Eiskaltes Herz
12 Grad unter NullEine Dystopie auf weniger als 150 Seiten. Wer daran zweifelt, dass das möglich sein soll, wird von Anna Herzig mit "12 Grad unter Null" eines Besseren belehrt. Im kleinen Land Sandburg wird ein revolutionäres ...
Eine Dystopie auf weniger als 150 Seiten. Wer daran zweifelt, dass das möglich sein soll, wird von Anna Herzig mit "12 Grad unter Null" eines Besseren belehrt. Im kleinen Land Sandburg wird ein revolutionäres Gesetz verabschiedet. Männer dürfen nun von den Frauen in ihrem Leben, egal ob es die Mütter, Töchter, Ehefrauen oder Ex-Freundinnen sind, nach ihrem eigenen Gutdünken die Rückzahlung von Schulden fordern. Die schwangere Künstlerin Greta und ihre entfremdete Schwester Luise trifft diese Entscheidung ins Mark.
Die Erzählung erinnert an eine Parabel, weniger an einen Roman. Ein Gleichnis in "kafkaesker" Sprache, das sich einem Land und einer einzelnen Familie bedient, um verschiedene Aspekte eines modernen Patriarchats zu entlarven. Das sind die Frauen, die offensichtlich physisch erniedrigt werden, diejenigen, die nicht wertvoll genug sind und diejenigen, die instrumentalisiert und gegeneinander ausgespielt werden. Und da ist die allgegegnwärtige Lüge, die besagt, dass Mann das Recht auf seiner Seite hat.
Der Text liest sich wie ein düsteres Märchen. Die Metaphorik von Suppenlöffeln und Frauenknochen wird benutzt, um versteckte Wahrheiten in schneidende Bilder zu übersetzen. Anfangs liest sich das fremdartig. Man versteht nicht alle Details auf den ersten Blick. Während sich jedoch in Sandburg die Temperatur immer weiter dem Gefrierpunkt annähert, lichtet sich der Nebel und die einzelnen Fragmente der Geschichte, setzen sich langsam zu einem Mosaik zusammen. Diese Mosaik erschreckt und verstört gleichermaßen, verpasst es aber nicht, deutlich zu machen, dass zwischen all den Scherben, immer auch ein bisschen Hoffnung verborgen liegt. "12 Grad unter Null" ist eine scheinbar dystopische Geschichte, von der man sich fragen muss, inwiefern die Kategorisierung "dystopisch" tatsächlich zutreffend ist. Es handelt sich für mich nicht um eine ausgereifte Dystopie. Dazu bleiben innerhalb der Welt von Sandburg zu viele strukturelle Fragen offen. Das Szenario ist nicht vollständig ausgereift, bzw. zu Ende erzählt. Beim Lesen wird mir immer wieder eiskalt. Das Buch macht allerdings deutlich, dass ein starkes Herz selbst jenseits der Null-Grad-Marke noch schlägt.
Fazit:
"12 Grad unter Null" ist ein sehr eindrücklicher, eigenwilliger und mutiger Text, der seine Finger unerschrocken in zahlreiche Wunden legt. Es handelt sich um ein Buch, das zum Nachdenken anregt und im Gedächtnis bleibt, lange nachdem man es zur Seite gelegt hat. Der Autorin ist es gelungen, eine kluge und tiefgreifend durchdachte Geschichte zu schreiben, deren Bilder auf mehreren Ebenen funktionieren und die viel Raum zur Interpretation zulässt. Dabei bleibt diese Geschichte letztendlich keineswegs zu wage, sondern schiebt die Lesenden, ohne ihre Geheimnisse zu offensichtlich aufzudecken, mit der Nase voran genau dahin, wo es wehtut.