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Veröffentlicht am 24.10.2021

Religion und Macht

Dune – Der Wüstenplanet
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In der fernen Zukunft herrscht im bekannten Universum ein rigides Feudalsystem, in welchem ganze Sonnensysteme von Adelshäusern regiert werden. Seit einem heiligen Krieg vor 10.000 Jahren sind Computer ...

In der fernen Zukunft herrscht im bekannten Universum ein rigides Feudalsystem, in welchem ganze Sonnensysteme von Adelshäusern regiert werden. Seit einem heiligen Krieg vor 10.000 Jahren sind Computer und künstliche Intelligenz geächtet, was den menschlichen Geist dazu gezwungen hat, sich auf nie gekannte Entwicklungsstufen zu erheben. So ist es dem Orden der Bene Gesserit-Schwestern möglich, Lügen zu spüren und in die Zukunft zu sehen, während die Raumgilde durch ihre Navigationsfähigkeiten das Monopol auf interstellare Reisen hat. Diese Fähigkeiten werden jedoch erst durch den Gebrauch der Melange-Droge möglich, die nur auf einem Planeten, Arrakis, auch Dune genannt, abgebaut werden kann.

Dieser fast wasserlose und lebensfeindliche Ort wurde bisher vom Haus Harkonnen mit harter Hand verwaltet. Scheinbar ohne Grund fällt das Lehen jedoch plötzlich auf Befehl des Imperators dem Haus Atreides zu, welches mit den Harkonnen in traditioneller Fehde liegt. Herzog Leto Atreides weiß, dass es eine Falle sein muss. Aber ihm bleibt nur die Wahl, seinen Herrschaftssitz auf den Wüstenplaneten zu verlegen oder ins Exil zu fliehen. Seine Konkubine Lady Jessica, eine Bene Gesserit, hat seinen Tod bereits vor Augen. Und auch das Schicksal ihres gemeinsamen Sohnes Paul, der das sein könnte worauf der Schwesternorden seit Jahrtausende hingearbeitet hat, scheint auf mehrere Arten bereits besiegelt. Nur die Hoffnung auf eine Allianz mit dem durch die Harkonnen verfolgten, kriegerischen Wüstenvolk der Fremen scheint noch möglich.



Science Fiction-Legende Arthur C. Clarke hat „Dune“ mit „Der Herr der Ringe“ verglichen und ich finde die Parallelen stark genug um damit einzuleiten. Wie bei Tolkiens Hauptwerk handelt es sich um eine epische Geschichte, die vielleicht nicht jedem sofort Zugang gewährt. Beide haben eine sprachliche Gewalt, die es nötig macht, diese Bücher anders zu lesen als man es gewöhnlich vielleicht tut. Querlesen oder unaufmerksames Schmökern führen zwar aufgrund der breiten und eher einfachen generellen Geschichte nicht so leicht dazu, dass Faden verliert, aber man droht sich zu langweilen. Dies liegt darin, dass die Qualität der Bücher in beiden Fällen in den Beschreibungen und Ideen liegt, die in ihnen verkörpert werden. Allerdings sind die Dune-Romane keine so vollständige und abgeschlossene Reihe wie es „Der Herr der Ringe“ ist. Herbert verstarb bevor er sie vollenden konnte. Zwar setzte sein Sohn die Bücher angeblich anhand von Notizen seines Vaters fort, doch sind die Ergebnisse in Fankreisen höchst umstritten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Plot und Welt grundsätzlich andere Schwerpunkte setzen, die teilweise eher an Groschenromane erinnern, sondern auch daran, dass der Verlag altes, von Frank Herbert abgesegnetes Hintergrundmaterial einfach im Handstreich als „Paralleluniversum“ abtat.



Der Plot von Dune jedoch beweist Virtuosität. So lässt Herbert den Leser teils durch die verschiedenen Erzählperspektiven, teils durch vor jedem Kapitel eingeschobene Zitate aus der Literatur seiner Welt, Dinge über den Verlauf der Geschichte wissen, die in einem schlechteren Buch die Spannung verdorben hätten. Bereits zu Beginn erfährt man, wer Verrat an den Atreides plant und dass es eine Verbindung zwischen Prinzessin Irulan und Muad‘Dib gibt, steht gar auf der ersten Seite. Mit solchen Vorgriffen schafft der Autor eine höhere Erwartungshaltung als bei einer klassischern Erzählweise.

Ich bin der Ansicht, dass der Verlauf des Plotstranges dennoch der schwächste Aspekt des Romans ist. Ich hatte häufig das Gefühl, dass die Szenen nicht so ineinander greifen, wie sie es sollten. Es scheint, als wäre die Geschichte nicht so lückenlos vorausgeplant, wie sie sich gibt. Außerdem leidet das Buch ein wenig unter der Fantastik-Krankheit bestimmte Dinge erst dann zu erklären, wenn sie für den Plot relevant werden.



Eines der zentralen Themen des Romans ist Religion und deren Ambivalenz. Die Gesellschaft, die Herbert beschreibt ist stark von Dogmen geprägt, die sich aus wunderlichen Kombinationen westlicher, nah- und fernöstlicher Prägungen zusammensetzen. So ist die Geisteswelt der Fremen von der sogenannten Zensunna geprägt und vieles aus der Orange-Katholischen Bibel gilt im Imperium als festes Gesetz.

Gleichzeitig wird bereits früh im Roman erklärt, dass der Glaube der Menschen absichtlich manipuliert wurde um damit bestimmte Effekte zu schaffen. Es kein Zweifel daran gelassen, dass auch die zentrale Prophezeiung von Dune auf so einer bewussten Erfindung basiert. Dennoch schließt niemand aus, dass sie sich erfüllen kann. Der Leser bekommt hier ein interessantes Bild einer Gesellschaft, die einerseits Religion als von Menschen für Menschen gemacht ansieht, deren Richtigkeit oder gar die Existenz Gottes aber nicht anzweifelt.



Die sprachliche Qualität, die besonders im englischen Original glänzen kann, zeigt sich auf jeder Seite. Hier sind besonders die lebendig geschriebenen Dialoge zu erwähnen. Eigentlich ist es in der englischen Literatur fast Standard, wenig wert auf Redebegleitsätze gelegt wird – egal ob man nun „Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“ liest. Dieser Tradition folgt Herbert nicht. Vielmehr ist es so, dass er seine Charakter mehr über ihre Sprechweise und vor allem das Verhalten in den Gesprächen mit anderen definiert, als über die direkte Beschreibung.

Auch das Spiel mit den aus verschiedenen Sprachen entlehnten Begriffen wirkt perfektioniert. So schafft es der Autor, bestimmten Ideen eine kulturelle Prägung zu geben, in welche er eigene fiktive Wörter gut einflechten kann.



Insgesamt ist dieser Klassiker der SF-Literatur aus den 1960ern immer noch unerreicht. Für jeden, den dieses Genre interessiert, sollte das Buch ein Muss sein. Man sieht während des Lesens schnell, wie viele andere Werke von Dune inspiriert wurden, aber auch, warum bisher jede Umsetzung in ein anderes Medium gescheitert ist. Ich würde jedem Leser empfehlen sich zeitnah zum Buch auch David Lynchs katastrophale Verfilmung zu Gemüte zu führen, da dies sehr erheiternd ist. Die Regieentscheidungen dieses Reinfalls erscheinen im Vergleich zum Quellenmaterial noch abstruser als sie es für sich gesehen schon sind.

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Veröffentlicht am 22.05.2021

Philosophie der Beliebigkeit

Metamorphosen
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Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, ...

Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, sich aber auf der anderen Seite vor ihren eigenen Konsequenzen zu scheuen scheint und vereinzelt in Stilblüten ausartet.

Der Sprachstil des Buches ist schön und so flüssig, dass der Leser durch viele Abschnitte geradezu hindurchgezogen wird. Meist traumhaft vage, zeigt der Autor eine sehr große Ausdrucksgewandtheit. Allerdings setzt er zu oft eine gebetsartige Wiederholung als Stilmittel ein, so dass man sich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, ob man diese oder jene Seite nicht überspringen sollte. Man kann Coccia ein oder zwei Mal vorwerfen, dass er Zeilen schindet.

Ich kann, ohne das Original zu kennen, die Übersetzung nicht objektiv beurteilen. An vielen Stellen habe ich mich jedoch gefragt, ob es wirklich die beste Lösung war, ein gewöhnliches französisches Wort mit einem Fremdwort ins Deutsche zu übertragen. Dies führt mitunter zu übermäßig komplizierten Formulierungen und veränderten Bedeutungen. Manchmal kann „Beziehungen“ oder „Abhängigkeiten“ präziser sein als „Interpendenzen“. Vielleicht fehlt mir hier aber einfach der philosophische Hintergrund.

Dennoch traue ich mir zu, den Inhalt und die Aussagen zu Beurteilen, die Coccia in seinem Buch macht. Seine bereits zu Beginn dargelegte Grundthese ist, dass alles Lebendige, da es evolutionär aus einem Organismus entstanden ist, immer noch eine Einheit darstellt. Das selbe Leben aufgeteilt auf unzählige Körper im stetigen Wandel, die gleiche Materie für ihren Aufbau verwendend und unaufhörlich wieder vergehend. Coccia legt diese Hypothese sehr überzeugend dar, ich konnte ihm sehr gut folgen. Teilweise tappt er dabei in populäre Fallen, wie etwa, dass er Affen als unsere Ahnen bezeichnet, wenn Cousins viel richtiger wäre. Dennoch erscheint das große und ganze Bild sehr rund.

Anders sieht es bei den Details aus und den Konsequenzen, die er aus seiner Ansicht zieht. So finden sich, eingestreut in seine Argumente, häufig kleinere Thesen, die vollkommen fehl am Platz wirken. Sie sind meist auf nicht mehr als einer halben Seite ausgearbeitet und präsentieren dem Leser kontroverse Sachverhalte, die ohne Belege oder schlüssige Beweisketten daherkommen. So verteidigt er scheinbar landwirtschftliche Monokuluten, da Städte die wahren Monokuluten seien – nur um dann das mannigfaltige Ökosystem der Metropolen zu beschreiben. Er schlussfolgert in zwei Sätzen, dass Pflanzen die Gärtner der Erde seien, ohne dies Auszuarbeiten und erhebt den Geschmack zum wahren Motor der Evolution.
In solchen Momenten scheint das Buch Philosophie nach dem Gießkannenprinzip zu sein: von den vielen Thesen wird in der gelehrten Welt doch irgendetwas wieder zitiert werden!

Insgesamt wird aus der universellen Verbundenheit in „Metamorphosen“ schnell eine Theorie der absoluten Beliebigkeit, denn das Gaia-Prinzip verfolgt Coccia bis zu seiner letzten Konsequenz. Er stellt sich gegen Artenschutz und Vegetarismus, da alles Leben nur aus dem Tod von anderen Leben komme. Eine Art mehr oder weniger ist kein Verlust. Er betrachtet die Welt aus einer solchen ferne, dass es für ihn keinen Unterschied zu machen scheint, ob sie nun von denkenden, fühlenden Wesen bewohnt wird oder einfach nur ein Ball voller Mikroben und Biomasse ist.

Hier liegt meiner Ansicht nach der Hauptfehler des Buches: Coccia formuliert eine Theorie, die oberflächlich betrachtet in die Hippie-Bewegung passen könnte. Bei genauerer Betrachtung liefert sie jedoch nicht nur für Umweltzerstörung und Massentierhaltung sondern auch für jede extremistische politische Ausrichtung eine Argumentationsgrundlage. Für Gaia ist Friede nicht besser als Krieg und Freiheit nicht besser als Sklaverei. Natürlich könnte man den Autoren damit verteidigen, dass er hier eine unpolitische, reine Naturphilosophie schreiben wollte. Hier muss ich aber fragen: Leben wir in einer Zeit, in der man so etwas noch verfassen kann?

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Veröffentlicht am 28.04.2021

Argumentatives Totalversagen

Darwin schlägt Kant
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Wenn ich nach der Lektüre den Klappentext noch einmal betrachte, muss ich sagen, dass ich vielleicht zu Beginn etwas anderes erwartet hätte. Vermutlich dachte ich, es würde sich um ein psychologisch-philosophische ...

Wenn ich nach der Lektüre den Klappentext noch einmal betrachte, muss ich sagen, dass ich vielleicht zu Beginn etwas anderes erwartet hätte. Vermutlich dachte ich, es würde sich um ein psychologisch-philosophische Analyse der Kant‘schen Lehren vor dem Hintergrund der modernen Erkenntnisse über die Evolution sein. Oder, dass es darum ginge, inwiefern die Philosophie des Aufklärers der menschlichen Natur aus evolutionspsychologischen Gesichtspunkten widerspricht.

Das ist es aber alles nicht. Ich denke, am Anfang stand irgendwo der Versuch letzteres zu schreiben, aber der Autor hat vollständig den Faden verloren. Es ist ein Werk geworden, das immer wieder über dutzende und dutzende Seiten vollständig von den Kernthemen abschweift, lächerliche Argumentationsketten über unglaubliche Längen auswalzt und sehr fragwürdige Meinungen als wissenschaftliche Tatsachen darstellt. Und ganz nebenbei Folter gutheißt.

Um den Einstieg kurz zu machen: Es geht weder um Darwin noch wirklich um Kant. Darwin wird tatsächlich kaum erwähnt und dient vielmehr als Symbol für alles, was der Autor irgendwie mit Evolution in Verbindung bringt. Da ist meiner Ansicht nach in Ordnung, da dies auch in der Umgangssprache gerne so gehandhabt wird. Kant hingegen kommt öfter, zumindest namentlich, vor und hat tatsächlich einige Seiten, die fast ausschließlich ihm gewidmet sind. Und das ist meiner Meinung nach ein Problem.

Während Darwin Symbol bleibt, wird auf Kants Philosophie rudimentär eingegangen – er und seine Ideen aber immer wieder als gleichbedeutend mit der Aufklärung in ihrer Gesamtheit dargestellt. Somit liefert Urbaniok ein unwahres Zerrbild dieser Epoche als moralisch erhabene und menschliche Denkrichtung. Andere Strömungen werden ignoriert. Dass es auch die Köpfe der Aufklärung waren, die Arbeitshäuser und Anbindehaltung erdacht und „unnützes“ Leben definiert haben, scheint er nicht zu wissen oder es passt nicht in sein Bild.

Statt um Aufklärung gegen Evolution geht es tatsächlich eigentlich nur darum, dass Wahrnehmung und Denken des Menschen fehleranfällig sind. Dies klingt nicht besonders kompliziert und ist es, wie es Urbaniok darstellt, wohl auch nicht. Schließlich meint er, den gesamten Mechanismus der menschlichen Informationsaufnahme und -verarbeitung auf drei Buchstaben „RSG“ eindampfen zu können. Dabei handelt es sich um ein psychologisches Modell, das so grundlegend und simpel ist, dass es eigentlich keine praktische Bedeutung mehr hat, obwohl der Autor diese zum Ende hin alle paar Seiten herbeiredet.

Warum hat das Buch dennoch 450 Seiten reinen Text? Nun, hier liegt der Hund begraben. Es ist wirklich zu lang für die Aussage, die es trifft.

Es ist schwierig, diesem Werk etwas positives abzugewinnen, darum möchte ich darum beginnen. So ist der generelle Aufbau durchdacht: In den ersten Kapiteln soll einem das geistige Handwerkszeug für das Verständnis der Prinzipien der weiteren Themen nahegelegt werden. Tatsächlich sind diese theoretischen und philosophischen Grundlagen der beste Teil des Buches. Zum anderen habe ich sicher durch die Lektüre vieles erfahren, was ich noch nicht wusste.

Leider haben schon diese beiden Punkte einen Pferdefuß: Die theoretischen Kapitel haben mit den praktisch orientierteren nicht viel zu tun und werden in keinster Weise vertieft. Zum zweiten untergräbt Urbaniok im Laufe des Buches seine eigene Glaubwürdigkeit so systematisch, dass ich alle für mich neuen Fakten aus diesem Buch zutiefst in Frage stelle.

Die negativen Aspekte des Buches haben, wie bereits angedeutet, eine direkten Bezug zur Länge des Buches. Sie lassen sich gut darstellen, da sie zum großen Teil systematisch im gesamten Buch vorhanden sind. Ich würde hier folgende Punkte nennen: 1. Übermäßige Themenvielfalt, 2. Ausufernde und ungeschickte Verwendung von Beispielen, 3. Fragwürdige Argumentationen.

1. Übermäßige Themenvielfalt

Urbanioks Buch beginnt mit einer leichten Abwandlung eines Zitats des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Michael Shermer, den der Autor aber niemals erwähnt. Was Shermer nur als Anekdote gedacht hat, nimmt Urbaniok als wissenschaftlichen Fakt und baut darauf sein ganzes Verständnis der Evolutionspsychologie auf.

An einer anderen Stelle argumentiert Urbaniok damit, dass der Tachometer eines Autos stets eine 20% weniger anzeige, als das Auto tatsächlich fahre. Ein Schreibfehler, könnte man meinen, wenn nicht eine ganze Argumentationskette an diesem Schnitzer, der kaum einem Fahrschüler unterlaufen würde, hängen würde. In der Biologie hat der Autor deutliche Probleme mit klar definierten Standardbegriffen, wie etwa „Schwarm“ oder „Rudel“, die er falsch verwendet. Ganz salopp wird bei ihm jegliches tierisches Lernverhalten zum Instinkt. Er zitiert Filme falsch und verdreht berühmte Phrasen, wenn er sie indirekt wiedergibt. Er zeigt, dass er nicht versteht, wie künstliche Intelligenzen Entscheidungen treffen und glänzt mit Halbwissen über das Mittelalter, dass wohl aus Fernsehdokumentationen stammt.

Am schmerzhaftesten sind jedoch seine Wissenslücken beim Thema Evolution, welches für ihn im ersten Drittel des Buches so wichtig ist. Er zeigt deutlich, dass er ein vollkommen falsches Verständnis dieses Vorgangs hat. Für ihn scheint die Evolution ein zielgerichteter Vorgang zu sein, welcher stets die immer bessere Anpassung eines Wesens an seinen Lebensraum fördert. Er versteht nicht, dass es keineswegs eine lineare Entwicklung ist und fast niemals das Ideal, sondern das Ausreichende begünstigt wird. Somit ist für Urbaniok jeder Denkfehler des Menschen eigentlich ein Atavismus einer ehemals absolut sinnvollen Anpassung. Hier möchte ich dem Autoren Nathan E. Lents leicht verständliches Buch „Human Errors“ empfehlen. Damit würde er vielleicht erkennen, dass er hier einen seiner beliebten Denkfehler, den Kausalitätsfehler, selbst begeht – denn vieles, was die Evolution hervorbringt, hat nie in irgendeiner Form viel Sinn gemacht, nur nicht bei der Fortpflanzung gestört.

Zwar sieht Urbaniok mitunter auch ein, dass ihm die Expertise zu einem Nischenthema fehlt und er zitiert besser informierte Autoren. Seitenweise, ja sogar Kapitelweise, ohne selbst viele Kommentare oder Überlegungen zu machen. Man fühlt sich teilweise wie in einer schlechten Seminarsarbeit, wenn man plötzlich zwei Seiten direkt aus einem besseren Buch vorgesetzt bekommt, dass man gerade erst gelesen hat.

Dies ist bezeichnend für die Arbeitsweise des Buches, denn man sieht hier, dass es dem Autoren an Sachverstand mangelt. Aufgrund des enorm breiten Themenspektrums des Buches ist dies nicht verwunderlich: Es geht um fast alles, aber niemand kann alles wissen. Urbaniok hätte gut daran getan, sich ein wenig zu beschränken. Seitenlanges zitieren, garniert mit einem Halbsatz eigener Überlegung ist kein guter Stil in einem nichtakademischen Werk – vor allem dann nicht, wenn es sich um aktuelle Literatur handelt.

2. Ausufernde und ungeschickte Verwendung von Beispielen

Es mag seltsam klingen ein Buch dafür zu kritisieren, dass es zu viele Beispiele enthält. Das Problem ist, dass der Autor nicht weiß, wie man Beispiele zur Illustration von Argumenten oder Zusammenhängen benutzt. Meist erklärt er zwar zunächst den Sachverhalt und bringt dann zur Veranschaulichung Beispiele, lässt diese dann aber vollkommen im luftleeren Raum hängen. Nur sehr selten zeigt er auf, wie sich das Beispiel in die Argumentation einfügen, was es erläutern soll oder welchen Sinn es überhaupt hat. Viele seiner Anekdoten sind nämlich entweder unpassend, oder ziehen sich so lange, dass sie vollkommen den Fokus verlieren.

So folgen beispielsweise auf eine Erklärung, dass Menschen unsozial und unmoralisch handeln können, mehrere Seiten über die Geschichte der amerikanischen Mafia. Nicht etwa eine Analyse ihrer Methoden oder ihres Selbstverständnisses, sondern einfach nur ein historischer Abriss. Ein Block Text, zitiert aus einschlägiger Literatur. Dann ist das Kapitel zu Ende.

Noch schlimmer sind Urbanioks hypothetische Beispiele, die er sich selbst einfallen hat lassen. Hier schafft er es zwar viel besser tatsächlich auf das einzugehen, was sein eigentlicher Punkt ist, doch sind sie eine Qual zu lesen. Es sind über Seiten und Seiten ausgewalzte Erzählungen zu Busfahrplänen (mehrmals!), Einkaufsgewohnheiten eines Ehepaars oder anderen Banalitäten. Man hat nach etwa einer halben Seite den Sinn erfasst und dennoch geht es immer weiter. Dabei schleudert er einem mitunter noch Massen an völlig hypothetische Zahlen und stochastische Rechnungen im Fließtext entgegen. Vielleicht kann man diese mit etwas Konzentration nachvollziehen – da sie aber vollkommen unwichtig erscheinen, habe ich mich dagegen entschieden es überhaupt zu versuchen.

Mitunter verkommen seine Beispiele auch zum Hauptinhalt ganzer Kapitel, so dass es schwer wird, nachzuvollziehen, warum er sie überhaupt in dieser Weise und nicht anders aufbringt. Er vergisst völlig ein Statement oder Argument abzugeben.

Andernorts erklärt er zwar das Ziel seiner Beispiele, scheint sich dann aber an einem Exempel so in Rage zu schreiben, dass es direkt lächerlich ist. So gibt es ein Kapitel, welches Medien- und Informationspolitik zu Inhalt haben soll. 35 der 69 Seiten benutzt Urbaniok davon um über „Ausländerkriminalität“ zu wettern und ein paar mehr um angeblich missverstandene Individuen, die angeblich fälschlich in die Rechte Ecke gedrängt wurden, zu rehabilitieren.

3. Fragwürdige Argumentationen

Der größte Vorwurf, den man dem Autor in Bezug auf dieses Buch machen kann, ist, dass er unsauber und unehrlich argumentiert. Erstens tut er sich häufig schwer damit, seine Plädoyers sinnvoll zu gliedern und seine Haltung letztendlich überzeugend darzulegen. Dies trifft auf die Argumente im einzelnen und die Aufteilung des gesamten Buches zu. Zweitens scheut sich Urbaniok nicht durch gezieltes weglassen wichtiger Informationen, veraltete Fakten, statistische Tricks oder einfache Polemik, Punkte zu machen.

Die Schwäche seiner Argumentationsstruktur fällt bereits zu Beginn des Werks auf. Schon hier lässt er kontroverse Aussagen ohne Erläuterung im Raum stehen oder lehnt sie ohne Begründung ab. Er wirft einem Thesen als Brocken hin, die man dann schlucken kann – oder eben nicht. Er argumentiert scheinbar nur wenn er möchte, nicht, wenn das Thema es gerade verlangt. Dies deckt sich mit seiner ungeschickten Verwendung von Beispielen.

So ergeben sich Argumentationsketten, die nur aus Thesen und Beispielen bestehen, nicht aber aus Begründungen, warum die beispielhaften Sachverhalte genau so zu interpretieren seien. Oftmals erscheint der Standpunkt des Autoren so schwach, dass man der Ansicht sein kann, er wollte einen auf eine falsche Fährte locken. Es wirkt, als wolle er dadurch einen Denkfehler demonstrieren. Dies macht er aber nie.

Dies zeigt sich besonders deutlich im Kapitel zum „Würfelgericht“ und seinem absolut ernst gemeintem Eintreten für die Folter. Beide Male hatte ich angenommen, dass er irgendwo schreiben würde, dass die gerade dargelegte Argumentation natürlich aus diesen und jenen Gründen absolut nicht haltbar sei. Denn beide Male stehen und fallen seine Ansichten damit, dass es unfehlbare, absolut unbestechliche und uneigennützige Menschen, sogenannte „Kreative“ und „absolut Integere“, gäbe. Und dies schreibt Urbaniok in einem Buch, welches uns hunderte von Seiten lang erklärt, warum der Mensch fehlbar sein muss. Vermutlich meint er, dass allein die Kenntnis der Wahrnehmungsschwächen nach seinem RSG-System zu einer vollständigen Läuterung führen könnte.

Sehr häufig fällt auch auf, dass sich der Autor um klare Begriffsdefinitionen drückt. Dadurch entstehen schwammige Aussagen, die man je nach Gusto für falsch oder richtig halten kann. Oder er stellt Behauptungen, oft einfache Lösungen hochkomplexer Sachverhalte, auf, die nur funktionieren, weil er Begriffe stillschweigend umdeutet, die im allgemeinen Sprachgebrauch anders verwendet werden.

Solche Patzer finden sich viele und meist genau dann, wenn der Autor gut daran getan hätte, sauber zu argumentieren, weil er sich weit aus dem Fenster lehnt.

Andernorts schafft er es Themen vollständig totzuargumentieren: Einmal kritisiert er die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens ohne zu einem Punkt zu kommen, warum er dies tut, oder was eigentlich zu verbessern wäre. Das Paradebeispiel ist hier aber erneut sein Kapitel zur „Ausländerkriminalität“:

Er ist überzeugt, dass „Ausländer“ (diesen Begriff verwendet er völlig unkritisch) krimineller sind als Deutsche, lässt aber keine einzige Begründung dafür gelten, warum das so sein soll. Erneut bietet er keine eigene Idee an. Er zerstört, baut aber nicht auf, könnte man sagen.

Auch verschweigt er dabei wohl bewusst wichtige Fakten um seine Argumente zu legitimieren: So verteidigt er die Aussagen eine Prominenten und wirft der Presse vor, sie unfairerweise als rechtslastigt bezeichnet zu haben. Dass die betreffende Dame seitdem eine steile Karriere als Publizistin in einschlägigen Verlagen hingelegt hat, lässt er unter den Tisch fallen.

Insgesamt muss man sagen, dass Urbaniok generell seine Seite als wissenschaftlich bestätigt bezeichnet. Seinen Gegnern dagegen wirft er vor, dass sie entweder wüssten, dass sie im Unrecht sind oder dass sie Sinnestäuschungen oder Denkfehlern unterliegen. Studien sind dann gut, wenn er es meint (z.B. das längst diskreditierte „Florida“-Experiment und der Priming-Effekt).

Das ist keine Basis für eine sachliche Diskussion. Dabei beweist er nur all zu oft, dass er die gleichen Fehler macht, die er andern unterstellt – manchmal im nächsten Satz. Er tut ganze Begründungskomplexe im Handstreich als monokausal ab und kennt selbst nur einfache Ursachen für Probleme. Er schreibt direkt, dass das gleiche Ergebnis nicht unterschiedliche Auslöser haben könne. Bei aller Komplexität des Buches sind seine Erklärungswege und Lösungsansätze meistens trivial.

Nach hunderten von Seiten stellt man schließlich fest, was man hier eigentlich gelesen hat: Es ist kein philosophisches Werk, keine psychologische Betrachtung und kein politologischer Bericht. Es ist einfach nur Meinung. Es ist Frank Urbanioks Sicht der Welt, die er nur all zu oft als objektiv einschätzt. Er schreibt eben, was ihm eben gefällt:

So wünscht er sich in seinen Arbeitsbereichen, der Justiz und der Medizin größtmögliche Freiheiten. Darum befürwortet er die gezielte Anwendung von Folter, Justiz ohne Gesetzesgrundlage und lehnt ärztliche Leitlinien als Deckmäntelchen für mittelmäßige Mediziner ab. Er sieht sie für kreative Ärzte als einschränkend an. Ich denke, solche kennt man ja aus Horrorfilmen. Denn die ärztlichen Leitlinien sind nicht, wie Urbaniok meint, zum Schutz vor unfähigen Ärzten gedacht – gegen diese ist kein Kraut gewachsen. Sie sollen vielmehr den Patienten vor Medizinern schützen, die meinen es wäre besser aus eigener Erfahrung und Kreativität zu behandeln, als nach erprobten, wissenschaftlichen Grundsätzen. Dies finde ich in diesem Buch richtig verstörend.

Andererseits möchte er vor Bereichen, in welchen er nicht selbst schaltet und waltet, wie etwa der Wirtschaft, durch harte Regeln bestmöglichst geschützt werden. Dabei wird auch deutlich, dass er unheimliche Angst vor Kriminalität haben muss.

Insgesamt kann ich dieses Buch nur Leuten empfehlen, die aus irgendeinem Grund genau wissen wollen, wie Frank Urbaniok über die Welt denkt. Sollte er politische Gegner haben – und das nehme ich einmal stark an – so hat er ihnen vermutlich mit diesem Buch selbst genügend Munition für Jahre geliefert.

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Veröffentlicht am 28.04.2021

Leben und Tod

Orpheustränen
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Orpheustränen von Zsóka Schwab geht ein sehr ernstes Thema, den Verlust eines geliebten Menschen, auf behutsame Weise an. Es ist ein Roman, der in fast symbolistischer Weise mit verschiedenen Facetten ...


Orpheustränen von Zsóka Schwab geht ein sehr ernstes Thema, den Verlust eines geliebten Menschen, auf behutsame Weise an. Es ist ein Roman, der in fast symbolistischer Weise mit verschiedenen Facetten seines Kernthemas spielt. Es geht um Vertrauen – in Freunde, in Fremde und vornehmlich in sich selbst – aber auch den Bruch dessen, was sich aber sehr spät offenbart.

Die Protagonistin Nessie hat auch zwei Jahre nach dem Tod ihres besten Freundes Tristan, dem sie nie ihre Liebe gestehen konnte, nicht ins Leben gefunden. Sie ist nicht depressiv, verharrt aber in einer Trauerphase, die ihr vieles vom Alltag einer jungen Frau verbietet. Stattdessen schottet sie sich ab und verbringt viele Stunden auf dem Friedhof. Als ihr angeboten wird, ihren Freund in einem Experiment als ein von ihrem eigenen Kopf geschaffenes Trugbild wieder zu treffen, nimmt sie zögerlich an.

Hieraus ergibt sich eine sehr spannende Dynamik: Sie weiß, dass ihr Gesprächspartner nicht echt ist, doch er möchte sie vom Gegenteil überzeugen. Man fragt sich, ob sie ihre Wünsche, ihre Idealvorstellung von „ihrem“ Tristan in ihn projiziert und ob er nicht nur das sagt, was sie ihn unterbewusst sagen lassen möchte oder ob mehr dahinter steckt. Schließlich ist er sicher der lebendigste Charakter in diesem Buch. Der Zweifel darüber, was genau hier geschieht wird von der Autorin gezielt geschürt ohne den Versuch, den Leser auf irgendeine Art zu verwirren.

Zeitgleich unternimmt Nessies Mitbewohnerin ihre eigenen Versuche, sie ins Leben zurückzuholen. Eine endlose reihe frustrierender Verkuppelungsversuche scheint gerade zu jenem Zeitpunkt zarte Früchte zu tragen, als Nessie beschließt sich der Vergangenheit zu stellen. Hier wird auf sehr subtile Art und Weise ein Konflikt aufgebaut, der den meisten Akteuren des Buches gar nicht bewusst wird. Hat der Heilungsversuch das Problem nur vergrößert, oder gehört dies zum Prozess dazu? Wie würde sich die Geschichte ohne das Trugbild Tristan entwickeln?

Trotz dieser Konflikte strahlt das Buch eine gewisse Leichtigkeit aus. Niemals wird versucht dem Leser à la Nicolas Sparks mit naiver Gewalt auf den Tränendrüsen herumzutrampeln und jeder aufkommende Kitsch wird sofort wieder entlarvt. Beziehungen entwickeln sich langsam und wirken dadurch sehr realistisch. Der Schreibstil ist positiv, reich an Wortwitz und Situationskomik. Man könnte es fast als Gegenentwurf zu literarischen Vorbildern einer ähnlichen Stoßrichtung, wie etwa Rodenbachs „Das tote Brügge“ sehen.

Dies liegt vor allem an den schön gezeichneten, bodenständigen Charakteren. Nessie ist keine brütende Melancholikerin. Sie ist eine junge Frau, die einen Verlust nicht richtig verarbeiten kann, aber das macht nicht ihr ganzes Wesen aus. Tristan scheint von klein auf die Rolle ihres frechen aber wohlmeinenden großen Bruders übernommen zu haben und ist auch nach dem Tod nicht bereit diese aufzugeben. Diese beiden sind besonders durch die eingeschobenen Rückblenden aus Kindheit und Jugend sehr gelungen. Man kann ihnen beiden beim Aufwachsen zusehen, miterleben wir sich ihre Charaktere entwickeln.

Der Freundes- und Familienkreis von Nessies Mitbewohnerin bildet den Kontrapunkt zu dieser Beziehung, quasi im Hier und Jetzt. Sie bringen ihre eigenen Konflikte mit, die angedeutet im Hintergrund mitschwingen. Ihre direkte Konkurrenz zu Nessies aktueller Beziehung mit Tristan wird jedoch mit Fortschreiten des Buches immer deutlicher. Die große, wohlhabende Familie, geprägt von Feiern und innerem Streit kann somit vielleicht symbolhaft für das Leben an sich gesehen werden.

Insgesamt ist es jedoch ein versöhnliches Buch, das in seinem unerwarteten Abschluss sehr rund erscheint. Die Autorin macht durch die Blume eine sehr deutliche Aussage zu vielen Plattitüden, die es zum Thema Trauerbewältigung gibt. Gleichzeitig bleiben Fragen offen – manche davon weil sie eben nicht beantwortet werden dürfen. Das Buch kann auf sehr verschiedene Arten gelesen werden und es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie den Interpretationsspielraum des Lesers nicht über gebühren einschränkt, aber auch nicht aus dem Ruder laufen lässt.

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