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Veröffentlicht am 30.04.2021

Neuanfang

Fräulein Gold: Der Himmel über der Stadt
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Hulda liebt die Arbeit als Hebamme in ihrem Viertel und ihre Unabhängigkeit. Doch die Hyperinflation und Währungsreform haben dazu geführt, dass ihre Einkünfte immer weniger werden. Ein Ehemann wäre die ...

Hulda liebt die Arbeit als Hebamme in ihrem Viertel und ihre Unabhängigkeit. Doch die Hyperinflation und Währungsreform haben dazu geführt, dass ihre Einkünfte immer weniger werden. Ein Ehemann wäre die Lösung. Einer, der ihr weiter ihre Freiheiten und ihre Arbeit lässt. Aber Karl, der Kommissar mit dem sie seit fast zwei Jahren zusammen ist, scheint keine ernsthaften weiterführenden Zukunftspläne mit ihr zu haben. Also nimmt sie eine Stelle in Frauen-Universitätsklinik Berlin-Mitte an – endlich feste Arbeitszeiten und ein gutes Gehalt. Doch die Arbeit ist anders als erwartet. Sie ist nur noch Handlangerin, darf die Schwangeren nur vor- und nachbereiten. Die eigentlichen Geburten betreuen die Ärzte, immer mit einer großen Entourage an Hebammenschülerinnen, Praktikanten und Assistenzärzten im Schlepptau. Alles ist so unpersönlich, nur auf den medizinischen Aspekt ausgerichtet. Hulda hadert mit der Situation und überlegt, doch wieder in ihr Viertel zurückzugehen. Dazu kommt, dass die leitenden Ärzte untereinander uneins sind, es gibt Kompetenzgerangel und einen (Wett-)Streit um die Professur an der Friedrich-Wilhelm-Universität. Zudem fällt Hulda auf, dass es unnatürlich viele Todesfälle unter den Gebärenden gibt. Sie weiß zwar, dass die Todesrate bei Hausgeburten noch höher ist, aber die Art und Weise, wie bzw. woran die Frauen sterben gibt ihr zu denken. Natürlich kann sie ihre Neugierde nicht zügeln ...

„Fräulein Gold – Der Himmel über der Stadt“ ist bereits der dritte Teil der Reihe mit der forschen und furchtlosen Hebamme, die sich von kaum jemandem etwas sagen lässt und sich jetzt mit ihren Vorgesetzten anlegt. Doch den Frauen gegenüber sie ist sehr mitfühlend und kann nicht nein sagen, wenn sie um Hilfe bitten. Sei es, weil eine nicht schwanger werden kann oder will oder es nicht sein darf. Dass Hulda sich damit selber in Gefahr bringt, weil Verhütung nicht gern gesehen und Abtreibung verboten ist, ignoriert sie einfach. Sie vertritt die Meinung, dass die Frauen selber über ihren Körper bestimmen sollen. Für diese fortschrittliche Einstellung bewundere ich sie sehr, denn Frauen hatten damals als Ehefrauen und Mütter ihren Platz im Leben zu suchen und zu finden.
Dass Hulda diesem Frauenbild so gar nicht entspricht, fand Karl immer sehr anziehend, doch langsam will sie mehr – vielleicht sogar irgendwann ein eigenes Kind im Arm halten. Aber ist Karl wirklich der richtige dafür? Er flüchtet sich immer mehr in den Alkohol und hat aufgehört, nach seiner Herkunft zu suchen, scheint nichts mehr zu haben, was ihm Halt gibt. Außerdem ist da ein junger Assistenzarzt in der Klinik, der Hulda schon am ersten Tag auffällt. Es knistert zwischen ihnen. Ist er vielleicht der Richtige für eine gemeinsame Zukunft?

Obwohl einige Leser bestimmt wieder einen Krimi erwarten, ist der dritte Band eher ein Spannungsroman, wenn auch ein extrem fesselnder. Karl jagt einen Mörder, der es auf junge, homosexuelle Männer abgesehen hat und Hulda versucht die Todesfälle in der Klinik aufzuklären. Zudem feindet einer der Ärzte sie immer wieder wegen ihrer jüdischen Herkunft an und sie muss sich auch mit der Beziehung ihrer Eltern auseinandersetzen. Doch nicht nur Hulda, auch ihr Freund Bert, der Kioskbesitzer, bekommt die Vorläufer des Nationalsozialismus zu spüren.

Die Autorin Anne Stern hat Huldas Zerrissenheit zwischen Fortschritt und Individualität, Gehen oder Bleiben, Karl oder Assistenzarzt sehr gut herausgearbeitet. Ich bin fasziniert, wie liebevoll sie selbst die kleinsten Nebenfiguren gestaltet und habe neben Bert zwei neue heimliche Lieblinge, den Pförtner der Klinik, ein echtes Faktotum, und seine Tochter.
Sie schildet den Klinikalltag, den medizinischen Fortschritt und die Behandlungsmethoden sehr anschaulich, aber trotzdem steht immer Hulda im Vordergrund, ihr Ringen um das Wohl der Patientinnen und deren Kinder.
Aber auch die goldenen 20er lassen sich schon erahnen. Hulda tanzt nach dem Dienst schon mal in schummrigen Kneipen die Nächte durch, raucht und trinkt, feiert das Leben. Anne Stern versteht es meisterliche, die damalige Zeit lebendig werden zu lassen, die Nöte und Sorgen ihrer Protagonisten eindringlich zu schildern.

Auch der dritte Band mit Hulda Gold ist ein echtes Highlight und ich fiebere jetzt dem vierten entgegen, denn die kleine Romantikerin in mir hofft natürlich auf ein Happy End mit Karl.

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Veröffentlicht am 25.04.2021

Das verschwundene Mädchen

Der tote Rittmeister
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„Viktoria atmete tief ein. Endlich war sie da.“ (S. 21)
Juni 1913: Viktoria Berg verbringt die Sommerfrische wieder auf Norderney. Sie ist inzwischen Lehrerin und besucht hier ihre Schülerin Elli, die ...

„Viktoria atmete tief ein. Endlich war sie da.“ (S. 21)
Juni 1913: Viktoria Berg verbringt die Sommerfrische wieder auf Norderney. Sie ist inzwischen Lehrerin und besucht hier ihre Schülerin Elli, die wegen einer schweren TBC im Seehospiz liegt. Am Tag zuvor ist deren beste Freundin Rike verschwunden und Elli bittet sie, diese zu suchen. Als die Krankenschwestern behaupten, Rieke existiere nur in Ellis Fantasie, wird Viktoria hellhörig – sie glaubt ihrer Schülerin mehr und begibt sich auf die Suche nach der Verschwundenen.
Auch der Journalist Christian Hinrichs ist wieder auf der Insel. Er berichtet über die Feierlichkeiten zum 25jährigen kaiserlichen Thronjubiläum, als bei einem Offiziersrennen zu Pferd am Strand ein toter Rittmeister gefunden wird. Christian fällt sofort auf, was bei dem Toten alles nicht stimmt und teilt dies dem ermittelnden königlichen Badekommissar mit, der ihn daraufhin als Hilfsbeamten rekrutiert.

„Der tote Rittmeister“ ist der zweite Band mit den unkonventionellen Ermittlern Viktoria und Christian, die sich im Vorjahr hier auf Norderney kennengelernt und zusammen einen Mord aufgeklärt haben. Aus der sich dabei vorsichtig anbahnenden Beziehung ist leider nichts geworden, weil Viktoria als Lehrerin nicht verheiratet sein darf und ihr der Beruf und damit ihre Selbstverwirklichung wichtiger war als ein Ehemann. Christian konnte ihre Entscheidung nicht nachvollziehen und ist immer noch sauer. Doch da Rieke und der tote Rittmeister oft zusammen gesehen wurden und sie ist ausgerechnet in der Nacht verschwand, als er ermordet wurde, begegnen sich Viktoria und Christian im Rahmen ihrer Ermittlungen wieder und sind sich schnell einig: Das kann kein Zufall sein!

Wie bereits bei „Die Tote in der Sommerfrische“ verbindet die Autorin Elsa Dix einen extrem spannenden Kriminalfall mit dem tollen historischen Setting von Norderney und lässt so Geschichte wieder lebendig werden. Sie schildert das mondäne Leben auf der Insel, beschreibt sehr anschaulich die schicken teuren die Hotels und die gutsituierten Gäste. Man trifft sich zu Tee und Mokkatorte, Salonkonzerten oder Abendveranstaltungen und es werden zukünftige Ehen angebahnt. Auf der anderen Seite marschieren aber auch Kinder in Uniform und strenger Formation über die Promenade und die Borkum rühmt sich, die erste judenfreie Insel der Nordsee zu sein – der Nationalsozialismus ist bereits zu erahnen.
Die Ermittlungen gestalten sich schwieriger als gedacht und gehen in verschiedenen Richtungen, was das Miträtseln besonders interessant machte. Ich hatte diesmal zwar relativ früh einen Verdacht, aber der war natürlich nur ein Teil der Lösung und der Täter und sein Motiv haben mich am Ende dann doch sehr überrascht.

Ich mag an Viktoria und Christian besonders, wie modern und aufgeschlossen sie sind. So diskutiert Viktoria leidenschaftlich über das Thema Frauenwahlrecht und verprellt damit die Damen und Herren von Stand und Christian lässt sich weder von der Familie des Toten noch vom Inselpolizisten in seine Nachforschungen reinreden.
Auch zwischenmenschlich knistert es wieder, Viktoria hat einen gutsituierten Verehrer und Christian ist eifersüchtig – ich hoffe sehr, dass aus ihnen doch noch ein Paar wird.
Außerdem bekommt Christian ein Angebot des königlichen Badekommissar, über das er ernsthaft nachdenken muss, denn sein Job als Journalist füllt ihn schon lange nicht mehr aus …

5 Sterne und meine Leseempfehlung für diesen spannenden, charmanten und sehr kurzweiligen historischen Nordseekrimi mit viel mondänem Flair. Kaum ausgelesen, hoffe ich schon auf das nächste Abenteuer von Viktoria und Christian.

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Veröffentlicht am 22.04.2021

Auf den Spuren ihres Vaters

Die Tochter meines Vaters
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Sigmund Freud dürfte jedem Interessierten ein Begriff sein, aber wer kennt schon seine Tochter Anna? Ich bin ehrlich, ich hatte noch nie von ihr gehört, dabei war sie eine Vorreiterin auf dem Gebiet der ...

Sigmund Freud dürfte jedem Interessierten ein Begriff sein, aber wer kennt schon seine Tochter Anna? Ich bin ehrlich, ich hatte noch nie von ihr gehört, dabei war sie eine Vorreiterin auf dem Gebiet der Kinderanalyse.

Romy Seidel beschreibt in „Die Tochter meines Vaters“ wie eng das Leben von Vater und Tochter in den Jahren 1922 bis 1939 (bis zu seinem Tod) verknüpft war. Sie erzählt von der Liebe einer Tochter zu ihrem Vater, der fast bedingungslosen Selbstaufgabe und jahrelangen Pflege während seiner schlimmen Krebserkrankung, aber auch, wie Anna nach seiner Anerkennung für ihre Arbeit strebt, nach seinem Lob. Sie war seine Vertraute, Sekretärin und Vertretung, hat sich stets um ihn gesorgt und ihm umsorgt – und oft auch niemanden an ihn rangelassen, ihn von allen anderen abgeschirmt, hatte ich das Gefühl.
Als jüngstes von 6 Kindern hat sie ihm immer nachgeeifert und sich, obwohl sie Lehrerin war, von ihm zur Analytikerin ausbilden lassen. Trotzdem arbeitete sie erst „nur“ als Englisch-Übersetzerin in seinem Psychoanalytischen Verlag und behandelte die Patienten mit ihm zusammen. Erst mit 27 spezialisierte sie sich auf die Behandlung von Kindern, ein bis dahin unerforschtes Gebiet, gründete Kitas, Schulen und Kinderheime (für Kriegswaisen) „Ich möchte Kindern helfen, ihre Angst zu verlieren und sie stark fürs Leben machen.“ (S. 49)
Anna hat sich nie nach einem Mann und eigenen Kindern gesehnt, aber sie träumte von Zweisamkeit, jemanden der sie versteht und so nimmt wie sie ist. Die ungewöhnliche Beziehung, die sie dann eingeht, scheint in der Familie nie groß thematisiert oder diskutiert worden zu sein und auch die Autorin geht sehr sensibel und rücksichtvoll mit dem Thema um.
Dadurch, dass Anna immer bei ihren Eltern gewohnt hat, bekommt man auch einen sehr guten Einblick in das Familienleben der Freuds.

Romy Seidel ist es gelungen, ein sehr lebendiges, unglaublich fesselndes und informatives Portrait über diese starke Frau zu verfassen. Sie beschreibt Annas intuitive Arbeit mit den kleinen Patienten sehr anschaulich, wie lernfähig und flexibel sie war, dass sie immer wieder Neues ausprobiert und sich nicht geärgert hat, wenn mal was schief gegangen ist.
Ich bin durch die 400 Seiten förmlich geflogen und fand es etwas schade, dass Annas Leben nach dem Tod ihres Vaters nur noch kurz umrissen wurde, denn ihre Karriere war da noch längst nicht vorbei. Ich hätte nochmal 400 Seiten über sie lesen können …

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Veröffentlicht am 21.04.2021

Ich schenk Dir einen Toten

Mord frei Haus
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… steht auf der Karte an der Leiche, die in rotes Geschenkpapier mit einer riesigen Schleife verpackt vor Annabelles Tür liegt. Nach der Polizei ruft Annabelle sofort ihre Tante Daphne Penrose an – die ...

… steht auf der Karte an der Leiche, die in rotes Geschenkpapier mit einer riesigen Schleife verpackt vor Annabelles Tür liegt. Nach der Polizei ruft Annabelle sofort ihre Tante Daphne Penrose an – die Postbotin und ihr Mann Francis haben nämlich bereits zweimal bewiesen, dass sie schlauer sind und sich in Cornwall besser auskennen als Chief Inspector James Vincent. DCI Vincent verdächtigt dann auch tatsächlich nur Annabelle, weil der Tote ihr Nachbar George Huxton ist, der sie unermüdlich mit Prozessen überzogen hat. Allerdings hat sich Huxton bei fast allen Bewohnern des Städtchens Fowey unbeliebt gemacht – aber wer von ihnen würde ihn deswegen ermorden?
Huxton bleibt nicht der einzige Tote und der Mörder schickt noch weitere Nachrichten an Annabelle, trotzdem haben Daphne und Francis Probleme, ihn zu ermitteln. Sie müssen tief Huxtons Vergangenheit und in den Geheimnissen ihrer Mitbürger wühlen, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Damit bringt sich Daphne selber in Lebensgefahr.
Außerdem sorgen sie sich um ihre Freundin Lady Wickelton. Die Gesundheit der alten Dame verschlechtert sich rapide und DCI Vincent versucht das auszunutzen und ihr das Haus abzukaufen, dabei wollte die es für ein Museum stiften.

„Mord frei Haus“ ist bereits der dritte Band der Cornwall-Krimi-Reihe von Thomas Chatwin mit der ermittelnden Postbotin, aber man muss die Vorgängerbände nicht zwingend lesen, da die Handlung jeweils in sich abgeschlossen ist.

Daphne und Francis sind sehr sympathische Ermittler. Sie drängen sich den Auszufragenden nicht auf, sondern gehen sehr geschickt vor. Zudem erfahren sie als Postbotin und Hafenmeister sowieso viele Neuigkeiten vor allen anderen. Ich mag das Pärchen, weil sie auch nach 25 Jahren Ehe noch so harmonisch miteinander umgehen, ihrem Partner alle Freiheiten lassen und genau wissen, was sie aneinander haben und wie sie den anderen nehmen müssen. Sie sind beide sehr clever und geübt im Umgang mit Menschen, man vertraut sich ihnen gern an.

Die Handlung ist spannend und verzwickt. Ich hatte zwar einige Vermutungen zum Täter und seinem Motiv, aber die waren am Ende natürlich falsch. Wobei mir für Auflösung dann ein paar zu viele Zufälle zusammenkamen, aber dafür gab es einen sehr amüsanten Nebenstrang …

Thomas Chatwin versteht es den Leser zu fesseln, gut zu unterhalten und Lust auf Urlaub in Cornwall zu machen. Ich bin schon sehr gespannt auf den nächsten Fall von Daphne und Francis.

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Veröffentlicht am 18.04.2021

Mitarbeiterin, Modell, Geliebte

Die Bildhauerin
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„Die Bildhauerei war ihr Ursprung und ihr Lebensquell. Wenn sie nicht modellierte, hörte sie auf zu existieren.“ (S. 12) Camille Claudel formt schon als Kind Figuren aus Lehm und zwingt das Dienstmädchen, ...

„Die Bildhauerei war ihr Ursprung und ihr Lebensquell. Wenn sie nicht modellierte, hörte sie auf zu existieren.“ (S. 12) Camille Claudel formt schon als Kind Figuren aus Lehm und zwingt das Dienstmädchen, diese im Ofen zu brennen. Für sie ist klar, dass sie Bildhauerin werden will – nur Bildhauerin. „Ich werde niemals heiraten ... Ich lasse nicht zu, dass mir einer meine Freiheit raubt und mir verbietet, mich meiner Kunst zu widmen.“ (S. 20) In den Augen ihrer Mutter ist diese Äußerung ein Skandal, für sie kann eine Frau nur als Ehefrau und Mutter ihrer Bestimmung gerecht werden. Ihr Vater hingegen erkennt ihre außergewöhnliche Begabung schon früh und fördert sie entsprechend. Er ist sehr gebildet und hat eine umfassende Bibliothek, die Camille und ihr jüngerer Bruder Paul systematisch durcharbeiten.
1881 zieht die Familie nach Paris, wo Camille an der Académie Colarossi Unterricht bei dem Bildhauer Alfred Boucher erhält, obwohl er ihr nach eigener Aussage nicht mehr viel beibringen. Zusätzlich betreibt sie mit drei Engländerinnen, u.a. Jessie Lipscomp, noch ein eigenes Atelier, wo sie erst von Boucher und später von August Rodin unterrichtet werden. Der 24 Jahre ältere Rodin fasziniert Camille vom ersten Augenblick. Seine Kunst ist anders, naturalistisch, roh, expressiv, anregend – genau wie er. Obwohl sie immer wieder gewarnt wird, wird sie erst zu seiner Mitarbeiterin, dann zu seinem Modell und schließlich zu seiner Geliebten. „Weil ich ihn über alles liebe … Weil wir in unserer Arbeit perfekt harmonieren. … Weil er mir das Gefühl gibt, lebendig zu sein.“ (S. 228)

Pia Rosenberger hat mit „Die Bildhauerin“ ein ganz außergewöhnliches Portrait dieser Ausnahmekünstlerin geschaffen. Sie bringt dem Leser Camilles Ringen um Weiterentwicklung, Akzeptanz, Anerkennung („Kunst ist Kunst, egal, ob ein Mann oder eine Frau sie schafft.“ (S. 62)) und um Rodins bedingungslose Liebe nahe. Sie zeigt ihre Zielstrebigkeit und Ehrgeiz, wie sie fast schon verbissen um alles kämpft, was ihr wichtig ist und sich dabei auch über die Ansichten und Grenzen der damaligen Zeit hinwegsetzte.
Camille war sehr leidenschaftlich, intelligent und kreativ, scheint aber Umgang mit anderen Menschen sehr unnachgiebig gewesen zu sein. „Dir ist kein Preis zu hoch für dein Kunst, oder? Du bist sogar bereit, deine Freunde dafür zu opfern. Pass auf, dass du nicht irgendwann allein dastehst.“ (S. 22) Vielleicht lag das daran, dass sie nie eine richtige Kindheit hatte, von ihrer herrschsüchtigen und stets unzufriedenen Mutter nicht geliebt wurde und immer ihren Vater beeindrucken wollte, um seiner Förderung und seinen Ansprüchen gerecht zu werden.
Ihre Beziehung zu Rodin ist sehr symbiotisch und explosiv, beide sind nicht besonders kompromissbereit, wenn es um ihre Arbeit und ihre Vorstellung vom Zusammensein geht. „Rodin war ein Menschenfresser, der seine Modelle im Namen der Kunst abnagte und ihre Knochen nach getaner Arbeit ausspuckte und hinter sich warf.“ (S. 297) Doch so sehr sie sich auch privat fetzen, in der Kunst ergänzen sie sich perfekt. Sie reiben sich aneinander und entwickeln sich dabei weiter, interpretieren die gleichen Themen, tragen oft eine Art Wettkampf um die beste Umsetzung aus. Das gipfelt in ihrer Arbeit an der Sakuntala-Plastik, in der alle, die sie kennen, den Spiegel ihrer Beziehung zu Rodin sehen – die verlassene Frau, die immer wieder vergibt.

Auch ihr Bruder Paul und ihre innige Beziehung zueinander hat Eingang in das Buch gefunden. Auch er sieht sich in erster Linie als Künstler und grenzt sich von der Familie ab, aber im Gegensatz zu ihr sucht er einen Brotberuf, der ihm genügend Freiheiten lässt.

Das alles schildert Pia Rosenberger sehr lebendig und mitreißend, man kann sich in die Emotionen der verschiedenen Charaktere gut einfühlen. Sehr unterhaltsam fand ich auch die „Gastauftritte“ von Claude Debussy, der Camille ebenfalls umgarnt ...

Leider war auch dieses Buch der Reihe „Außergewöhnliche Frauen zwischen Aufbruch und Liebe“ viel zu schnell ausgelesen und jetzt fiebere ich dem nächsten Roman der Autorin entgegen, in dem es um Niki de Saint Phalle gehen wird.

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