Charaktere kreisen schwerpunktmäßig viel um sich selbst, was nicht unbedingt zu Empathie führt – nicht bei ihnen und auch nicht bei mir als Leserin. Auch wenn sehr deutlich wird, woher die Wunden und Verhaltensmuster kommen – so ist doch nicht immer nachvollziehbar, warum die Figuren nicht den Schritt schaffen, sich anders als gewaltvoll zu verhalten. Es ist eine Welt der Sublimation, die hier beschrieben wird, schriftstellerisch durchgehend brillant, vom Plot her zunehmend leider konstruiert. So geht dem Buch für mich, nach einer starken, sehr berührenden ersten Hälfte im letzten Drittel leider etwas die Luft aus. Dennoch wird einem die beschriebene Zeit so lebendig nahgebracht und ein so starkes Bild über Menschen gezeichnet, die alle in Ideologie feststecken und sich nicht aus diesem Gefängnis befreien können, dass ich nur ans Herz legen kann, sich diesem Buch auszusetzen. Identität hat auch viel mit Zuschreibungen zu tun. Indirekt ist „Malnata“ ein großes Plädoyer, genauer hinzusehen und darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten. „Worte sind gefährlich, wenn man sie gedankenlos ausspricht.“

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.02.2024

Kontrastreiche Frauenleben

Die Halbwertszeit von Glück
4

„Die Halbwertszeit von Glück“ von Louise Pelt besticht zunächst durch ein wirklich wunderschönes Cover und einen haptisch besonders schönen Schutzumschlag, so dass man dieses Buch gar nicht mehr aus der ...

„Die Halbwertszeit von Glück“ von Louise Pelt besticht zunächst durch ein wirklich wunderschönes Cover und einen haptisch besonders schönen Schutzumschlag, so dass man dieses Buch gar nicht mehr aus der Hand geben möchte. Das trifft tatsächlich auch auf das Leseerlebnis zu, den Pelt verschachtelt wirklich geschickt die Lebensgeschichten von drei sehr unterschiedlichen Frauen und lässt die Leser:innen lange rätseln, wie genau die Verbindung der Frauen ist. Johanna lebt 1987 in der DDR, Mylène 2019 in Paris und Holly 2003 in Los Angeles: Alle drei Frauen sind dabei, jede auf ganz verschiedene Art, auch mit dem Thema Glück verbunden, was sich im Verlauf des Romans immer weiter aufschlüsselt. Dieser nimmt seinen Ausgang in einer Vorgeschichte im dritten Reich, die sehr berührend ist und in die Geschichten der drei Frauen hinein strahlt.
Im Roman lernen wir also drei, laut Klappentext starke, Frauen kennen, Johanna, Mylène und Holly – und da kommen wir auch schon zum Problem des Buches: Johannas Geschichte ist unglaublich stark erzählt, sie zieht einen total in den Bann, ist emotional stark und in sich schlüssig und zeichnet einen vielschichtigen, starken Charakter. Lebendige Sprachbilder, tiefgründige Sätze, hochgradig spannende Situationen und viel Historie der ehemaligen DDR – hier hat das Buch alles, was es für fünf Sterne braucht. Die anderen beiden Frauen dagegen sind leider sehr klischeehaft und überdramatisch gezeichnet, es gibt eine Menge Unwahrscheinlichkeiten und unlogische Handlungen, so dass ich hier zunehmend die Lust verloren habe, diesen Menschen weiter zu folgen. Dieser starke Kontrast macht es nahezu unmöglich, das Buch einzuordnen. Für die Johanna-Geschichte gibt es eine unbedingte Leseempfehlung, packend, berührend, herausfordernd, wirklich toll! Aber die anderen beiden Frauen und ihre Geschichten sind Louise Pelt leider nicht geglückt. Am Ende immerhin schafft sie es, mit dem Ausgang der zusammengeführten Geschichten, mit einer wirklich genialen Einbindung des Buchtitels und der Verbindung zwischen den Frauen noch einmal wirklich zu überraschen. Und vor allem der Schreibstil hat mich doch immer wieder sehr mit dem Roman versöhnt, denn dieser ist wirklich herausragend, die kurzen Kapitel machen das Lesen auch sehr leicht und binden einen an das Buch. Nicht zuletzt auch stark das Fazit über das Glück, mit dem ich viel anfangen kann: „Das Glück mag vergehen, es lässt sich nicht festhalten, aber es ist kein Einzelgänger. Wenn ein Glück geht, kommt ein neues – nicht sofort vielleicht, aber irgendwann.“ Ich hoffe, Pelt traut sich im nächsten Buch mehr an Charaktere wie Johanna heran – dann werde ich ein Fan. So reicht es leider im Mix nur für 3 oder 3,5 Sterne. Danke für das wirklich wunderschöne Rezensionsexemplar.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 04.02.2024

Klein aber oho – eine reale Bedrohung: Rasanter Wissenschaftsthriller mit Konditionsproblemen

Der Stich
8

Der Stich“ von Thilo Winter ist ein hervorragend recherchierter Wissenschaftsthriller, dem leider im letzten Drittel die Luft ausgeht.
Direkt auf dem Höhepunkt der Handlung einsteigend, lernen wir schnell ...

Der Stich“ von Thilo Winter ist ein hervorragend recherchierter Wissenschaftsthriller, dem leider im letzten Drittel die Luft ausgeht.
Direkt auf dem Höhepunkt der Handlung einsteigend, lernen wir schnell alle Prota- und Antagonist:innen kennen. Auf der Flucht von Kuba in die USA landet Inéz nach einer wilden Überfahrt in Key West, wo sie prompt auf Quito Mantezza, einen Studenten der Meeresbiologie, trifft, der sich gegen Freilandversuche mit genmanipulierten Mücken einsetzt. Zurecht, wie schnell festzustellen ist, denn diese Mücken entwickeln sich in Freiheit gesetzt weiter zu wahren Mordinstrumenten, die alle Lebewesen um sie herum vernichten werden, wenn sie nicht wieder unter Kontrolle kommen. Die illegale Flucht aus Kuba gibt uns einen spannenden, immer aktuellen Zeitbezug, der später durch gut recherchierte Einsprengsel wie die real gewesene „wet feet, dry feet policy“ untermauert wird. Dass der politische Hintergrund nicht nur ein fiktiver ist, sondern in der Realität verwurzelt ist, macht das Buch super aktuell, ebenso wie viele, wirklich hervorragend recherchierte wissenschaftliche Fakten in Hinblick auf die Mücke, dieses unscheinbare Insekt, über dass wir alle uns viel zu wenig Gedanken machen – hier kommt mensch nicht daran vorbei, dem nächsten Sommer mit ganz neuer Sorge entgegenzusehen. Winter führt die Handlung im Verlauf des Buches souverän und ist ein Meister im Herstellen von sehr lebendigen Settings und Beziehungen. Sehr klar schafft er Sympathien und Antipathien, führt komplexe Handlungsstränge parallel und hält die Spannung durchweg hoch. Leider kommt es aber auch immer wieder zu vollkommen unplausiblen, sehr konstruierten Situationen, wirklichen Fehlern in der Continuity des Storytellings und sehr plakativen Typisierungen. Ebenso stehen extrem gelungene Sprachbilder Sätzen gegenüber, bei denen mensch sich kurz fragt, ob das Buch schlecht übersetzt ist – bis wieder einfällt, dass Thilo Winter ein deutschsprachiger Autor ist. Und nach einem fulminanten Ritt durch eine wirklich brisante Geschichte, verliert Winter am Ende leider ganz die Zielung und löst den Thriller hektisch mit einer Nacherzählung auf, die alle Erwartungen enttäuscht und sich endgültig in Klischees verliert – eine relative unbefriedigende Auflösung. Immerhin werden noch viele Kreise noch geschlossen. Dieses Finale ist sehr schade, weil das Thema an sich und die Gestaltung insbesondere des ersten Drittels des Thrillers sich absolut im 4-5-Sternebereich bewegt. Hier wünsche ich dem Autor für das nächste Schreibprojekt mehr Zeit und mehr Seiten, die Grundkonstruktion des Thrillers bietet hier viel Hoffnung auf noch viel mehr (und zum Glück gibt es ja einen kleinen Cliffhanger am Ende – Fortsetzung garantiert?). Dennoch gibt es aufgrund der Themenwahl und den wirklich elegant eingebetteten, ausgezeichnet recherchierten Fakten bei allen Abstrichen eine klare Leseempfehlung.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Spannung