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Veröffentlicht am 17.09.2021

Schonungslos

Diese Frauen
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Inhalt:
Im Jahr 1999 erschütterte eine grausame Mordserie die Straßen von L.A.
Obwohl „erschüttern“ eigentlich zu viel gesagt ist. Denn wirklich große Wellen geschlagen hat das Ganze nicht. Die Hinterbliebenen ...

Inhalt:
Im Jahr 1999 erschütterte eine grausame Mordserie die Straßen von L.A.
Obwohl „erschüttern“ eigentlich zu viel gesagt ist. Denn wirklich große Wellen geschlagen hat das Ganze nicht. Die Hinterbliebenen der Opfer versuchten zwar sich Gehör zu verschaffen, doch ihre Stimmen gingen unter. Denn bei den toten Frauen handelt es sich eben um „diese Frauen“ und „solche Frauen“, die nachts auf den Bürgersteigen warten und für ein bisschen Geld und Drogen ihre Körper verkaufen.
Fünfzehn Jahre scheint die Erinnerung an „diese Frauen“ noch in wenigen Köpfen wach zu sein. Doch dann schlägt der Täter nach all der Zeit wieder zu.
„Diese Frauen“ von Ivy Pochoda erzählt nicht die Geschichte einer schrecklichen Mordserie, nicht die Geschichte des Menschen, der diese verübt hat, sondern die Geschichte derjenigen, die sich fürchten, die gejagt werden und letztlich viel zu selten gehört werden.

Meine Meinung:

„Diese Frauen“ ist ein feministisch literarischer Thriller, spannend, aber so viel mehr als das. Er ist auch ein Buch über soziale Abgründe, wie sie sich in vielen Gesellschaften finden. Über Ungleichheit, Chancenlosigkeit, über eine Spirale aus Abhängigkeit und haltloser Freiheit. Und das alles in Los Angeles, einer Stadt voller Extreme, die die Privilegierten noch privilegierter und die Sozialschwachen noch schwächer zu machen scheinen. Die düstere Stimmung, die durch die szenischen Beschreibungen transportiert wird, hat mir sehr gut gefallen. Noch viel mehr gefallen hat mir allerdings die Perspektive, welche die Autorin für ihren Roman gewählt hat. Sie zeigt das Leben der Sexarbeiterinnen von L.A. schonungslos, aber immer aus einem Blickwinkel betrachtend, der den Frauen ihre Würde lässt. (Ich habe überlegt, ob man an dieser Stelle überhaupt von Würde oder „würdevoll“ sprechen kann. Weil das ja eigentlich impliziert, dass es auch würdelos ginge. Aber eigentlich geht es das doch gar nicht. Ich weiß es nicht, aber ich denke, man versteht den Gedanken.) Gleichzeitig zeigt die Autorin die Frauen aber auch so, wie andere sie sehen. Anfangs ist es mir nicht so leicht gefallen, das einzuordnen, mittlerweile verstehe ich aber, dass der Text auf diese Weise nicht werten, sondern anprangern will.
Das Buch ist in mehrere große Abschnitte geteilt, in denen die Geschichte die Perspektiven verschiedener Frauen einnimmt, die mehr oder weniger mit den Verbrechen in Verbindung stehen. Männer spielen dabei nur im Hintergrund eine Rolle.
Natürlich gibt es neben all der Sozialkritik auch klassische Thriller-Elemente. Ermittlerin Essie Perry will dem Täter auf die Spur kommen. Allerdings hält sich beides im Gleichgewicht, sodass ich letzten Endes gar nicht wirklich sagen kann, worum es sich bei „diese Frauen“ vordergründig handelt. Das Buch ist in jedem Fall kein klassischer Thriller. Es leuchtet dorthin, wo es hässlich ist, es tut weh, es legt seine Finger in die Wunden der amerikanischen Gesellschaft und bohrt.

Fazit:

„Diese Frauen“ von Ivy Pochoda ist eine überaus empfehlenswerte Geschichte, für all diejenigen, die mehr als einen klassischen Spannungsroman lesen wollen. Oder auf für solche Leser, die eher selten zu Thrillern greifen. Es ist Gegenwartsliteratur, weil es unter dem Brennglas einer Mordserie, ein Stück Gegenwart zeigt, vor dem man leicht die Augen verschließen kann. Wegsehen ist einfacher als sich der hässlichen Fratze von Armut und Abhängigkeit zu stellen. Und das fordert dieses Buch von seinen Lesern ein.

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Veröffentlicht am 05.09.2021

Licht in der Dunkelheit

Junge mit schwarzem Hahn
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Inhalt:
In einer dunklen, unbestimmten Vergangenheit wächst der kleine Martin in einem Dorf auf, von dessen Bewohnern er verachtet und gemieden wird. Sein bester und treuester Freund ist ein schwarzer ...



Inhalt:
In einer dunklen, unbestimmten Vergangenheit wächst der kleine Martin in einem Dorf auf, von dessen Bewohnern er verachtet und gemieden wird. Sein bester und treuester Freund ist ein schwarzer Hahn, den er stets mit sich herumträgt. Trotz der großen Last, die auf Martins Schultern liegt, ist er zu jeder Zeit klug, einfühlsam und liebenswürdig. Er behandelt die Menschen besser als sie es verdienen.
Eines Tages wird Martin Zeuge, als ein dunkler Reiter ein Mädchen aus seiner Mutter entreißt und mit ihm verschwindet. Solche Vorfälle gibt es immer wieder. Die Geschichte vom Reiter ist eine Legende, ein Rätsel, zu dem niemand die Antwort kennt.
Als ein freundlicher Maler auftaucht, ergreift Martin die Gelegenheit und verlässt seine engstirnige Heimat, um in die Welt hinauszuziehen und vielleicht das Geheimnis des Reiters lüften zu können.

Meine Meinung:
Auf „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte bin ich in erster Linie aufmerksam geworden, weil ich quasi jede Diogenes Neuerscheinung unter die Lupe nehme, und zweitens weil die ersten Rezensionen so unglaublich gut klangen. Und nachdem ich die Geschichte nun selbst gelesen habe, kann ich sagen: Absolut zurecht!
Es ist ein Buch, wie ich es zuvor in dieser Form noch nie gelesen habe. Vielleicht könnte auf den ersten Blick der Eindruck entstehen, dass man es hier mit einem historischen Roman zu tun hat. Das ist dieses Buch meiner Meinung nach auf gar keinen Fall. Die Zeit und Gesellschaft, in der es spielt wirkt mittelalterlich, bleibt aber wage. Geschichtliche Eckpunkte sind für den Inhalt auch nicht relevant.
An anderer Stelle habe ich gelesen, bei „Junge mit schwarzem Hahn“ handele es sich um ein dunkles Märchen und ich finde, das trifft es ziemlich gut. Die Sprache ist einfach und doch poetisch. Der Text hat etwas Erzählerisches an sich, als könnte jemand die Geschichte an einem dunklen Herbstabend in einer Lagerfeuerrunde zum Besten gegeben haben.
Die Welt, die Stefanie vor Schulte beschreibt, ist grau und teilweise schonungslos brutal. Martins Freundlichkeit ist ein Lichtkegel in Mitten all dieser Dunkelheit. Die Art und Weise, wie er mit Verstand und einem guten Herzen die größten Widrigkeiten überwindet, macht ihn zu einem wahren Helden. „Junge mit schwarzem Hahn“ ist also nicht nur ein Märchen, sondern auch eine Heldengeschichte. Noch viel mehr halte ich das Buch allerdings für eine Erzählung, die durch Metaphern und Sprachbilder, eine zeitlose Form der Kritik an der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Der Text hat einen doppelten und dreifachen Boden. Man kann ihn unglaublich gut diskutieren. Beim Lesen hatte ich immer wieder das Bedürfnis ein paar Seiten zurückzublättern und nochmal zu evaluieren, was ich da jetzt eigentlich gelesen habe und was in letzter Konsequenz damit gemeint gewesen sein könnte. Diese Tatsache macht „Junge mit schwarzem Hahn“ auch zu einem Buch, das man nochmal und nochmal lesen kann. Am liebsten hätte ich immer wieder von vorne angefangen, weil ich den Eindruck hatte, dass ich noch nicht alles vollständig erfasst habe. Obwohl das Buch so dünn ist, steckt also wahnsinnig viel Inhalt im Text das. Das fand ich in dieser Form absolut faszinierend. Man kann die Geschichte schnell verschlingen, man kann sie aber auch langsam und mit Bedacht lesen, weil sie genug Stoff zum Nachdenken bietet. Unabhängig von aller Interpretation, ist Martin außerdem einfach ein anrührender Protagonist, den man nur in sein Herz schließen kann.

Fazit:

„Junge mit schwarzem Hahn“ hat mich fasziniert und begeistert. Ich finde die Geschichte absolut außergewöhnlich, etwas Vergleichbares habe ich so noch nicht gelesen. Besonders empfehlenswert ist das Buch auch für Leserunden und Buchclubs, denn man kann es wunderbar diskutieren, wie ich finde.

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Veröffentlicht am 28.08.2021

Vom Fliegen und Fallen

Der Mauersegler
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Inhalt:

Prometheus ist Arzt. Eben noch hatte er eine vielversprechende Karriere in der klinischen Forschung vor sich, nun befindet er sich auf der Flucht. Auf der Flucht vor dem Leben und der Polizei. ...

Inhalt:

Prometheus ist Arzt. Eben noch hatte er eine vielversprechende Karriere in der klinischen Forschung vor sich, nun befindet er sich auf der Flucht. Auf der Flucht vor dem Leben und der Polizei. Prometheus hat nämlich einen schrecklichen Fehler begangen. Es handelt sich nicht etwa um einen versehentlichen Fehler aus Fahrlässigkeit oder Schlampigkeit. Nein, es ist viel schlimmer. Prometheus hat etwas Verbotenes getan und damit sich selbst, seinen allerbesten Freund Jakob und zahlreiche weitere Menschen ins Unglück gestürzt. Aber wohin soll man gehen, wenn man alles verloren hat? Irgendwann strandet er in Dänemark, auf dem abgeschiedenen Reiterhof von Aslaug und Helle, die ihre ganz eigenen Geheimnisse in sich tragen.

Meine Meinung:
Prometheus. Allein der Name des Protagonisten ist eine Ansage. Man weiß sofort mit welchem Klischee hier gespielt wird. Der Arzt als Halbgott in Weiß. Ich gebe zu, ich hatte anfangs Bauchschmerzen diesbezüglich. Hoffentlich, dachte ich, wird da nicht bloß eine Geschichte erzählt vom arroganten Arschloch-Arzt, der unsauber arbeitet und so seine Patienten gefährdet. Das wird es nicht! Ganz im Gegenteil. Mit Klischees ist es ja so, dass sie in den meisten Fällen einen wahren Kern haben. Prometheus ist arrogant, karrierebesessen, gerne rücksichtslos. Er fährt ein dickes Auto und strebt stetig nach mehr. Mehr Status, mehr Erfolg, mehr Anerkennung. Und ja, solche Leute gibt es dann und wann in der Medizin. Wenn ein Buch aber von Menschen erzählt, die einem bestimmten Klischee entsprechen, dann muss es das tun, ohne dabei tatsächlich ins Klischeehafte abzudriften. Und das gelingt Jasmin Schreiber so so unfassbar gut!
Ich habe in der Vergangenheit manchmal davon geschrieben, dass ich gerne ambivalente Protagonisten lese und entsprechende Bücher dann doch nicht wirklich gemocht. Das liegt daran, dass in vielen Fällen diese Figuren unsympathisch und unnahbar bleiben. Hier ist das nicht so. Ich mochte Prometheus, obwohl er einen scheinbar so unverzeihlichen Fehler begeht. Ich konnte nachvollziehen, vielleicht sogar ein Stück nachempfinden, warum er in einer Situation, die von größtem privatem und beruflichem Druck geprägt ist, so handelt, wie er es tut. Dabei hat die Autorin für ihre Geschichte den schwersten Weg gewählt, den man sich ausdenken kann. Manchmal neigen Bücher dazu, Dinge, die eigentlich moralisch absolut in Ordnung sind, aufzublähen, um sie den Leser als großes, aber am Ende doch leicht auflösbares Problem zu präsentieren. In „Der Mauersegler“ ist nichts leicht auflösbar, hier scheint alles verloren und dementsprechend am Boden zerstört ist Prometheus auch. Das Geniale dabei ist, dass Jasmin Schreiber es schafft, diese Katastrophe, in der jemand alles alles verloren hat (und das gewissermaßen zu Recht), mit so viel Hoffnung zu erzählen, dass es mir zwischen all dem Schmerz, manchmal ganz warm um’s Herz geworden ist. Besonders gut gefallen haben mir die plastischen Naturbeschreibungen. Diese spezielle Art mit Worten die Seele der Umwelt darzustellen, hat all das, was Prometheus getan hat und was ihm widerfahren ist, irgendwie in Relation gesetzt und dabei angedeutet, wie klein der Mensch und alles Menschgemachte im Vergleich zum Großen Ganzen eigentlich ist. Das habe ich als ungemein tröstlich empfunden. Genauso wie Helle und Aslaug, diese eigensinnigen, urteilsfreien Frauen, die so eng mit der Natur verbunden sind, einen sehr tröstlichen Gegenpart zu Prometheus’ Vergangenheit dargestellt haben. Tröstlich. Wenn ich mich für ein Wort entscheiden müsste, das dieses Buch beschreiben soll, dann wäre es wohl dieses. „Der Mauersegler“ erzählt ohne abzustempeln und anzuklagen von einem Menschen, der große Schuld auf sich geladen hat. Vor allem aber handelt es sich um eine Geschichte voller Zuversicht und Hoffnung darauf, dass es immer immer wieder ein Morgen gibt - neue Menschen und einen neuen Himmel - und dass es sich lohnt dieses Morgen zu leben, auch wenn es anders ist, auch wenn es wehtut.

Fazit:
„Der Mauersegler“ ist eine wundervolle Geschichte, die von nun an einen sehr besonderen Platz in meinem Bücherherzen (und in meinem Medizinherzen!) bewohnt.

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Veröffentlicht am 25.08.2021

Ein Buch zum Liebhaben

Bevor ich dich sah
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Inhalt:
Früher einmal gab es nur die Arbeit im Leben von Alice. Doch nun liegt sie in einem Londoner Krankenhaus und von dem Menschen, der die geglaubt hatte zu sein, scheint kaum noch etwas übrig. Bei ...

Inhalt:
Früher einmal gab es nur die Arbeit im Leben von Alice. Doch nun liegt sie in einem Londoner Krankenhaus und von dem Menschen, der die geglaubt hatte zu sein, scheint kaum noch etwas übrig. Bei einem Feuer in Alices Büro ist ihre linke Körperhälfte schwer verbrannt worden. Sie hat bereits zahlreiche Hauttransplantationen hinter sich, aber im Spiegel betrachten kann sie sich immer noch nicht. Außerdem möchte sie mit allen Mitteln verhindern, dass andere Menschen sie sehen können. Als sie in ein Mehrbettzimmer auf der Rehastation verlegt wird, fordert sie deshalb, dass ihr Bett mit einem dichten Vorhang von den anderen Patienten abgeschirmt werden soll.

Alices Bettnachbar ist Alfie, ein ehemaliger Sportlehrer, der bei einem Autounfall ein Bein verloren hat. Alfie sieht immer die guten Seiten im Leben, auch wenn dieses noch so ungerecht sein mag. Er lacht gerne, kommt ständig auf verrückte Ideen und vor allem ist er fest dazu entschlossen, seine geheimnisvolle neue Nachbarin aus der Reserve zu locken.

Obwohl keiner der beiden den anderen sehen kann, entsteht in den folgenden Tagen und Wochen eine intensive Beziehung zwischen Alice und Alfie, die sich in langen Nächten, vereint in ihrem Schicksal und getrennt durch eine Lage Stoff, ihre intimsten Geheimnisse anvertrauen.

Meine Meinung:
Wenn ein Buch im medizinischen Umfeld spielt, nehme ich es jedes Mal sehr genau unter die Lupe. „Bevor ich dich sah“ stand schon vor seinem Erscheinen auf meinem Wunschzettel. Die Idee zu diesem Liebesroman hat mich sofort begeistert. Doch obwohl ich angetreten bin, um „Bevor ich dich sah“ zu lieben, konnte es meinen Erwartungen letztendlich leider nicht ganz gerecht werden.

Ich würde sagen: „Bevor ich dich sah“ ist ein Buch zum Liebhaben. Die Geschichte will einfach so viel Gutes, dass man sie nur mögen kann. Sie will etwas so Besonderes erzählen. Eine Liebesgeschichte, die in einer schlimmen Lebenskrise ihren Anfang nimmt, in der Äußerlichkeiten überhaupt keine Rolle spielen. Wenn das nicht mal grandios ist! Das Problem liegt in der Umsetzung.

Obwohl mir die Geschichte von Alice und Alfie mehrfach Tränen in die Augen getrieben hat, haben die Haupt- sowie Nebencharaktere etwas Stereotypes, im Ansatz Überzeichnetes, an sich. Es fehlt eine gewisse Tiefe. Ich habe lange überlegt, woran das liegen könnte. Ein Teil des Problems ist sicherlich, dass die Autorin ab und zu im Ausmaß der Katastrophen übertreibt. Ich finde, wenn man so viel Drama in ein einziges Buch steckt, muss man aufpassen, dass der Plot darunter nicht zu plump und unglaubhaft wird.

Grundsätzlich sollte „Bevor ich dich sah“ wie ein Märchen gelesen werden. Denn aus medizinischer Sicht werden hier viele Aspekte sehr unrealistisch, bzw. falsch dargestellt. Meist bemühe ich mich ganz bewusst darum, beim Lesen nicht zu genau hinzusehen, wenn es um die Darstellung von medizinischen Sachverhalten oder des Gesundheitswesens geht. Ein Roman ist eben Fiktion und kein Sachbuch. Dementsprechend versuche ich meine Erwartungen anzupassen. Leider ist mir das in diesem speziellen Fall oft schwer gefallen. Die Backstory der Protagonistin ist beispielsweise grundlegend medizinisch falsch. Darüber kann man hinwegsehen oder nicht, das muss jeder Leserin für sich selbst entscheiden. Sehr befremdlich fand ich außerdem, dass die betreuende Krankenschwester von Alice und Alfie ihre Patient*innen ständig mit „Baby“ anspricht. Vielleicht bin ich zu sehr geprägt von deutschen Krankenhäusern (von britischen habe ich keine Ahnung), aber das kommt mir so absurd vor. Vielleicht ist das auch eine Frage der Übersetzung,

Der Schreibstil der Autorin ist klar und angenehm, aber mir hat die Atmosphäre etwas gefehlt. Das Buch wird hauptsächlich durch Dialoge geprägt. Diese fand ich allerdings sehr witzig und einfallsreich! Generell steckt „Bevor ich dich sah" voller ungewöhnlicher Einfälle. Alice und Alfie habe ich trotz der Schwächen in ihrer Ausarbeitung sehr lieb gewonnen. Auf emotionaler Ebene hat mich das Buch definitiv erreicht.

Fazit:
Ich hoffe, ich habe den richtigen Ton in meiner Rezension getroffen. Ich mochte das Buch. Es hat mich im Herzen erreicht und berührt. Aber unabhängig davon hatte es Schwächen, die dafür gesorgt haben, dass es unter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Ich würde es trotzdem weiterempfehlen, besonders für diejenigen, die Liebesromane vor allem auf der Gefühlsebene lesen.

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Veröffentlicht am 21.08.2021

Schwelbrand

Der Brand
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Inhalt:
Rahel ist 49, Pater von schon Anfang 50, sie Psychologin, er Universitätsdozent. Nach dreißig gemeinsamen Jahren und zwei gemeinsamen Kindern kommunizieren die beiden kaum noch miteinander. Die ...

Inhalt:
Rahel ist 49, Pater von schon Anfang 50, sie Psychologin, er Universitätsdozent. Nach dreißig gemeinsamen Jahren und zwei gemeinsamen Kindern kommunizieren die beiden kaum noch miteinander. Die Akkumulation von kleinen und großen Verletzungen im Laufe der Zeit hat dazu geführt, dass eine große Sprachlosigkeit zwischen den beiden Einzug gehalten hat.
Als Rahels väterlicher Freund Viktor plötzlich einen Schlaganfall erleidet und dessen Frau die beide bittet drei Wochen lang auf ihren alten Bauernhof aufzupassen, sind die beiden gezwungen sich einen Sommer lang auf ihre Probleme zu besinnen.
Und werden an einen Scheideweg geführt…

Meine Meinung:
Ich habe bei Diogenes gelesen, Daniela Krien habe gesagt, das Kernthema von „Der Brand“ sei das Gefühl der Entfremdung von Menschen aus der Gesellschaft. Ich finde, es geht in vielerlei Hinsicht um Entfremdung. Die aus der Gesellschaft steht dabei gar nicht so sehr im Zentrum, auch wenn immer wieder aktuelle Themen aufgegriffen und kritisiert werden. Manchmal konnte ich diese Kritik sehr gut nachvollziehen, manchmal wirkte sie für mich zu sehr überzeichnet, um den Finger wirklich in die Wunde zu legen.
Dass Rahel und Peter mit der Schnelllebigkeit der Welt, mit dem Altern und dem Fortschreiten der Zeit überfordert sind, das wird deutlich. Vor allem, weil zwischen den beiden alles so starr geworden ist. Daniela Krien schafft es sehr gut diese Sprachlosigkeit sichtbar zu machen. Ich mag ihre klare, einfach Sprache und wie sie es schafft mit wenigen Worten Atmosphäre zu erzeugen. In der Stille und Langsamkeit der Geschichte entsteht eine ganz eigene Art von Spannung.
Ich glaube, dass „Der Brand“ ein Buch mit mehreren Schichten und wahnsinnig viel Interpretationsspielraum ist. Man kann es auf sehr unterschiedliche Art lesen. Genau an dieser Stelle entfaltet sich leider auch das Problem, das ich beim Lesen hatte. Die oberste Schicht ist zu sehr zugeklebt mit Oberflächlichkeiten, sodass es mir nur in Ansätzen gelungen ist, sehen zu können, was darunter liegt.
Schuld daran ist für mich in erster Linie die Protagonistin Rahel, aus deren Sicht die Ereignisse erzählt werden. Ich habe mich lange gefragt, ob es so etwas wie eine feministische Lesart für sie gibt. Rahel ist mir schrecklich umsympathisch. Die Autorin hat für sie den Beruf der Psychologin gewählt und eigentlich finde ich es sehr spannend, lesen zu können, wie professionelle Menschen mit ihren privaten Problemen umgehen. Aber Rahel als Psychologin erscheint mir irgendwie unglaubwürdig, weil sie überhaupt nicht „umgeht“, sie unternimmt nicht einmal den Versuch dazu. Sie jammert bloß und bemitleidet sich dafür, dass ihr Mann nicht mehr mit ihr schlafen will, anstatt anzuerkennen, dass der fehlende Sex nicht das Hauptproblem zwischen den beiden ist. Ganz zu schweigen von ihrer Beziehung zu Tochter Selma, deren psychischen Probleme sie entweder nicht anerkennt oder aber viel zu sehr auf sich selbst bezieht. Außerdem gefällt es mir nicht, wie Rahel über ihre Patient*innen denkt oder spricht. Vielleicht bin ich naiv, aber ich finde, wer Psychotherapie anbietet, der muss einen gewissen Grundrespekt für die Gefühle anderer Menschen mitbringen. Jedenfalls ist es diese Selbstzentriertheit von Rahel, die über weiten Strecken der Geschichte zu viel Raum einnimmt und so vielleicht verhindert hat, dass man sich auf’s Wesentliche konzentrieren kann.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Geschichte die Wurzel des Übels besser anpackt. Dass zumindest am Ende ehrlich geredet wird, und auch mal Dinge ausgesprochen und verhandelt werden, die richtig wehtun. Aber stattdessen zieht sich die Sprachlosigkeit und zieht sich und zieht sich. Auch wenn zum Schluss Lösungen für viele Dinge angeboten werden, waren die mir irgendwie zu einfach.

Fazit:
„Der Brand“ stellt drei Paare aus drei Generationen einander gegenüber. Diese Dynamik allein fand ich sehr sehr spannend. In meinen Augen hätte man noch etwas mehr herausholen können.
Ich kann nicht wirklich sagen, dass mir das Buch gefallen hat, ich kann aber auch nicht sagen, dass er mir nicht gefallen hat. Keine Frage, es ist eine außergewöhnliche Geschichte, an der man sich reiben und über die man sehr gut diskutieren kann. Ich würde es jedem empfehlen, der sich gerne mit Literatur auseinandersetzt, mit dem Warnhinweis, dass man auch möglicherweise enttäuscht werden kann. Allein über den Titel könnte ich sehr lange nachdenken und ich merke, während ich meine Rezension schreibe, dass auch die Geschichte noch weiter in mir arbeitet.

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