Nur 40 km
Das Haus des LeuchtturmwärtersLützow 1992: Franzi ist Thriller-Schriftstellerin und hat eine Schreibblockade. Um Abstand zu gewinnen und sich aufs Schreiben zu konzentrieren, kehrt sie dahin zurück, wo sie die glücklichste Zeit ihre ...
Lützow 1992: Franzi ist Thriller-Schriftstellerin und hat eine Schreibblockade. Um Abstand zu gewinnen und sich aufs Schreiben zu konzentrieren, kehrt sie dahin zurück, wo sie die glücklichste Zeit ihre Kindheit verbracht hat – in das ehemalige Haus ihres Vaters, des Leuchtturmwärters. Das steht einsam am Meer auf einem Hügel kurz vor der ehemaligen innerdeutschen Grenze. „Die Leere kam ihr seltsam fremd vor, und doch spürte sie eine kindliche Vertrautheit zwischen den Wänden.“ (S. 14) Unter den Dielen ihres alten Kinderzimmers findet sie ein 30 Jahre altes Tagebuch.
„Der Leuchtturm hat mir immer Halt und Sicherheit gegeben, egal wie ungestüm die Zeiten waren. Als meine Mutter starb, war das alte runde Backsteingebäude neben meinem Vater mein zweiter Anker.“ (S. 168)
1962 wohnt Else in diesem Zimmer. Auch ihr Vater ist Leuchtturmwärter, aber im Gegensatz zu Franzi ist Else nicht glücklich. Ihre Mutter hat sich vor 9 Jahren angeblich in der Ostsee ertränkt, ihr Vater redet mit ihr nicht darüber und das schon zugesagte Abitur hat man ihr verweigert. Jetzt arbeitet sie in der HO-Gaststätte und träumt davon, doch noch Medizin zu studieren.
Ihrer Freundin Lulu und deren Freund Otto geht es ähnlich. Lulu möchte die Welt bereisen und Otto die Musik spielen, die ihm gefällt, Jazz. Sie möchten eigentlich nichts anderes, als alle jungen Menschen in ihrem Alter, aber es trennen sie 40 km und eine Mauer von einem Leben in Freiheit auf der anderen Seite der Ostsee. 40 km „nasse Grenze“, die sie irgendwie überwinden müssen, denn „Alles wird mich glücklicher machen als dieses Leben hier.“ (S. 66).
Franzi ist von Elses Tagebuch so gefesselt, dass ihr eigenes Manuskript in den Hintergrund rückt. Stattdessen will sie herausbekommen, ob die drei es geschafft haben und was aus ihnen geworden ist. Sie vergleicht deren Erlebnisse mit ihren eigenen Erinnerungen an die Kindheit in der DDR. Ihre Eltern habe später einen Ausreiseantrag gestellt sind und sind mit ihr „rübergegangen“. Warum, hat sie nie erfahren. Und als sie jetzt im alten Büro des Leuchtturmwärters unter den noch vorhandenen Unterlagen ihres Vaters einen Zettel mit der Aufschrift „Verräter“ findet, kommt ein schrecklicher Verdacht auf. „Die Wahrheit ist immer von Bedeutung. Auch wenn es wehtut, für sie zu kämpfen.“ (S. 169)
Kathleen Freitag beleuchtet in „Das Haus des Leuchtturmwärters“ ein weiteres Stück DDR-Geschichte, die Nachwehen des Arbeiteraufstandes 1953 und die Folgen des Mauerbaus 1961. Sie beschreibt die Enge in der DDR, obwohl der Blick vom Leuchtturm aus übers Meer anscheinend unendlich ist.
Es ist eine Geschichte über Vertrauen und Verrat, Familie, Freundschaft und Liebe, atmosphärisch dicht und sehr packend erzählt. Die Grundstimmung der Zeit, die Angst vor Denunzianten und der Stasi, vor einer ungewissen Zukunft und die Bereitschaft, das eigenen Leben für die Freiheit zu riskieren, die Überlegungen, wem man (ver)trauen kann, die Sehnsucht nach Weite und Freiheit werden sehr eindringlich geschildert. „Wenn man in diesem Land seine Ruhe haben will, muss man lernen die Klappe zu halten. Und seinen Leidenschaften in aller Stille frönen.“ (S. 246)
Es hat mich fasziniert, dass Kathleen Freitag die Handlung auf einem sehr engen Raum spielen lässt – der Leuchtturm und das Meer als zentraler Punkt, die Arbeitsstellen der drei, ihr geheimer Treffpunkt – und damit die ganze DDR widerspiegelt.
Else und Lulu sind sehr verschieden. Else ist sehr still, muss alles immer erst genau überdenken und macht viel mit sich selbst aus. Das führt beinahe zum Bruch zwischen den jungen Frauen. „Ich dachte, wenigstens du hast in diesem Land keine Geheimnisse.“ (S. 228) Lulu hingegen ist sehr draufgängerisch und redet leider oft erst, bevor sie nachdenkt. Und Otto? Der scheint ein offenes Buch zu sein und liebt Lulu abgöttisch – „Du bist meine Sonne! Ich würde Dir überallhin folgen.“ (S. 55) – doch erzählt er ihnen wirklich alles?
Ich habe mit ihnen gebangt und gelitten, wusste, was ihr Denkfehler bei der Vorbereitung ihrer Flucht war (aber ich will hier nicht zu viel verraten) und hätte ihnen gern geholfen. Ich hatte Angst, dass die Freundschaft die Belastungsprobe nicht aushält und zerbricht.
Wie schon in „Die Seebadvilla“ hat mich Kathleen Freitag wieder sehr berührt und ein wichtiges Buch #gegendasvergessen geschrieben. Ich freue mich schon auf das nächste Lese-Highlight aus ihrer Feder.