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Veröffentlicht am 02.03.2021

Der Sheriff von Brunngries

Prost, auf die Erben
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Als Brunngries‘ erfolgreichster Bauunternehmer Ludwig Holzinger tot in der Badewanne gefunden wird, auf dem Tisch neben ihm diverse Spirituosen und eine sehr teure Zigarre, überrascht das die Dorfbewohner ...

Als Brunngries‘ erfolgreichster Bauunternehmer Ludwig Holzinger tot in der Badewanne gefunden wird, auf dem Tisch neben ihm diverse Spirituosen und eine sehr teure Zigarre, überrascht das die Dorfbewohner kaum. Ludwig hat selber immer mit seinem frühen Tod gerechnet. „Der Holzinger hat immer Vollgas gegeben. Ob auf der Straße oder im Leben.“ (S. 26) Und als bei der Obduktion herauskommt, dass es Mord war, werden sofort seine negativen Seiten und Eigenschaften ans Licht gezerrt. Seine Zahlungsmoral als Unternehmer war unterirdisch, er lag mit seinen Geschwistern im Clinch und hat alles flachgelegt, was nicht bei drei auf dem Baum war. Tatmotive und -verdächtige gibt es also genug, aber wer hat ihn nun warum auf dem Gewissen?

„Prost, auf die Erben“ ist der zweite Fall, den Hauptkommissar Constantin Tischler in Brunngries ermitteln muss. Tischler hat sich inzwischen eingelebt und kennt die meisten Menschen im Ort, aber wenn es um Interna, kleine Geheimnisse oder Altlasten geht, sind ihm der übereifrige Polizeiobermeister Fink und vor allem dessen Mutter stets einige Schritte voraus. Zum Glück teilen sie ihr Wissen gern mit ihm, und zum Leidwesen von Tischlers Magen auch einige ungewöhnliche bayrische „Köstlichkeiten“.
Weil Holzingers Großbaustelle, ein Chaletdorf für Urlauber kurz vor der Fertigstellung, wegen der Ermittlungen stillgelegt wurde, hängen Tischler diesmal der Polizeioberrat und der Bürgermeister im Nacken. Er soll doch bitte an die Nachunternehmer und die fehlende Tourismuseinnahmen wegen der verzögerten Fertigstellung denken! Und Pressemeldungen á la „Mord in der Feriensiedlung“ sind ja auch ganz, ganz schlecht für Brunngries!
Auch privat läuft es nicht so richtig rund. Britta (Frau Dr. Neufeld), die er beim ersten Fall kennengelernt hat, lässt sich zwar weiterhin von ihm umwerben, ihn aber (noch?) nicht ran. Außerdem legt ihm weiterhin jemand aus seiner Vergangenheit gefaltete Papierkraniche auf die Fußmatte und erinnert ihn damit an ein Versprechen und eine große Schuld.

Friedrich Kalpenstein schreibt gewohnt humorvoll, mit viel Lokalkolorit („Die ganze Gegend ist ein einziger Heimatfilm …“ (S. 62)) und auch die Spannung des Kriminalfalles stimmt. Da ich lange in einer Baufirma gearbeitet habe, kamen mir beschriebenen Zustände auf der Baustelle und in der Branche leider nur zu bekannt vor – gemauschelt wird halt überall, das Setting passte perfekt.
Nur Tischler selbst ist für mich kein richtiger Sympathieträger – muss er ja aber auch nicht zwingend sein. Er bezeichnet sich als Sheriff von Brunngries und scheint wie aus einem alten Western gefallen: ein echter Macho mit O-Beinen, einem locker sitzenden Colt und zu viel Testosteron im Blut. Weich wird er nur bei seinem Jaguar E-Type 1969 und seiner Hightech-Kaffeemaschine. Mal sehen, ob ich bei seinem nächsten Fall immer noch den Ohrwurm „Macho Man“ von „The Village People“ im Ohr habe …

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Veröffentlicht am 28.02.2021

… denn ihr Hobby ist mörderisch!

Der Club der toten Sticker
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„Ich bin auf der Flucht und brauche Hilfe! … Man hält mich für einen Mörder!“ (S. 134) Nie hätte der pensionierte Kommissar Siggi Seifferheld damit gerechnet, dass er selbst mal in das Visier seiner ehemaligen ...

„Ich bin auf der Flucht und brauche Hilfe! … Man hält mich für einen Mörder!“ (S. 134) Nie hätte der pensionierte Kommissar Siggi Seifferheld damit gerechnet, dass er selbst mal in das Visier seiner ehemaligen Kollegen gerät. Kurz zuvor hatte er noch gedacht, dass die sehr hübsche, sehr junge, aber leider auch leicht übergriffige und übermotovierte Journalistin Gunda Selund sein größtes Problem ist, die immer noch seine Biographie schreiben will. Doch dann wird ein toter Sticker nach dem anderen gefunden – ermordet mit einer Präzisionsschleuder. „Seifferheld hatte in seinem Job viel gesehen, ab das war das Unheimlichste, was ihm je untergekommen war.“ (S. 54) Sticken ist zum tödlichen Hobby geworden und jeder Sticker in Lebensgefahr. Räumt Siggi, der vom Weltruhm als DER Männersticker träumt, etwa die lästige Konkurrenz aus dem Weg oder hat er sich gar einen St(rrr)icker zum Feind gemacht?! Oder gibt es jemanden in seiner Vergangenheit, der jetzt endlich mit ihm abrechnen will?

„Es ließ sich nicht leugnen, ein Teil von Seifferheld war neugierig. Aber der überwiegende Teil von ihm war über 60 und wollte die letzten Jahre nicht mit Mordermittlungen verbringen, sondern damit, sich einen Namen als Sticker zu machen.“ (S. 43) Eigentlich wollte sich Siggi endlich nur noch auf sein Hobby, ach was sage ich, seine Berufung – das Sticken – konzentrieren und keine irren Mörder mehr jagen. Aber den Verdacht, selber der Täter zu sein, kann er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Normalerweise ermittelt ja immer seine ganze Familie mit, aber diesmal sind er und Hovawart Onis auf sich allein gestellt. Seine eifersüchtige Herzdame Marianne ist wegen einer Erb-Sache im Ausland unterwegs und seine Schwester Irmingard mit ihrem Mann Helmerich im Urlaub. Nur die neugierige Frau Hoppe von gegenüber sieht, hört und weiß fast alles und damit dann kurz darauf ganz Schwäbisch Hall …

Sehr spannend, sehr rasant und unvergleichlich amüsant! „Der Club der toten Sticker“ ist schon der 8. Band mit Kommissar Siegfried Seifferheld und hoffentlich nicht der letzte! Tatjana Kruse versteht es meisterlich, den Leser mit falschen Fährten, skurrilen Protagonisten, Siggis nicht immer ernstzunehmenden Polizeiberichten, viel Schwäbisch Haller Lokalkolorit, einem filmreifen Showdown und ihrem unvergleichlichen Humor zu fesseln und bestens zu unterhalten.
Außerdem liebe ich die pointierten Beschreibungen des (Zusammen-) Lebens in einer Kleinstadt, in der fast jeder jeden kennt (wenn auch nur vom Sehen) und man sich von den neugierigen Nachbarn oder der überfürsorglichen Familie ständig überwacht fühlt.

Leider war auch dieses Buch wieder viel zu schnell ausgelesen. Wann kommt Nachschub, Frau Kruse???

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Veröffentlicht am 24.02.2021

Liebe in der Krise

Mit Abstand verliebt
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Februar 2020: Auf der Party eines Freundes fällt Jelly Lennard auf – vor allem seine ungewöhnlich grünen Augen haben es ihr angetan. Doch Lennard hat kein Interesse an dem über und über tätowierten Surfergirl. ...

Februar 2020: Auf der Party eines Freundes fällt Jelly Lennard auf – vor allem seine ungewöhnlich grünen Augen haben es ihr angetan. Doch Lennard hat kein Interesse an dem über und über tätowierten Surfergirl. Trotzdem treffen sie sich kurz darauf wieder – in der Schlange für den Corona-Test, weil der Gastgeber der Party positiv ist. Leider sind die Tests kurz vor ihnen alle und sie werden nach Hause geschickt. Während sich Lennard an die 14tägige freiwillige Quarantäne hält und sich noch Wochen danach panisch auf Symptome untersucht, nimmt es Jella gelassen und lebt ihr Leben einfach weiter – die Party ist schließlich schon ne Weile her. Trotzdem bleiben sie in Kontakt via WhatsApp, erst lose, dann wird es immer enger und schließlich merken sie, dass sie sich ineinander verliebt haben. Aber ein Treffen im wirklichen Leben ist inzwischen nicht mehr drin, oder?

„Mit Abstand verliebt“ ist die erste Corona-Love-Story und verknüpft geschickt das Prickeln und Herantasten einer neuen Liebe mit den besonderen Bedingungen während einer Pandemie. Dabei wurden viele Fakten und kuriose Nachrichten rund um das Virus amüsant verpackt und der damals aktuellen Entwicklungsstand wird immer wieder zwischen den Kapiteln eingestreut.
Es geht dem Autorenduo darum, alle Auswirkungen von Covid bzw. der Bedrohung durch es zeigen – physische und psychische, aber auch materielle. Sie stellen Existenz- und allgemeinen Ängsten, Entlassungen und Kontaktsperren neuen Hobbys und das generelle Umdenken oder einer Neufindung gegenüber. „Ich glaube, viele haben Angst vor Langeweile.“ … „Ich glaube, die meisten Leute haben Angst vor sich selbst.“ (S. 142)
Allerdings wurde mir das stellenweise zu ausufernd und sachlich, auch der erhobene moralische Zeigefinger war manchmal zu viel.
Man erinnert sich beim Lesen unweigerlich an die Anfangszeit von Corona, die Ahnungs- und Arglosigkeit und späteren Ängste. Zudem ist die Thematik ungebrochen aktuell, steuern wir doch gerade auf die 3. Welle zu.

Die Liebesgeschichte an sich sehr süß und außergewöhnlich, gerade weil Jella und Lennard sehr verschieden sind. Währen Jella das Leben genießt, bereitet sich Lennard akribisch und strategisch auf alle Möglichkeiten vor. Sie steht zwar nicht unbedingt für die Corona-Leugner, aber zumindest für die, die es lange (zu) locker gesehen und die Gefahr verkannt bzw. verdrängt haben. „Es wird ja hoffentlich bald Entwarnung geben, und wir können zu unserem normalen Leben zurück.“ (S. 83) Leonard ist das totale Gegenteil. Er bestellt schon Masken und Desinfektionsmittel, bevor es alle machen, richtet sich das perfekte Homeoffice ein und plant alles durch. Trotzdem finden sie virtuell zueinander und haben wirklich romantisch Dates. Und am Ende versteht man auch, warum beide so geworden sind, wie sie sich geben.

4 Sterne für diese amüsante und zum Nachdenken anregende Lovestory.

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Veröffentlicht am 21.02.2021

Mit Gerontos on Tour

Wohin die Reise geht
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Es ist eine sehr ungewöhnliche Reisegesellschaft, die Marlies Ferber auf diesen abgedrehten Roadtrip schickt.
Rentner Jakob soll für seinen Sohn 1 Mio. € Schwarzgeld zu einer Schweizer Bank bringen, getarnt ...

Es ist eine sehr ungewöhnliche Reisegesellschaft, die Marlies Ferber auf diesen abgedrehten Roadtrip schickt.
Rentner Jakob soll für seinen Sohn 1 Mio. € Schwarzgeld zu einer Schweizer Bank bringen, getarnt als Kurzurlaub („… ich will einen Notgroschen, in Sicherheit … Nicht für mich, aber für die Familie …“ (S. 16.). Seinem Chorfreund Matthias erzählt er zwar von der Reise, aber natürlich nicht von dem Geld. Matthias ist Polizist, war schon ewig nicht mehr im Urlaub und will mit. Außerdem können sie in seinem Wohnwagen reisen - „Modell Rossini. Mit Lattenrost und orthopädischer Matratze.“ (S. 25). Und natürlich reist auch Eddie mit, Matthias Hund, ein früherer Bombenspürhund mit Knalltrauma.
Auf einer Raststätte fällt Jakob Tilda auf. Sie ist verwirrt und weiß nicht, wie sie hier hingekommen ist, aber sie kennt ihre Adresse – zumindest ungefähr. Tilda erinnert ihn an seine verstorbene Frau, die ebenfalls dement war.
Auch die Straßenmusikerin Alex ist auf der Raststätte gestrandet. „Je nachdem, wie sie sich zurecht machte, konnte sie wie fünfzehn oder fünfundzwanzig aussehen. … Offen für Veränderung, bereit zur Täuschung.“ (S. 28) Sie behauptet, von ihrer Reisegruppe vergessen worden zu sein. Jakob hat mit beiden Frauen Mitleid und überredet Matthias, sie mitzunehmen.
Doch nicht nur Jakob, sie alle haben ein Geheimnis. Und dann kommt es zur Vollsperrung der Autobahn, weil die Polizei jemanden sucht …

„Wohin die Reise geht“ ist eine bittersüße, melancholische und überraschende Geschichte über vier völlig verschiedene Menschen, die durch den Zufall und das Schicksal zusammengeschweißt werden.
Jakob hatte früher eine Kaffeerösterei. Nach dem Konkurs folgte der soziale Abstieg, den ihm sein Sohn heute noch unterschwellig vorwirft. Nur deswegen lässt er sich zu dem Geldtransport überreden. Sein schlechtes Gewissen wird noch größer, als er Matthias belügen und ihm eine harmlose Reise vorgaukeln muss.
Matthias ist erst 40, aber gesundheitlich angeschlagen. Er hat eine gute Menschenkenntnis und überhaupt kein gutes Gefühl bei Alex.
Die hält ihre Mitreisenden ganz schön auf Trab. Sie hatte es bisher nicht leicht und läuft vor ihren Problemen davon, verklärt die Situation aber. „Ich will keine Wände, der Himmel ist mein Zelt, nachts leuchten mir die Sterne. Die Welt ist mein Zuhause.“ (S. 165)
Tilda hingegen hatte ein erfülltes Leben. Sie war Opernsängerin und Lehrerin, leider ohne eigene Kinder. Ihr Mann und ihre beste Freundin sind schon gestorben. Zum Glück kümmern sich deren Kinder um Tilda. Dass sie seit einiger Zeit immer wieder Sachen verlegt und Aussetzer hat, macht ihr Angst. Sie will auf keinen Fall ins Heim! Und auf der Reise scheinen die Probleme gleich viel kleiner zu sein. „Sie hatte sich jung gefühlt, wie beim Aufbruch in die weite Welt, die Abenteuer und Überraschungen bereithielt.“ (S. 178)

Die Autorin schreibt mit leichter Feder über falsches Pflichtgefühl, Unrechtsbewusstsein und Schuld, über die Annäherung der verschiedenen Charaktere und Generationen und Hilfe zur Selbsthilfe.

Selten hat mich ein Unterhaltungsroman so nachhaltig berührt und zum Nachdenken angeregt. Wie gehen wir eigentlich mit unseren „Alten“ um? Sind wir uns immer bewusst, dass sie trotzt allem noch mündig sind, auch wenn sie schon kleine Aussetzer haben und schwierig im Umgang werden?

Mein Tipp für alle, die „Goldene Zeiten im Gepäck“ von Adriana Popescu mochten.

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Veröffentlicht am 18.02.2021

Herz aus Kopf an?

Die Frau von Montparnasse
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Das Gefühl hatte ich beim Lesen von Caroline Bernards neuem Roman „Die Frau von Montparnasse“ über Simone de Beauvoir. Gegen alle Konventionen und die Erwartungen ihrer Eltern studiert Simone Philosophie ...

Das Gefühl hatte ich beim Lesen von Caroline Bernards neuem Roman „Die Frau von Montparnasse“ über Simone de Beauvoir. Gegen alle Konventionen und die Erwartungen ihrer Eltern studiert Simone Philosophie und wird Lehrerin, lernt dabei Jean-Paul Sartre kennen und lieben und bindet sich mit einem Pakt lebenslang an ihn – keine Heirat aber eine gleichberechtigte Beziehung, bei der sie auch andere Partner haben dürfen. Es klingt revolutionär – denn neben ihrer sexuellen Freiheit würde er ihr auch nie vorschreiben, wie, wo oder woran sie arbeitet oder ihre Zeit verbringt. Dass Sartre sich in der Realität dann doch immer wieder einmischt, vor allem wenn es seine Affären (er)fordern oder er Simone antreibt, dass sie ihren Roman schreiben soll, hat sie hingenommen.
Keine Frage, Simone de Beauvoir war und ist eine Frau, die polarisiert. Aus gutem Hause stammend hätte sie nach dem Willen ihrer Eltern eigentlich einen passenden (reichen) Mann heiraten und Kinder in die Welt setzen sollen, doch sie will mehr. Und weil es noch kein Vorbild für die moderne unabhängige Frau gibt, wird sie es eben selbst. Sie ermutigt ihre Schülerinnen zu selbstständigem Denken und freien Entscheidungen, fördert sie und damit oft auch die Abnabelung vom Elternhaus. Und nicht wenige von ihnen landen in Sartres oder ihrem Bett und damit ihrem Leben. Sie alle werden eine große Familie, oft belastet von persönlichen Dramen, aber man kümmert sich umeinander und unterstützt sich. „Simon stellte Sartre und sich in den Mittelpunkt der Welt, aber darum herum kreisten ihre Freunde und Bekannte wie kleine Monde.“ (S. 197) Wobei gerade der Zusammenhalt, die Organisation und Planung des zum Teil sehr fragilen Gebildes allein in Simones Händen liegt.

Caroline Bernard zeichnet hier das Bild einer Frau, die bis zur Selbstaufgabe arbeitet. Ich hatte oft das Gefühl, dass alle anderen und deren Bedürfnisse – allen voran Sartres – zuerst kommen. Simone liest seine Arbeiten gegen und gibt ihm immer wieder neue Denkanstöße. Ihr eigene Arbeit erledigt sie erst danach, wenn er sie nicht mehr braucht. Ihr ganzes Leben lang überdenkt sie immer wieder die Rolle der Frau im Allgemeinen und ihre eigene im Besonderen und erkennt irgendwann: „Man kommt aber nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (S. 413) Sie ist die ewig Zweifelnde, stagniert nie, sucht immer neue Blickwinkel und ist offen für Anregungen – und man ist als LeserIn live dabei.
Ich habe sie für ihren Mut und ihre scharfe Intelligenz bewundert, dass sie kein Problem damit hat, Sartre und anderen Männern oder Frauen zu widersprechen und ihnen die Fehler in ihre Interpretation oder Argumentation aufzuzeigen.
Genau wie in ihrem Denken und Leben nimmt Sartre auch im Roman einen sehr großen Platz ein. Egal wie frei sie zu sein glauben, sie können nicht ohne einander, auch wenn es irgendwann nur noch eine geistige Verbindung ist und keine körperliche mehr. Dabei habe ich mich oft gefragt, ob es wirklich Simones freier Wille war, sich so an ihn zu binden, oder ob sie sich ihm doch (unbewusst) unterworfen hat. Schließlich hat er von Beginn an die Rahmenbedingungen ihrer Beziehung festgelegt. In meinen Augen hat sie zu viel hingenommen, ihm seine Fehler immer wieder nachgesehen und entspricht damit meiner Meinung nach doch genau dem Frauenbild, dass sie verändern wollte. Sie fordert Freiheit und Unabhängigkeit für alle Frauen und ist es doch selber nicht, lässt sich von ihm manipulieren. Am erschreckendsten fand ich, dass sie aus Rücksicht, seine Gefühle und seinen Ruf einen ihrer Liebhaber bis nach Sartres Tod verheimlicht hat.

„Die Frau von Montparnasse“ ist ein Buch, für das man Zeit braucht. Es regt dazu an, sich mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre als Menschen, Philosophen und Literaten auseinanderzusetzen und auch damit, in wieweit sich unsere Rollenverständnisse im Vergleich zu damals geändert haben oder nicht.
Caroline Bernard schreibt sehr emotional, lässt uns auch Simones Nervenkrisen und Unsicherheiten miterleben und in das Paris und Lebensgefühl zu Beginn des letzten Jahrhunderts abtauchen.

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