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Veröffentlicht am 14.03.2023

Melancholie, und immer wieder diese Melancholie

Morgen, morgen und wieder morgen
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„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist wahrscheinlich eines der meist gehyptesten Bücher aus dem vergangenen Jahr. Selten habe ich so viele begeisterte Stimmen zu einem Roman gelesen. Am schwersten wiegt ...

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist wahrscheinlich eines der meist gehyptesten Bücher aus dem vergangenen Jahr. Selten habe ich so viele begeisterte Stimmen zu einem Roman gelesen. Am schwersten wiegt für mich die Aussage „Donna Tartt mit Videospielen“. Zugegeben: Da ist was dran!
Es geht um Freundschaft. Um die Freundschaft zwischen Sadie und Sam, die anfangs Kinder sind, dann Heranwachsende und schließlich Erwachsene. Das erste Aufeinandertreffen erfolgt in einem Krankenhaus. Sadies Schwester hat Krebs und Sam erholt sich dort gerade von einem schweren Verkehrsunfall, dessen Folgen sein weiteres Leben prägen werden. Nach einem ersten Vertrauensbruch verlieren sich die beiden für Jahre aus dem Augen, nur um als Studierende wieder zusammenzufinden und eine gemeinsame Firma zu gründen. „Unfair Games“ entwickelt Videospiele, die zu globalen Hits werden. Doch die Freundschaft von Sadie und Sam bleibt trotz aller Erfolge von Missverständnissen und gegenseitigen Verletzungen durchzogen.

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist nicht nur ein Buch über Freundschaft, sondern auch eine Geschichte über die Entwicklung eines Genres der Unterhaltungsindustrie, ein Roman über die Neunzigerjahre, über den ganz großen American Dream und über die amerikanische Gesellschaft in ihren Extremen. Trotz des Umfangs scheint keine Seite zu viel. Scheinbar mühelos verflechtet Gabrielle Zevin die Handlung mit prägende Themen unserer Zeit. Es geht um Rassismus, Ableismus, Sexismus, Genderkampf und vieles mehr.
Außergewöhnlich ist dabei die Art des Erzählens, für die sich die Autorin entscheidet. Es ist ein virtuoses Springen zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Begebenheiten werden an entscheidenden Stellen unterbrochen und später dann auf einer anderen Zeitebene zu Ende erzählt. Das habe ich in dieser Form bei all den Büchern in meinem Regal noch nicht gesehen.
Dabei werden ambivalente und widersprüchliche Charaktere gezeichnet, deren Handlungen nicht immer nachvollziehbar, aber schrecklich menschlich erscheinen.
Die Freundschaft zwischen Sadie Green und Sam Masur bildet den emotionalen Kern des Romans und gleichzeitig ist diese Emotion mein einziger Kritikpunkt. Die Missverständnisse und die Kränkungen, die sich die beiden Protagonisten gegenseitig zufügen, sowie die daraus resultierenden Phasen der Funkstille, ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre gemeinsame Geschichte und überwiegen die guten Zeiten. Gewissermaßen habe ich kaum etwas von diesen guten Seiten gelesen, sodass ich rückblickend nicht richtig auf persönlicher Ebene nachvollziehen konnte, was diese Freundschaft so tief und die Gefühle so stark macht.
„Morgen, morgen und wieder Morgen“ ist atmosphärisch geprägt von einem Gefühl der Melancholie und des Weltschmerzes. Nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, habe ich mich gefühlt, als würde ich auf mein eigenes Leben zurückblicken, und irgendetwas schmerzlich bereuen. Man wartet beim Lesen die ganze Zeit darauf, dass es irgendeine Form von glücklichem Zusammensein für alle Personen gibt, aber die Geschichte ist so groß und so umfangreich. Ähnlich wie das richtige Leben. Nach jedem Hoch gibt es hier ein Tief und so schlittert man mit den Protagonisten von einem Schicksalsschlag durch die Jahre bis hin zum nächsten.

Ich denke über „Morgen, morgen und wieder morgen“, dass es sich ein aus der Masse herausstechendes Buch handelt. Eines, wie es sie nur alle paar Jahre mal gibt. Das die Fähigkeit hat, über zahlreiche Seiten hinweg Lesende in seine Welt einzusaugen und das das Zeug zum Klassiker der amerikanischen Literatur hat. Gehört es zu meinem persönlichen Lieblingsbüchern? Tatsächlich nein. Dazu habe ich die Freundschaft von Sadie und Sam zu wenig gespürt, dazu hätte ich tiefer emotional in diese Freundschaft involviert sein müssen. Werde ich es irgendwann nochmal lesen? Ganz bestimmt. Weil ich nicht glaube, dass einmal reicht, um diese Geschichte vollständig zu erfassen.

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Veröffentlicht am 28.02.2023

Frauen aber doch

Männer sterben bei uns nicht
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Inhalt:
Luise wächst auf dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Großmutter auf. Ein Grundstück am Fluss, wo regelmäßig die toten Körper von Frauen angespült werden, die ins Wasser gegangen sind. Als die Großmutter ...

Inhalt:
Luise wächst auf dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Großmutter auf. Ein Grundstück am Fluss, wo regelmäßig die toten Körper von Frauen angespült werden, die ins Wasser gegangen sind. Als die Großmutter stirbt und die Familie mit ihr ihre Matriarchin verliert, kommen nach und nach alte Geheimnisse an die Oberfläche.

Meine Meinung:
Es fällt mir schwer den Inhalt der Geschichte auf den Punkt zu bringen, da ich mir unschlüssig darüber bin, ob ich die Kernaussage erfasst habe, bzw. ob es überhaupt eine Kernaussage gibt. "Männer sterben bei uns nicht" handelt von einer Familie aus sonderbaren Frauen, in der alle Männer abwesend sind. Das Setting ist ebenso sonderbar, wie die Protagonistinnen. Der Juwelenschmuck der Großmutter und das prunkvolle Anwesen spielen atmosphärisch eine übergeordnete Rolle. Das hat mir sehr gut gefallen. Andererseits wirken die Szenen, die erzählt werden, oft unwirklich, fast ein bisschen grotesk. Manchmal habe ich mich gefragt, ob hier gerade eine Metapher im Text steckt, die ich nicht erkenne. Viel (vielleicht zu viel) bleibt zwischen den Zeilen. Manches wird angedeutet, aber in letzter Konsequenz nicht zu Ende erzählt.
Die Geschichte bringt definitiv eine gewisse Spannung mit sich. Man möchte wissen, was es mit den Frauenleichen auf sich hat und was mit Luises Schwester Leni passiert ist. Nicht alle Fragen, die sich im Laufe der Handlung auftun, wurden in meinen Augen zufriedenstellend beantwortet.
Der Text vermittelt eine beklemmende Stimmung. Man hat die ganze Zeit das Gefühl, dass da etwas unter der Oberfläche schwelt. Auf den Kern des Problems bin ich trotzdem nie gestoßen.
"Männer sterben bei uns nicht" ist ein Familienroman, also ein Roman über eine Familie, und über die Frauen einer Familie. Aber was diese Familie im Innersten bewegt, oder was die Grundproblematik in der Familie und im Leben der alles beherrschenden Großmutter ist, das will mir nicht so recht klar werden.

Fazit:
Im Bezug auf die Atmosphäre und den Schreibstil habe ich "Männer sterben bei uns nicht" sehr gerne gelesen. Das Buch hat mich gut unterhalten und ich hatte durchweg Lust es zu lesen. Inhaltlich ist es mir am Ende aber zu wage und zu substanzlos geblieben. Das Cover ist in meinen Augen eines der schönsten in diesem Frühjahrsprogramm. Vielleicht sogar das allerschönste. Ganz viel Lob an den Verlag an dieser Stelle!

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Veröffentlicht am 28.02.2023

Chef an Bord

In blaukalter Tiefe
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Mit "In blaukalter Tiefe" hat Kristina Hauff einen Spannungsroman geschrieben, der mich großartig unterhalten hat!

Der erfolgreiche Anwalt Andreas Keppler bucht eine Reise. Auf dem Schiff des Skippers ...

Mit "In blaukalter Tiefe" hat Kristina Hauff einen Spannungsroman geschrieben, der mich großartig unterhalten hat!

Der erfolgreiche Anwalt Andreas Keppler bucht eine Reise. Auf dem Schiff des Skippers Eric will er gemeinsam mit seiner Ehefrau Caroline zu den schwedischen Schären segeln. Sein Angestellter Daniel und dessen Partnerin Tanja werden auf Kosten der Kepplers ebenfalls eingeladen, an der Reise teilzunehmen. Doch das Vorhaben läuft nicht so wie geplant. Schon bald kommt es zu ersten Spannungen zwischen den beiden Paaren und ihrem Kapitän. Und als diese Spannungen immer weiter zunehmen, droht die Reise in einer Katastrophe zu enden.

Ich könnte an dieser Stelle anmerken, dass der Plan mit dem eigenen Chef in den Urlaub zu fahren, geradezu danach schreit, Unheil heraufzubeschwören. Im wahren Leben würde ich jedenfalls niemandem dazu raten. Bei "In blaukalter Tiefe" entsteht auf dieser Basis jedoch eine wirklich spannende Geschichte, die ich innerhalb eines Tages begonnen und beendet habe.

Im Nachhinein würde ich mir wünschen ich hätte das Buch an einem Urlaubstag im Strandkorb gelesen. Genau da sehe ich die Geschichte. Ich möchte gemütlich im Sonnenschein am sicheren Ufer sitzen, während auf der "Querelle" die Ereignisse unweigerlich ihren Lauf nehmen.

"In blaukalter Tiefe" ist eine Geschichte über wohlhabende, weiße, mittelalte Menschen, die verzweifelt versuchen die Fassade zu wahren, und darüber, wie brüchig eben diese Fassade ist, wenn man beginnt an ihr zu rütteln.
Die Art und Weise, wie die Atmosphäre von anfänglich fröhlich und freundlich über angespannt bis hin zur Eskalation immer dunkler wird, hat mir sehr gut gefallen. Die Protagonisten fand ich spannend und unterhaltsam, in manchen Momenten aber etwas zu stereotyp. Sympathisch war mir lediglich eine einzige der partizipierenden Personen, aber Sympathie braucht es für einen guten Roman ja nicht zwangsläufig.
Manchmal erklärt mir der Text etwas zu viel. Dadurch wird die eigentlich sehr dichte und spannungsgeladene Atmosphäre unterbrochen. Ich verstehe aber, dass es beim Schreiben nicht immer leicht ist abzuwägen, wann etwas zu wage ausgedrückt wird, und an welchen Stellen man den Lesenden ein bisschen Eigenleistung zutrauen kann.

In "In blaukalter Tiefe" gibt es verschiedene Handlungspunkte. Das heißt, es werden verschiedene kleine Konflikte erzählt, die sich immer weiter ausdehnen. Die Auflösung der Geschichte hat mir generell sehr gut gefallen. Ich mag den großen Knall am Ende (was soll ich sagen, I live for the drama), aber auch die Nachwirkungen der Reise fügen sich sehr stimmig in das Gesamtbild ein.

Fazit:
Eine große Empfehlung für "In blaukalter Tiefe". Es handelt sich um einen runden und mitreißenden Roman, perfekt geeignet für einen Tag am Meer, einen verregneten Sommertag oder jeden anderen Tag des Jahres, an dem man von einer Reise träumt (solange es nicht ein Segeltörn mit dem Chef sein soll!).

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Veröffentlicht am 14.02.2023

Romeo & James

Young Mungo
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Ich habe einige Rezensionen zur englischsprachigen Ausgabe von Douglas Stuarts "Young Mungo" gelesen, bevor ich mir meine eigene Meinung zum Buch bilden konnte. In Erinnerung geblieben, ist mir dabei vor ...

Ich habe einige Rezensionen zur englischsprachigen Ausgabe von Douglas Stuarts "Young Mungo" gelesen, bevor ich mir meine eigene Meinung zum Buch bilden konnte. In Erinnerung geblieben, ist mir dabei vor allem, dass sowohl von "einer queeren Version von West Side Story" als auch von "Ähnlichkeiten zu Ein wenig Leben" gesprochen wurde. Persönlich bin ich der Meinung, dass beides irgendwie richtig ist.

Es geht um Mungo, einen fünfzehnjährigen Jungen, der mit seiner Mutter und seinen älteren Geschwistern im armen East End von Glasgow aufwächst. Es gibt zwei Handlungsstränge, der eine zeigt die Gegenwart und der andere die unmittelbare Vergangenheit. In der Gegenwart wird Mungo von seiner Mutter dazu gedrängt zwei ihr bekannte Männer zu einem Campingausflug zu begleiten. Sie sollen ihm beibringen, wie man ein richtiger Mann ist. Der andere Handlungsstrang zeigt Mungos tristen Alltag in Glasgow, der von seinem gewalttätigen Bruder Hamish und seiner verantwortungslosen Mutter Maureen geprägt wird. Wie ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke bricht da Mungos aufkeimende Liebe zu dem Nachbarsjungen James. Eine Beziehung, die nicht sein darf, nicht nur weil sie homosexuell ist, sondern auch weil James Katholik ist und Mungo Protestant.

Es fällt mir schwer über dieses Buch zu sprechen, ohne zu viel zu verraten. Ich habe lange mit bestimmten Aspekten der Geschichte gehadert. Besonders im Bezug auf einen der beiden Handlungsstränge. Beim Lesen war ich noch der Meinung, dass hier schlimme Gewalt auf eine bestimmte Art und in einem bestimmten Kontext dargestellt wird, die so für die Geschichte nicht nötig gewesen wäre. Erst auf den aller letzten Seiten habe ich mich mit diesem Aspekt des Buchs versöhnt, weil er letztlich zu einem Ende beigetragen hat, das ich Weltklasse finde. Man merkt nicht nur an seinem einzigartigen Schreibstil, sondern auch an der raffinierten Komposition des Romans, dass Douglas Stuart ein herausragend guter Autor ist. Ich mochte die Ambivalenz in seiner Darstellung von Mungos viel zu junger und unglaublich verantwortungsloser Alkoholikerinnen-Mutter und seinem kleinkriminellen Schläger-Bruder. Solche Charaktere werden leicht zu zweidimensionalen Schablonen, das ist hier nicht der Fall.
Die Atmosphäre des Buchs ist sehr bedrückend. Die erste Hälfte konnte ich nur in kleinen Häppchen lesen. Es liest sich als würde man in Form eines elend langen Vorspiels ins Grauen laufen. In der Beziehung zwischen James und Mungo stecken die einzigen hellen Momente dieser Geschichte. Genau die haben mir aber wahnsinnig gut gefallen. Der Weg dahin hat mich allerdings gequält.
Nichtsdestotrotz komme ich zu dem Schluss, dass es sich um ein herausragend gutes Buch handelt, das richtig wehtut, aber auch wichtig ist. Das literarische Handwerk dahinter ist fantastisch, die Geschichte hat Wucht, die Emotionen können kaum kalt lassen.

Die deutsche Übersetzung ist ausgesprochen gut gelungen! Die Übersetzung des Glasweger Akzents finde ich herausragend. Bzgl. des deutschen Covers habe ich einige kontroverse Kommentare gelesen. Ich kann nur sagen, dass ich es großartig finde, weil es den Kern der Geschichte im besten Sinne aufgreift. Es zeigt ein Bild aus den Neunzigerjahren und das einzig Echte und Wahre in Mungos Leben, nämlich die Liebe und Zärtlichkeit zwischen ihm und James. Diese darf nur im Verborgenen stattfinden. Ich freue mich, dass sie auf diesem Buchdeckel im Jahr 2023 so plakativ nach außen gekehrt wird.

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Veröffentlicht am 14.02.2023

1/10

Macht
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Eine von zehn Frauen in Norwegen wird im Laufe ihres Lebens vergewaltigt. Liv, die Protagonistin in Heidi Furres Roman "Macht", ist diese große Eins in der Zehn. Die eine von zehn Frauen in der Umkleide ...

Eine von zehn Frauen in Norwegen wird im Laufe ihres Lebens vergewaltigt. Liv, die Protagonistin in Heidi Furres Roman "Macht", ist diese große Eins in der Zehn. Die eine von zehn Frauen in der Umkleide des Fitnessstudios, die eine von zehn Frauen in der Reihenhauszeile, die eine von zehn Frauen auf dem Elternabend. Livs Vergewaltigung liegt zum Zeitpunkt der Geschichte 15 Jahre zurück. Sie lebt mittlerweile das wohlsituierte Leben einer verheirateten Mutter von zwei kleinen Kindern. Der Ehemann arbeitet im Managementbereich, sie selbst ist Pflegerin und verrichtet sowohl beruflich als auch zuhause Care-Arbeit. Nach außen hin hat sie ihr Leben im Griff. Sie kümmert sich um die Belange der Familie, geht gewissenhaft ihrem Job nach, macht viel Sport und achtet stets darauf, gepflegt auszusehen und gut gekleidet zu sein. Doch in ihrem Inneren sieht es anders aus.
Liv hat nach wie vor mit den Nachwirkungen ihrer Vergewaltigung zu kämpfen. Ihre Gedanken kreisen täglich und nächtlich um das Ereignis. Sie versucht seit Jahren verzweifelt die Macht über ihren Körper und ihr Leben zurückzuerlangen. Indem sie sich beim Sport verausgabt, ihr Äußeres mit teuren Kleidern und Kosmetikartikeln schmückt und formt, sich verzweifelt an das Idealbild einer heteronormativen Familie klammert. Doch immer begleitet und verfolgt sie der Moment, in dem sie die Macht verloren zu haben scheint. Alltägliche Situationen können Krisen auslösen, sie ist eine Hülle, wirkt in der Innenansicht passiv und gefühlsgedämpft, aber gleichzeitig auch mutig und stark, während sie mit sich kämpft und versucht, das Geschehene in ihrem Bewusstsein zurückzudrängen.
Die Autorin beschreibt in kurzen prägnanten Paragraphen das Leben ihrer Protagonistin. Diese Form hat mir sehr zugesagt. Es gibt weder Kapitel noch eine klare Struktur. Die Absätze wirken eher wie Splitter oder Scherben eines Tages oder einer Situation. In ihnen geht es nicht nur um sexuelle Gewalt an Frauen, sondern auch um Ausbeutung und das weibliche Rollenbild. Es werden immer wieder Bezüge zu Kunst und Kultur, sowie zu gesellschaftlichen Kontroversen, genommen. Die #metoo-Debatte wird beleuchtet, aber auch Medienwerke, wie z.B. der Film "Thelma & Louise" oder der Roman "Die Wand" werden thematisiert. Manchmal durchbricht Liv sogar die Trennlinie und spricht die Lesenden direkt an. Das hat mir gut gefallen.
Nichtsdestotrotz ist es nicht leicht in Livs Kopf zu sein. Die Vergewaltigung prägt sie maßgeblich, sie kreist in Gedanken quasi ständig um dieses Ereignis. Tatsächlich bietet das Buch wenig entlastendes Gegengewicht zu diesem Thema. Positiv wahrgenommen habe ich allerdings Livs Wahrnehmung von anderen Frauen, die ich als schwesterlich und emphatisch wahrgenommen habe. Ihr Trauma geht jedoch so weit, dass sie glaubt, in den Gesichtern jener Frauen erkennen zu können, ob diese vergewaltigt worden sind.

"Macht" von Heidi Furre ist sicherlich keine leichte Kost. Es ist ein schweres, bedrückendes Buch, das eine schwere und bedrückende Wahrheit über unsere Gesellschaften erzählt. Die Geschichte spielt in Norwegen und könnte doch überall verortet sein. Ich bin ein großer Fan davon, dass solche Geschichten und Schicksale in der Literatur aufgearbeitet werden. Dass erzählt wird, wie es ist oder wie es sein kann, eine Frau zu sein. Dass von schönen Dingen und schönen Menschen erzählt wird, ohne dass es dabei eine schöne Geschichte zu hören gibt. "Macht" gelingt dies in einer Vielschichtigkeit und mit einem Nachhall, den man auf so wenigen Seiten kaum erwarten kann.

An dieser Stelle auch ein großes Lob an den Dumont-Verlag für die herausragend schöne optische wie haptische Gestaltung dieses Buchs. Beginnend beim Schutzumschlag bis hin zu den Schwerz-Weiß-Drucken auf den Innenklappen merkt man wie viel Liebe und Gedanken in diesen Roman geflossen sind. "Macht" ist wirklich ein Buchschatz. Trotz und wegen der Thematik.

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