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Veröffentlicht am 26.08.2022

Träume sind aus Mut gemacht

Die Frauen vom Reichstag: Ruf nach Veränderung
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Berlin 1926: Marlene von Runstedts Vater stirbt, ohne ein Testament bzgl. seiner Anwaltskanzlei zu hinterlassen. Jetzt muss sich die Abgeordnete der DDP entscheiden, ob sie endlich ihr zweites Staatsexamen ...

Berlin 1926: Marlene von Runstedts Vater stirbt, ohne ein Testament bzgl. seiner Anwaltskanzlei zu hinterlassen. Jetzt muss sich die Abgeordnete der DDP entscheiden, ob sie endlich ihr zweites Staatsexamen ablegen und selber als Juristin arbeiten, oder Max, dem Kanzleipartner ihres Vaters, weiterhin nur zuarbeiten will. Erschwerend kommt hinzu, dass sie sich ihrer Gefühle für ihn nicht klar ist, da sie in ihm seit über 20 Jahren nur ihren besten Freund sieht. Aber als er jetzt ausgerechnet ihre Intimfeindin Sonja Grawitz in einem Fall vertritt und dieser dabei privat näherkommt, wird Marlene eifersüchtig. Zumal es bei dem Fall um die uneheliche Tochter von Sonja und Justus geht, Marlenes vor 6 Jahren verstorbenem Geliebten.

Ihre beste Freundin Sophie Maytrott hat ähnliche Probleme. Sie ist Abgeordnete der Zentrumspartei und mit einem 20 Jahre älteren Mann verheiratet. Er hat ihr vor der Hochzeit versprochen, dass sie ihre politische Karriere weiterverfolgen kann. Allerdings hat er nicht damit gerechnet, dass sie es bis in den Reichstag schafft. Jetzt fordert er plötzlich, dass sie ihrer Rolle als Hausfrau und Stiefmutter seiner halbwüchsigen Kinder gerecht wird. „Es kommt mir seit ein paar Wochen – oder sogar schon Monaten – so vor, als verlöre ich den Boden unter den Füßen. Meine Wünsche und Hoffnungen sind eine Sache, aber meine Pflichten und die Ansprüche meiner Familie eine andere.“ (S. 258)
Außerdem hat sie nach einer Polio-Erkrankung ein gelähmtes Bein, das sie im Alltag extrem beeinträchtigt, und verliebt sich einen katholischen Pfarrer, der ihre Gefühle zu erwidern scheint.

Micaela A. Gabriel schreibt auch im 2. Teil der „Frauen vom Reichstag“ sehr lebendig und mitreißend, lässt das frühere Berlin und die Stimmung und Abläufe im Reichstag wieder auferstehen.

Marlene und Sophie führen in Berlin ein eigenständiges und unabhängiges Leben, engagieren sich in ihren Parteien vor allem für die Fragen und Rechte von Frauen und Kindern. Doch auch durch das Erstarken des Nationalsozialismus werden die Freundinnen von ihren männlichen Parteigenossen in Richtungen gedrängt, mit denen sie nicht konform gehen und die auch nie Ziele ihrer Parteien waren. Sollen sie sich doch beruflich umorientieren?
Marlene will sich immer noch nicht an einen Mann binden, liebt ihre Freiheit und trauert dem Kind nach, das sie damals nicht bekommen hat. Dass sie jetzt Justus` Tochter zu ihrem Recht verhelfen soll, wühlt die bislang erfolgreich verdrängten Erinnerungen erneut auf und bringt sie an ihre Grenzen.
Sophie lebt ihren Glauben sehr intensiv, Nächstenliebe und vor allem -hilfe stehen für sie nach ihrer Arbeit als Abgeordnete an erster Stelle. Je länger sie in Berlin lebt, desto mehr fallen ihr die Einschränkungen durch ihren Mann zu Hause in München auf. Als er ihr ihre Tätigkeit dann sogar verbieten will, muss sie eine Entscheidung treffen. „Der Beschützer, den sie in ihm gefunden zu haben glaubte, entpuppte sich als Wächter, der nicht um sie besorgt war, sondern dem es nur um sich selbst und seinen gesellschaftlichen Ruf ging.“ (S. 368)

De beide Frauen studierte Juristinnen sind, hat Micaela A. Gabriel auch einen echten und extrem spannenden Skandalfall aus dieser Zeit in die Handlung einfließen lassen. Ein 18jähriger soll nach einer Orgie zwei Mitschüler erschossen haben. Die einzige Zeugin ist die Schwester des einen Toten. Marlenes Kanzlei wird mit der Verteidigung des Täters beauftragt und vor allem Sophie arbeitet Max dabei zu. Bei der Recherche nach Beweisen für die Unschuld des Angeklagten, wächst sie über sich hinaus und erlangt nationale Berühmtheit und Anerkennung – die ihrem Mann natürlich nicht auch passen.

Fazit: Spannende Fortsetzung der „Parlamentarierinnen-Reihe“, in der zwei Abgeordnete und Freundinnen für Emanzipation und ihr persönliches Glück kämpfen, aber auch die Rechte von Kindern und Frauen. Aber wie schon beim ersten Teil wurden mir einige politische Details etwas zu ausführlich beschrieben.

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Veröffentlicht am 22.08.2022

Hysterie

Das Kind der Lügen
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Hamburg 1929: Paula Haydorn ist seit einem Jahr eine der ersten Frauen bei der Kriminalpolizei und macht ihren Job wirklich gerne und auch gut, doch die Hinrichtung einer von ihr überführten Mehrfachmörderin ...

Hamburg 1929: Paula Haydorn ist seit einem Jahr eine der ersten Frauen bei der Kriminalpolizei und macht ihren Job wirklich gerne und auch gut, doch die Hinrichtung einer von ihr überführten Mehrfachmörderin hat sie verunsichert und geht ihr noch lange nah. „Und wenn wir doch etwas übersehen haben?“ (S. 11)
Darum ist sie bei ihrem neuesten Fall besonders gründlich. Die gutsituierte aber hysterische Witwe Signe von Arnsberg zeigt erst den Mord ihres Schoßhündchens an und meldet später ihre sechsjährige Tochter Dorothee als vermisst. Außer Paula nimmt sie zunächst niemand ernst. Man glaubt ihr nicht einmal, dass es das Kind wirklich gibt. Dann vermuten Paulas Kollegen, dass sich das Kind und sein Kindermädchen Alma nur verlaufen oder durch etwas haben ablenken lassen, schließlich machen sie hier Urlaub.

„Das Kind der Lügen“ ist bereits der zweite Teil der Reihe mit Paula Haydorn. Sie und ihr Vorgesetzter Martin Broder sind sich im letzten Jahr nähergekommen, aber immer, wenn sie denkt, dass er endlich den nächsten Schritt macht, zieht er sich wieder zurück. Also stürzt sie sich voller Elan in die Arbeit.

Die Suche nach Dorothee und Alma verlangt dem ganzen Team einiges ab. Im Laufe der Ermittlungen geraten neben Signe selbst auch ihr Chauffeur und eine alte Freundin ins Visier der Polizisten – aber nirgendwo findet sich eine Spur von oder zu dem Kind und Kindermädchen. Die Zeit rennt ihnen langsam davon. „Wir sind nicht schnell genug, Paula. Wir suchen zwei Menschen, darunter ein kleines Kind, und tappen auch nach einer Woche immer noch im Dunkeln.“ (S. 162)
Signe erschwert die Nachforschungen, ist übernervös, sehr undurchsichtig und voller Geheimnisse. Sie verrät den Ermittlern immer nur das Allernötigste und belügt sie auch – natürlich nur zum Wohl ihres Kindes, behauptet sie später. Die Situation spitzt immer weiter zu, es gibt sogar Anschläge auf die die Ermittler. Will der Entführer die Polizisten etwa mit allen Mitteln von der Aufklärung des Falles abhalten?!

Helga Glaesener hat einen sehr komplexen Handlungsstrang geschaffen, bei dem man bald nicht mehr weiß, wem bzw. was man noch glauben kann und wer alles involviert ist. Paula und ihre Kollegen ermitteln in Hamburg, Cuxhaven und Bielefeld, dadurch bekommt man einen Einblick in die Örtlichkeiten zur damaligen Zeit, wie die (Zusammen-)Arbeit funktionierte und welche Ermittlungsmethoden angewandt wurden.

Ich finde es toll, dass Paula zwar als starke Frau, aber nicht als überlegene Einzelkämpferin dargestellt wird. Sie ist mutig und kann sich durchsetzen, hat aber auch Schwächen und Ängste. Zusammen mit ihren Kolleginnen hat sie sich inzwischen gut in die Kripo integriert, man kann sich aufeinander verlassen, deckt sich auch schon mal gegenüber Vorgesetzten und geht nach der Arbeit zusammen baden oder ein Bier trinken.

Mein Fazit: Paula ist eine sympathische Ermittlerin mit Ecken und Kanten, die Handlung bis zum Ende spannend und temporeich. Ich bin gespannt auf den nächsten Fall.

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Veröffentlicht am 20.08.2022

Tod im Paradies

Miss Sharp macht Urlaub
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Nachdem Agnes Sharp mit ihrer Senioren-WG (Edwina, Charlie, Winston, Bernadette und der Marschall) den Mord an ihrer Nachbarin aufgeklärt hat, fallen ihr weitere eigenartige Todesfälle in ihrem Ort auf, ...

Nachdem Agnes Sharp mit ihrer Senioren-WG (Edwina, Charlie, Winston, Bernadette und der Marschall) den Mord an ihrer Nachbarin aufgeklärt hat, fallen ihr weitere eigenartige Todesfälle in ihrem Ort auf, die die Polizei einfach als natürliche Tode abtut. Vielleicht sollte sie sich die mal genauer ansehen? Aber nein, ein Abenteuer ist genug. Und als Edwina dann bei einem Preisausschreiben eine Reise für zwei Personen in ein romantisches Öko-Hotel an der Küste von Cornwall gewinnt, klingt das nach einer tollen Abwechslung mit Erholungsgarantie. Sie fahren einfach alle mit – auch, weil man die vergessliche Edwina nirgendwo mehr allein hingehen lassen kann und sie sich nicht einig werden, wer zu Hause bleiben soll …

Das Hotel sieht zwar sehr futuristisch aus und liegt etwas abgelegen direkt an der Steilküste, ist aber sehr heimelig und das Personal wirklich nett. Die Bewohner von Sunset Hall lassen sich nach Strich und Faden verwöhnen. „Das Eden schien ein Ort, an dem einen nichts Böses zustoßen konnte.“
Doch schon am ersten Abend beobachtet Agnes ein verliebtes Pärchen, das in Richtung der Klippen geht, und hört kurz darauf einen Schrei – und nur eine Person kommt zurück. Ist etwa ein Unfall passiert? Oder gar oder ein Mord? Allerdings wird niemand vermisst. „Vielleicht spielte sich der ganze Mordfall ja doch nur in ihrem Kopf ab?“ Aber dann wird das Hotel durch einen Erdrutsch von der Außenwelt abgeschnitten und eine Leichen nach der anderen taucht auf. Agnes und ihre Freunde nehmen die Ermittlungen auf.

Auch der zweite Fall der skurrilen Rentner-WG hat mich wieder bestens unterhalten. Die alten Leutchen sind herrlich schräg und machen das Beste aus ihren Gebrechen. Agnes hört kaum noch – zum Glück, da kann sie in Ruhe nachdenken. Edwina ist dement, dann kann sie sich wenigstens alles erlauben und auch ein neues, gefährliches Haustier anschleppen und einen jungen Mann im Schrank verstecken. Und Bernadette ist zwar blind, hört und riecht dafür aber besonders gut. Zudem waren sie früher alle bei der Polizei bzw. dem Geheimdienst und wissen, wie man Nachforschungen anstellt und was man alles als Waffe benutzen kann. Man darf sich nur nicht von den herrlich weichen Sesseln und Betten, den leckeren Mahlzeiten, Gratis-Drinks und dem Eis-Buffet ablenken lassen und schließlich selber verdächtigt werden …

Leonie Swann unterhält und fesselt ihre Hörer bzw. Leser gleichermaßen. Die Bewohner von Sunset Hall ermitteln in alle Richtungen, da als Täter sowohl Gäste als auch das Personal in Frage kommen. Und als Bernadette von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, muss sie sich der Frage stellen, ob nicht sogar ein alter Freund und Profikiller sein Unwesen im Eden treibt.

„Was einem Niemand sagt, wenn man mit dem Morden anfängt, ist, wie stressig es ist. Ständig auf dem Sprung, nie hat man Zeit, nie hat man Zeit, die Sache ein wenig bewusst anzugehen. Immer nur alles schnell, schnell …“
Ich mag den trockenen Humor der Reihe und habe mich gefreut, dass Anna Thalbach den verschiedenen Protagonisten wieder ihre raue, kratzige und damit perfekt passende Stimme geliehen hat. Hoffentlich ermittelt die Senioren-WG bald wieder!

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Veröffentlicht am 14.08.2022

Wunder gescheh´n

Die Freundinnen vom Strandbad (Die Müggelsee-Saga 2)
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„Wir sind nun einmal keine Kinder mehr …“ (S. 238) Clara fehlt ihren Freundinnen Betty und Martha, aber sie können verstehen, dass sie die Chance auf ein Leben in Freiheit und vielleicht sogar ihrem Wunschberuf ...

„Wir sind nun einmal keine Kinder mehr …“ (S. 238) Clara fehlt ihren Freundinnen Betty und Martha, aber sie können verstehen, dass sie die Chance auf ein Leben in Freiheit und vielleicht sogar ihrem Wunschberuf Astronautin einem Leben in der immer enger werdenden DDR vorgezogen hat und in allerletzter Minute geflüchtet ist. Doch ist sie auch lebend „drüben“ angekommen und glücklich? Ihre Ungewissheit hält lange, bis sie endlich eine verschlüsselte Nachricht bekommen.
Inzwischen feiert Betty eine Traumhochzeit mit Kurt und ist schwanger, versucht eine perfekte Ehefrau zu sein und führt ein angebliches Vorzeigeleben. Martha schafft es gegen alle Widerstände, einen Job bei der progressiven Frauenzeitschrift Evelyn zu ergattern. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Kurt betrügt Betty und ihre Eltern verlangen, dass sie wegsieht. „Geh nach Hause und reiß dich zusammen. Unsere Familie hatte immer einen tadellosen Ruf, und das soll auch so bleiben.“ (S. 177) Und Martha rebelliert immer häufiger und offener gegen das System. Als Betty eine Tragödie widerfährt, soll sie Martha für die Stasi bespitzeln …
Zur gleichen Zeit kämpft Clara in Westberlin gegen ihr Heimweh und sucht verzweifelt Halt und eine neue Perspektive. Findet sie das alles bei ihrer Retterin Lilli, die sie nach ihrer Flucht aufgenommen hat, oder dem Unbekannten, mit dem sie immer wieder zusammenstößt?

„Wogen der Freiheit“ ist die gelungene Fortsetzung und leider auch der Abschlussband der „Freundinnen vom Strandbad“, und verfolgt die Lebenswege der drei Frauen vom Bau der Mauer bis zu deren Fall 1989 bzw. bis kurz vor die Wiedervereinigung 1990.

Martha, Betty und Clara sind mir sehr ans Herz gewachsen. Ich habe wieder mit ihnen mitgefiebert, ihre unterschiedlichen Karrieren und vor allem ihre Emanzipation verfolgt. Sie werden in den zwei Bänden der Müggelsee-Saga in mehr als nur einer Hinsicht erwachsen. Ihre Kleinmädchen-Träume und Schwärmereien zerschellen ja schon im ersten Band auf dem Boden der Realität. Bettys große Liebe stammt aus dem Westen und ist damit nach dem Mauerbau für sie unerreichbar, also gibt sie dem Werben des berühmten Regisseurs Kurt Weiler nach. Marthas Familie entpuppte sich als Fälschung, und Clara wird kurz vor dem Abi wegen politischer Diskussionen von der Schule geworfen und bekommt nur Aushilfsjobs.

„Ist Erwachsensein ein Alter oder ein Gefühl?“ „Langsam denke ich, dass es nur darum geht, sich verzweifelt auf das Gute zu konzentrieren und das viele Schlimme auszublenden, weil man sonst kaputtgeht. Ein verzweifeltes Kopf-über-Wasser-Halten.“ (S. 351) Auch nach dem Mauerbau wird es nicht besser, die Probleme nicht kleiner. Die Freundinnen suchen ihren jeweiligen Platz im Leben, müssen entscheiden, mit wem und welchen Kompromissen sie leben können oder wollen, was sie wirklich glücklich macht. Ihre Schicksale sind sehr unterschiedlich und bewegend. Sie müssen mit Dramen und Problemen fertigwerden, sich zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Männern entscheiden. Zudem testen Betty und Martha aus, wie weit sie nicht nur für ihre eigene, sondern auch die Freiheit aller gehen, inwieweit sie sich gegen das System auflehnen wollen bzw. können.
Ich fand es toll, dass sie die ganze Zeit der Trennung über an dem Glauben und der Hoffnung festgehalten haben, dass sie sich nicht nur wiedersehen werden, sondern auch die Trennung der Stadt bzw. Staaten aufgehoben wird.

Julie Heiland hat die Unterschiede zwischen dem Leben in der DDR und Westberlin toll herausgearbeitet. Im Osten wird es immer farb- und trostloser, man muss für alles anstehen, wenn es denn überhaupt mal was zu kaufen gibt, während die Reklame und Läden im Westen nicht bunt genug sein können und Clara reisen kann, wohin sie will.

Auch „Wogen der Freiheit“ hat mich wieder sehr gut unterhalten – Julie Heiland kann extrem anschaulich schreiben – und an meine Vergangenheit in der DDR erinnert. Schade, dass die Reihe jetzt zu Ende ist.

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Veröffentlicht am 09.08.2022

Das Glück der kleinen Dinge

Die Rückkehr der Kraniche
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„Bevor ich sterbe, möchte ich, dass ihr beide euch wieder vertragt.“ (S. 73)
Zwei Schwestern, die verschiedener kaum sein könnten, eine Mutter, die ihre Liebe nicht zeigen kann und eine Enkelin, die ihre ...

„Bevor ich sterbe, möchte ich, dass ihr beide euch wieder vertragt.“ (S. 73)
Zwei Schwestern, die verschiedener kaum sein könnten, eine Mutter, die ihre Liebe nicht zeigen kann und eine Enkelin, die ihre Tante mehr zu lieben scheint als ihre Mutter. Vier Frauen aus drei Generationen unter einem Dach – wie lange kann das gutgehen?

„Es war ihr Kreuz, sich nach fernen Ländern zu sehnen und doch wieder in das in die Jahre gekommene Elternhaus zurückzukehren. So wie jeden Tag in den letzten 50 Jahren.“ (S. 10) Grete hat das Hamburger Marschland und ihr Elternhaus nie verlassen. Bisher hat sie das nicht gestört. Sie liebt ihre Heimat und ihren Job als Vogelwartin beim Naturschutzverein auf „ihrer“ kleinen Insel in der Elbmarsch. „Hier war ihr Seelenort, … wo die Zeit einem ewig fließenden Gewässer glich, in dem ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag war. Wenn sie doch nur hier draußen leben könnte, dann wäre die Last, ihr Leben lang an einem Ort festzuhängen, besser zu schultern.“ (S. 14) Aber kurz vor ihrem runden Geburtstag wird sie dann doch nachdenklich – soll es das jetzt schon gewesen sein?

Ihre Mutter Wilhelmine ist früh verwitwet, Grete hat ihr schon als Kind geholfen, die jüngere Schwester Freya aufzuziehen. Als Freya mit 18 die Familie verließ, wurde Grete unverheiratet schwanger und zog ihre Tochter Anne mit Wilhelmines Hilfe auf. Und als Anne flügge wurde, brauchte Wilhelmine Gretes Hilfe auf dem Resthof. Jetzt bekommt Grete ein berufliches Angebot, von dem sie viele Jahre geträumt hat, da wird Wilhelmine krank. Muss sie wieder verzichten? Sie bittet Freya, die inzwischen eine erfolgreiche Firma in Berlin leitet, und Anne, die mit knapp 30 noch studiert, nach Hause zu kommen. Doch es wird kein friedliches Wiedersehen. Stattdessen brechen alte Wunden, Vorwürfe und schon oft gestellte Fragen nach streng gehüteten Geheimnissen wieder auf. „Keiner will hören was ich denke!“ „Weil in dieser Familie niemand die Wahrheit hören möchte.“ (S. 68)

Freya kommt Gretes Hilferuf gerade recht. Ihr Freund hat sie verlassen, weil sie ihm zu distanziert war und keine Kinder bekommen konnte – dabei hat sie sich immer nach einer eigenen Familie gesehnt. Sie wollte die Probleme zu Hause wie immer mit Geld regeln und schnell zurück, aber dann stellt sie fest, wie ruhig es dort ist, wie sehr sie das alles vermisst hat, wie sehr es sie erdet. Sie stellt sich endlich den Fehlern ihrer Vergangenheit „… ich habe die Menschen verletzt, die mich bedingungslos geliebt haben. Nur um endlich respektiert zu werden.“ (S. 154) und denkt über ihre Zukunft nach.

Anne ist gegenüber Grete immer gereizt, versteht alles negativ. Sie glaubt ihr nicht, dass sie wirklich das Ergebnis eines One-Night-Stands ist, fühlt sich nur von Freya verstanden und hat ein Geheimnis, von dem sie noch nicht weiß, wie sie es den Anderen beibringen soll.

Wilhelmine hat ein schweres, arbeitsreiches Leben hinter sich und nach dem Tod ihres Mannes, ihrer großen Liebe, nie wieder einen Mann an sich herangelassen. „Sie war einen Hansen, aus hartem Holz geformt, von Sturm und Wasser geschliffen wie ein Stück Strandgut, das die Elbe mit sich trug.“ (S. 222) Sie will leben oder sterben, aber nicht im Bett dahinsiechen, wie es der Arzt und ihre Gesundheit verlangen. Aber vorher muss sie den Mädchen noch etwas Wichtiges sagen – sie sollen es nicht erst nach ihrem Tod erfahren.

Romy Fölck schreibt sehr intensiv und detailreich, aber auch poetisch über ein hartes Leben, das sich nach den Jahreszeiten und der Natur richtet. So war es schon bei Wilhelmine und auch Grete hält es so. Neben dem Beobachten der Vögel bäckt sie Brot nach alten Rezepten, hält Bienen und bestellt einen großen Nutzgarten. Sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, ist im Marschland verwurzelt und gestattet sich nur selten, von einem ganz bestimmten Mann und einem anderen Leben zu träumen.
Wilhelmine hat es immer für selbstverständlich genommen, dass Grete, die Ältere, ihr hilft, während das Nesthäkchen verwöhnt wurde. Darum hat es sie auch so getroffen, dass Freya sie damals ohne Abschied verlassen hat.

Die Handlung ist sehr dicht, fast schon ein Kammerspiel. Der alte Hof wird zum Mittelpunkt der Handlung und Familie. Zusammen unter einem Dach werden endlich alle Probleme angesprochen und Lösungen gesucht, Geheimnisse gelüftet.

Mir hat besonders gefallen, wie Gretes Liebe zur Natur, ihre Beobachtungen und Eindrücke dargestellt werden. Man kann die Marschlandschaft, die verschiedenen Vögel und den Nebel über dem Wasser kurz vor Sonnenaufgang förmlich vor sich sehen, die Stimmungen spüren.

„Die Rückkehr der Kraniche“ ist eine bewegende Geschichte über Familie und Träume, über Neuanfänge und den Mut zur Veränderung.

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