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Veröffentlicht am 25.04.2022

Ein großes Buch, das große Leben

Dschinns
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Inhalt:

Ein ganzes Leben hat Hüseyin in Deutschland geschuftet, immer mit dem Ziel, sich eines Tages mit dem Geld eine eigene Wohnung in Istanbul leisten zu können. Nun endlich hat er sich seinen Traum ...

Inhalt:

Ein ganzes Leben hat Hüseyin in Deutschland geschuftet, immer mit dem Ziel, sich eines Tages mit dem Geld eine eigene Wohnung in Istanbul leisten zu können. Nun endlich hat er sich seinen Traum verwirklicht. Und dann stirbt Hüseyin einfach so. An einem Herzinfarkt, in eben dieser Wohnung. Zurück bleibt seine Familie. Ein zusammengewürfelter Haufen Menschen. Vier Kinder, mehr oder weniger erwachsen, und eine Ehefrau, die alle ihre eigene Geschichte zu erzählen haben.

Meine Meinung:

Ich habe Dschinns von Fatma Aydemir an einem einzigen Wochenende gelesen. Es ist ein Buch mit unglaublicher Sogwirkung und wird allein deshalb seinen zum Teil hymnischen Besprechungen gerecht. Hüseyin und seine Familie lassen einen Lesenden unmöglich kalt.

All die Hoffnungen, all die Träume, all die Missverständnisse, all das Ungesagte. Es tut weh, man leidet. Der Autorin gelingt es, eine emotionale Bindung zu ihren Figuren entstehen zu lassen.

Jede dieser Figuren hat in „Dschinns“ ihr eigenes Kapitel, in dem aus dem Leben dieser Figur erzählt wird. Immer wieder ein individueller Tonfall, eine individuelle Sprache, Gedankengänge und ein Schicksal. Dabei zeigt das Buch auf, inwiefern sich diese so unterschiedlichen Schicksale gegenseitig bedingen, ohne sich zu berühren. Wie das eben so ist in Familien: Man formt sich, auch wenn man es vielleicht nicht immer spürt.

Fatma Aydemir spricht in diesem Zusammenhang sehr viele Themen an, die in unserem aktuellen Zeitgeschehen von großer Relevanz sind: Rassismus, Sexismus, Feminismus, Emanzipation, Queerness, Polizeigewalt. Das wirkt dabei nicht aufgesetzt oder belehrend. „Dschinns“ erzählt einfach, eine Familie erzählt, und ich glaube, das ist die große Stärke dieses ganz besonderen Buchs, das aus der Masse der Neuerscheinungen hervorsticht.

Es hat mir wirklich ausgesprochen gut gefallen, diese Geschichte zu lesen und ich kann sie nur jedem wärmstens ans Herz legen. Einzig mit dem Ende habe ich gehadert. Das war mir irgendwie ein Schuss zu viel. Vielleicht ist es Melodramatik, vielleicht Konstruiertheit, vielleicht war ich auch bloß sauer, weil ich mir etwas anderes vorgestellt oder gewünscht habe. Immerhin waren da so viele Menschen in diesem Buch, denen ich wirklich alles Gute gewünscht habe. So wie man Freunden alles Gute wünscht.

Fazit:

„Dschinns“ ist auf so vielen Ebenen einzigartig und wichtig, nicht um sonst, eines der meist besprochenen Bücher der letzten Monate. Es gibt Menschen ihre Stimme, die in der Literatur im Alltag viel zu selten zu Wort kommen und ich finde, gerade dann ist Literatur häufig am besten. Wenn sie von denen erzählt, die sonst zu wenig gehört werden. In letzter Instanz, bleibt für mich ein Funken Bedauern, über die Ereignisse der letzten Seiten. Nichtsdestotrotz großes Kino.

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Veröffentlicht am 25.04.2022

Gedankensammlung

Zusammenkunft
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Inhalt:

Die namenlose Ich-Erzählerin ist eine Schwarze Frau, die sich in der Londoner Finanzwelt mit harter Arbeit nach oben kämpfen will. Die stetige Belastung ihrer Arbeit, ihre eigenen Ansprüche ...


Inhalt:

Die namenlose Ich-Erzählerin ist eine Schwarze Frau, die sich in der Londoner Finanzwelt mit harter Arbeit nach oben kämpfen will. Die stetige Belastung ihrer Arbeit, ihre eigenen Ansprüche an sich selbst und die zahllosen Mikroaggressionen, denen sie tagtäglich ausgesetzt ist, spaltet sie sich immer weiter von ihrem eigenen Selbst ab, nimmt ihre Umwelt nur noch von außen wahr. Als sie die Diagnose Brustkrebs erhält, sieht die Erzählerin deshalb keine Sinn eine Therapie aufzunehmen und fährt stattdessen mit ihrem weißen Freund zu dessen wohlhabenden Eltern aufs Land.

Meine Meinung:

„Zusammenkunft“ hat von allen Seiten viel Lob erhalten und das ganz bestimmt zurecht. Das Buch ist es besonders, weil es schafft auf sehr wenigen Seiten unwahrscheinlich viele und komplexe Themen abzuhandeln. Das tut es auf eine poetische, manchmal undurchsichtige, aber immer aufrichtige und vor allem aufrüttelnde Art und Weise.

Die Zustände innerhalb der britischen Gesellschaft, die hier beschrieben werden, sind sicher in vielerlei Hinsicht auf Deutschland übertragbar, wenn mir auch nicht alle Zusammenhänge abschließend klar geworden sind. Genau das ist auch mein einziger, wenn auch nicht ganz unbedeutender Kritikpunkt am Buch. Aufgrund der Knappheit und Dichte des Textes, geht für mich an manchen Stellen wichtige Information verloren, die in meinen Augen nötig gewesen wäre, um die Geschichte besser verständlich zu machen. Ich verstehe, dass es mit Sicherheit nicht die Absicht der Autorin gewesen sein kann, ein rundum nachvollziehbares und detailliert ausgestaltetes Buch geschrieben. Sonst wäre „Zusammenkunft“ nicht die poetische und einhomogene Ansammlung an Textfragmenten, die es ist. Das Buch spricht allerdings so wichtige Themen an, dass ich diesen an der ein oder anderen Stelle mehr Raum gewünscht hätte.

Nichtsdestotrotz ist Natasha Brown ein besonderer Text in einer besonderen Sprache gelungen, der es lohnt gelesen zu werden. „Zusammenkunft“ porträtiert eine noch junge Frau, die an ihrem eigenen von einer feindselig eingestellten Gesellschaft bestimmten Ansprüchen zu zerbrechen droht. Die Ich-Erzählerin schleicht dabei immer wieder um eine Art passiven Todeswunsch als kurzfristigen Ausweg herum. Ihr eigenes Leben scheint ihr nichts mehr Wert zu sein. Auch an dieser Stelle, hätte ich es schön gefunden, wenn die Autorin in irgendeiner Form zu verstehen gegeben hätte, dass es sich bei der Denkweise ihrer Protagonistin um Gedanken handelt, die von einer psychischen Erkrankung geprägt sein müssen. So wird der Leser dahingehend im Unklaren gelassen.

Fazit:

„Zusammenkunft“ ist ein ganz besonderes Stück Prosa. Ein Buch, das man gelesen haben sollte, eben weil es thematisch so nah am gesellschaftlichen Puls des Jahres 2022 ist und weil es eine Thematik aufgreift, die von der Gegenwartsliteratur viel zu lange größtenteils ignoriert worden ist.

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Veröffentlicht am 21.04.2022

Natur und Menschlichkeit

Wo die Wölfe sind
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Bereits aufgrund von vielen positiven Bewertungen ihres ersten Romans „Zugvögel“ bin ich auf Charlotte McConaghy aufmerksam geworden. Mit „Wo die Wölfe sind“ konnte ich die Autorin nun endlich für mich ...

Bereits aufgrund von vielen positiven Bewertungen ihres ersten Romans „Zugvögel“ bin ich auf Charlotte McConaghy aufmerksam geworden. Mit „Wo die Wölfe sind“ konnte ich die Autorin nun endlich für mich entdecken.

Inhalt (Klappentext):
„Inti Flynn kommt nach Schottland, um Wölfe in den Highlands wiederanzusiedeln. Als Wissenschaftlerin weiß sie, dass die wilden Tiere die einzige Rettung für die zerstörte Landschaft sind. Als Frau hofft sie auf einen Neuanfang. Sie ist nicht mehr die, die sie einst war, hat sich von den Menschen zurückgezogen. Denn die Wolfsbiologin besitzt die seltene Fähigkeit, Gefühle von anderen Lebewesen körperlich nachzuempfinden. Als ein Farmer tot aufgefunden wird und eine Hetzjagd auf ihre Tiere beginnt, muss sie sich ihren Ängsten stellen: Ist der Wolf oder der Mensch die Bestie in den Wäldern? Und wird sie je wieder menschliche Nähe zulassen können – oder von der Wildnis verschlungen werden, die sie retten will?“

Meine Meinung:
„Wo die Wölfe sind“ ist eine Mischung aus Thriller, Familien- und Entwicklungsroman. Aber das Buch ist ebenso eine Liebeserklärung an die Natur. Es mahnt den Klimawandel und seine verheerenden Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht an.
Charlotte McConaghy tut das sensibel und in unglaublich schöner Sprache. Ihre Beschreibungen der Umwelt und der Tiere würde ich als beinahe liebevoll bezeichnen. Der Text ist atmosphärisch und auch ein wenig ätherisch, man fühlt sich den beschriebenen Orten und auch Menschen beim Lesen sehr nah. Gleichzeitig erfährt man viele interessante Dinge - sowohl über die Psychologie der Wölfe als auch über die Psychologie von Menschen. Die Protagonistin Inti ist eine sog. „Mirror-Touch-Synästhtikerin“. Das bedeutet, sie empfindet die Gefühle anderer Lebewesen in ihrem eigenen Erleben nach. Zuvor hatte ich von diesem Zustand noch nicht gehört. Inti als Figur und die Darstellung ihres Charakters wie auch ihrer Vergangenheit haben mir sehr gut gefallen. Sie ist eine sehr spezielle Protagonistin, aber die Autorin schafft es ihre komplizierte Gefühlswelt für die Lesenden erlebbar zu machen. Das Schicksal von Inti und ihrer Schwester Aggie hat mich wirklich berührt. Charlotte McConaghy erzählt also nicht nur von der Beziehung zwischen Mensch und Natur, sondern auch von der Beziehung zwischen zwei Schwestern. Diese breite Spannweite des Romans finde ich besonders schön.
Die einzelnen Kapitel sind kurz und die ansprechende Sprache hat mich durch die Seiten getrieben.
Einzig mit der Auflösung der Haupthandlung bin ich weniger glücklich. Das Ende kommt sehr schnell und war mir in verschiedenen Aspekten zu viel.

Fazit:
Ein wirklich toller, absolut lesenswerter und vor allem sprachästhetischer Roman, der sich mit großen und wichtigen Themen beschäftigt. Kleine Abzüge in der B-Note, aber dennoch eine uneingeschränkte Empfehlung.

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Veröffentlicht am 25.03.2022

Scharfsinnige Spannungsliteratur

Vertrauen
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Tel Aviv, Israel: Inspektor Avi Avraham und sein Team arbeiten gleich an zwei merkwürdigen Fällen. Ein Neugeborenes wird in der Nähe eines Krankenhaus ausgesetzt. Die Mutter des Kindes scheint schnell ...

Tel Aviv, Israel: Inspektor Avi Avraham und sein Team arbeiten gleich an zwei merkwürdigen Fällen. Ein Neugeborenes wird in der Nähe eines Krankenhaus ausgesetzt. Die Mutter des Kindes scheint schnell gefunden zu sein, doch damit ist das Rätsel noch lange nicht gelöst. Zeitgleich verschwindet ein Gast aus einem Hotel offensichtlich spurlos. In beiden Fällen tuen sich interessante Spuren auf, die Avi letztlich sogar nach Paris führen. Es stellt sich die Frage, ob es letztlich sogar einen Zusammenhang zwischen all diesen Vorkommnissen gibt?

„Vertrauen“ ist ein leiser und langsamer Krimi. Genau deshalb habe ich das Buch ausgewählt, persönlich lese ich diese Art der Spannungsliteratur nämlich am liebsten. Ich bin auf der Suche nach Krimis, die feinsinnig und weniger blutrünstig sind. Das bietet „Vertrauen“ definitiv!
Tel Aviv und Paris sind dabei tolle Kulissen, welche de Geschichte einen ganz eigenen Flair verleihen.
Die Persönlichkeit des Inspektors ist ein wesentlicher Teil des Romans. Seine nachdenkliche und leicht melancholische Figur war mir dabei sehr sympathisch. Außerdem verarbeitet der Autor auch politische und soziokulturelle Themenkomplexe in seinem Buch. Das habe ich als Bereicherung empfunden.
Die Geschichte ist definitiv spannend. Es werden viele Hinweise gestreut und als Leser fühlt man sich immer dazu angehalten, mitzurätseln. Durch die langsame Erzählweise, zieht sich die Handlung jedoch phasenweise leicht in die Länge.
Mir persönlich hat der Erzählstrang rund um das Baby am besten gefallen, da mich dieser emotional mehr abholen konnte. Besonders interessant fand ich es an dieser Stelle auch, dass der Autor unterschiedliche Perspektiven gewählt hat, um seine Geschichte zu erzählen.

Fazit: „Vertrauen“ von Dror Mishani hat meine Erwartungen definitiv erfüllt. Es ist genau das richtige Buch, wenn man einen unaufgeregten, aber scharfsinnig konzipierten Kriminalroman lesen möchte.

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Eine späte Sommerliebe

Leo und Dora
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Inhalt:
Leo Perlstein, ein ehemals erfolgreicher Autor, der im Zuge des 2. Weltkrieges einen tiefreichenden Bruch in seinem Leben erfahren musste, kommt ins ländliche Connecticut um den Sommer im Ferienhaus ...

Inhalt:
Leo Perlstein, ein ehemals erfolgreicher Autor, der im Zuge des 2. Weltkrieges einen tiefreichenden Bruch in seinem Leben erfahren musste, kommt ins ländliche Connecticut um den Sommer im Ferienhaus seiner Agentin zu verbringen, und eine Schreibblockade zu überwinden. Nachdem es im Ferienhaus kurzfristig einen Brand gegeben hat, wird Leo stattdessen in einer benachbarten Pension untergebracht. Diese wird betrieben von Dora, einer herzlichen Wirtin, die es nach und nach schafft, Leos lange schon lange Zeit vereistes Herz zum Tauen zu bringen.

Meine Meinung:
„Leo und Dora“ erzählt auf stille und unaufgeregte Weise eine ganz ungewöhnliche Liebesgeschichte. Zwei Protagonisten stehen im Mittelpunkt, wie sie sonst in Liebesromanen nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Beide sind nicht mehr ganz jung, haben schon viel erlebt und sind durch diese Erlebnisse zu sehr unterschiedlichen Menschen geworden.
Leo ist verbittert, unzufrieden, geht mit der Welt um sich herum hart ins Gericht. Das ist manchmal nicht ganz leicht zu lesen. Weder Dora und die anderen Protagonisten im Buch, noch wir als Leser haben es leicht mit Leo.
Das Buch hat trotzdem einen ganz eigenen feinsinnigen Humor, der an manchen Stellen fast schon bizarr anmutet. Zudem hat es Atmosphäre. Ich liebe Geschichten, die im Sommer spielen oder über einen besonderen Sommer erzählen. Die Liebe zwischen Leo und Dora wird sanft erzählt und kommt ohne große Dramatik aus. Sie ist trotzdem bewegend. Die Lebensläufe der beiden bilden hier die Grundlage. Was zwischen ihnen entsteht, ist eine Art Sommerliebe im Herbst des Lebens. Das habe ich so noch nie gelesen und hat mir allein als Grundlage für ein Buch schon sehr gut gefallen.
Obwohl ich leise Geschichten grundsätzlich sehr mag, hätte ich mir hier jedoch an der ein oder anderen Stelle ein wenig mehr Spannung gewünscht. Oder vielleicht ist Spannung nicht das richtige Wort: Was ich meine, ist vor allem der Impuls unbedingt weiterlesen zu wollen.

Fazit:
„Leo und Dora“ ist als Geschichte ganz ähnlich wie seine Protagonisten selbst: Manchmal lustig, machmal traurig, herzlich, bittersüß, sanft, ein wenig skurril, ein bisschen verschoben. Ein sehr gutes Buch für die warmen Monate im Jahr und für all diejenigen, die gerne über Liebe abseits der in Büchern so oft geltenden Normen lesen wollen.

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