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Veröffentlicht am 10.02.2021

Menschenfresser!

Die Begine und der Siechenmeister
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Ulm 1412: 4 Monate sind vergangen, seit Begine Anna und Siechenmeister Lazarus unter Einsatz ihres eigenen Lebens einen Mörder gestellt haben und sich dabei nähergekommen sind als erlaubt. Zur Strafe musste ...

Ulm 1412: 4 Monate sind vergangen, seit Begine Anna und Siechenmeister Lazarus unter Einsatz ihres eigenen Lebens einen Mörder gestellt haben und sich dabei nähergekommen sind als erlaubt. Zur Strafe musste sich Lazarus vor seinem Orden in Rom verantworten und nach seiner Rückkehr verhält er sich Anna gegenüber sehr abweisend. „Du bist eine Begine, ich bin ein Bruder des Heilig-Geist-Ordens. Unser Leben gehört Gott.“ (S. 47) Also stürzt sie sich in ihre Arbeit, die Pflege der Kranken im Spital. Als eine Reisende, die bei ihnen im Konvent Schutz gesucht hatte, ernsthaft erkrankt, wird sie ins Spital verlegt. Dort fallen Anna und Lazarus Wunden auf, die auf einen Überfall oder eine Misshandlung hindeuten. Doch noch bevor sie die Frau dazu befragen können, verstirbt diese und dann verschwindet auch noch ihre Leiche. Gleichzeitig werden im Ulmer Umland Leichenteile von Kleinkindern entdeckt. Die Angst der Menschen wächst täglich – geht da ein Menschenfresser um? Anna glaubt an einen menschlichen Täter und hat auch schon einen Verdacht. Doch auf der Suche nach Beweisen gerät sie wieder in Lebensgefahr … „Deine Neugier war schon immer dein größter Fehler.“ (S. 95)

Auch der zweite Teil der Ulmer Beginenreihe mit Anna und Lazarus ist sehr spannend und ein bisschen gruselig, wabert doch fast die ganze Zeit dichter Nebel über Ulm, der sämtliche Geräusche schluckt und alles in unheimliche Schemen verwandelt. Zudem gewährt Silvia Stolzenburg weitere Einblicke in das Handwerk der Mediziner – und ein Handwerk war es wirklich. Da werden den Betroffenen bei vollem Bewusstsein die Beine mittels Säge amputiert oder Wunden mit glühenden Eisen ausgebrannt und Anna muss dabei assistieren. Das und ihre Gefühle für Lazarus lassen sie ihren Lebensentwurf weiter überdenken. „Immer öfter schlichen sich an manchen Tagen Zweifel ein, ob sie für das Leben einer Begine wirklich geeignet war.“ (S. 38)

Neben Anna und Lazarus gibt es auch ein Wiederlesen mit dem Stadtpfeifer Gallus, der sich für das schnelle Geld unwissentlich in große Gefahr begibt, und dem intriganten zweiten Bürgermeister Johannes Schad, der die brutalen Kindsmorde für seinen Aufstieg nutzen will und nichts dagegen hätte, wenn er dabei auch noch Annas Bruder Jakob, den Spitalpfleger, loswerden würde.

Silvia Stolzenburg schreibt sehr atmosphärisch über das Leben und Arbeiten zur damaligen Zeit, die politischen Ränkespiel und den herrschenden Aberglauben. Die Spannung entwickelt sich kontinuierlich bis zum großen Showdown und die Hinweise auf den Täter sind so geschickt gestreut, sodass man bis zum Ende mitraten kann. Ich bin schon sehr gespannt, welches Abenteuer Anna und Lazarus als nächstes erleben und ob sie dann irgendwann zueinander finden.

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Veröffentlicht am 09.02.2021

Überleben und Neuanfang

Glückskinder
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„Ich. Bin. Griet. Van. Mook. Ich. Werde. Leben.“ (S. 17) Dieses Mantra hat Griet geholfen, das KZ, die Zwangsarbeit und die ungewisse Zeit im amerikanischen Auffanglager für Displaced Persons (DPs) zu ...

„Ich. Bin. Griet. Van. Mook. Ich. Werde. Leben.“ (S. 17) Dieses Mantra hat Griet geholfen, das KZ, die Zwangsarbeit und die ungewisse Zeit im amerikanischen Auffanglager für Displaced Persons (DPs) zu überstehen. Doch anders als ihre ehemaligen Mithäftlinge will die Niederländerin nach Kriegsende nicht zurück in ihre Heimat, da sie die einzige Überlebende ihrer Familie ist. Griet will einen Neuanfang in München und hat Glück, der Leiter des Lagers versorgt ihr eine Arbeit als Küchenhilfe im Offizierskasino inkl. einem requirierten Zimmer. Das Zimmer gehört zu einer Wohnung, in der schon 6 Personen leben. Toni (Antonia), ihre Mutter Rosa und ihre jüngere Schwester Bibi sind bei Tante Vev untergekommen, als ihr Haus zerbombt wurde, genau wie deren Nichte Anni mit ihrem erwachsenen Sohn Benno. Benno ist ein Kriegsversehrter, der bis zuletzt an Hitler geglaubt hat und die Alliierten hasst – und den Griet von ihrer Zwangsarbeit bei Agfa kennt. Schon beim ersten Zusammentreffen mit der Familie schlägt ihr offene Feindschaft entgegen, weil sie ihnen durch die Einquartierung das Wohnzimmer wegnimmt. Sie sind unfreundlich zu ihr, haben gleichzeitig Angst vor und Mitleid mit ihr.

Die Handlung wird abwechselnd aus Tonis und Griets Sicht erzählt und ich habe mit beiden gleichermaßen von Anfang bis Ende mitgefiebert. Toni hält ihre Familie mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser, trotzdem haben sie nie genug zu essen. Sie neiden Griet die Arbeit im Kasino und die regelmäßigen Mahlzeiten. Bei ihren Mauscheleien lernt Toni den charismatischen Louis kennen, der anscheinend alles besorgen kann – wenn der Preis stimmt. Er macht ihr Avancen und sie fühlt sich von ihm angezogen, aber sie traut ihm nicht so richtig. Er ist ein Frauenliebling, der sich ungern festzulegen scheint. Auch Griet muss sich mit der neuen Situation erst arrangieren. Sie hat Probleme, sich an ihre Freiheit zu gewöhnen. Außerdem weiß sie nicht, was schlimmer ist: Ihr Hass auf die Deutschen, vor allem auf Benno, oder die Angst vor Entdeckung. Denn sie hat ein Geheimnis, von dem sie noch niemandem erzählt hat und das am liebsten für immer vergessen würde.

Mir haben auch in diesem Buch wieder die starken Frauen imponiert, über die Teresa Simon schreibt. Toni ist eine Macherin, sehr findig, intelligent und aufgeschlossen. Sie entscheidet schnell und übernimmt gern die Führung, doch sie ist sich auch nicht zu schade, um Hilfe zu bitten, wenn sie sie braucht. „Du hast Feuer im Herzen und Mumm in den Knochen, und beides hat dir nicht einmal dieser verdammte Krieg austreiben können.“ (S. 41) Griet hat Schlimmes er- und überlebt. Sie fühlt sich entwurzelt und in ihrer neuen Heimat nicht willkommen, aber sie lässt sich davon nicht unterkriegen. Tante Vev ist mein heimlicher Liebling. Die ehemalige Schauspielerin ist Witwe, gutsituiert, schlagfertig und gerissen. Sie hatte ihre Bewunderer früher fest im Griff „Man muss als Frau für einen Mann nämlich so teuer sein, dass er sich auf Dauer keine zweite leisten kann.“ (S. 40) und opfert jetzt nach und nach ihren Schmuck für das Überleben der Familie.

Teresa Simon erzählt sehr anschaulich und mitreißend von der aufregenden, unruhigen und gefährlichen Zeit direkt nach dem Ende des 2. Weltkrieges in München. Ich konnte mich gut in die Unsicherheiten und Ängste der Menschen hineinversetzen die nicht wussten, wie es weitergeht. Die Stadt war zu großen Teilen zerstört und die Amerikaner behandelten die Besiegten verständlicherweise nicht gerade nett. Die Animositäten zwischen Siegern und Besiegten waren groß. Man musste sich erst an die neuen Machtverhältnisse und Ressourcenverteilung gewöhnen. Jeder kämpfte ums Überleben, um Nahrung und Wohnraum. Vor allem, als auf den Krieg auch noch der Hungerwinter folgte. Die Überlebenden sehnten sich nach ihren immer noch vermissten oder verlorenen Angehörigen und gerade die jüngeren auch nach der Liebe und richtigen Neuanfängen. Dazu kommt, dass in München überdurchschnittliche viele DPs gestrandet waren und rund um die Möhlstraße schnell eine jüdische Gemeinde inkl. riesigem Schwarzmarkt entstand. In diesem Umfeld hat die Autorin ihre „Glückskinder“ angesiedelt – junge Menschen, die einen unsicheren Neuanfang wagen. Wie von ihr gewohnt, hat Teresa Simon die historischen Hintergründe wieder hervorragend recherchiert, bindet u.a. die politischen Umbrüche, die Aufstände der hungernden Bevölkerung und Stürmung der Lebensmittellager und Schwarzmärkte, die Spruchkammermeldebögen und Prozesse gegen Kriegsverbrecher sowie die Unruhen bzgl. der Währungsreform geschickt in die Handlung ein und lässt ein weiteres Stück Geschichte lebendig werden. Das alles beschreibt sie so spannend, dass ich statt nur mal kurz rein zu lesen die 512 Seiten am Stück verschlungen habe. #gegendasvergessen

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Veröffentlicht am 06.02.2021

Nina gegen den Rest der Welt

Gespenster
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Nina ist 32, Food-Journalistin mit einer ersten eigenen winzigen Wohnung und seit 2 Jahren bewusst Single. An ihrem 32. Geburtstag beschließt sie, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wieder einen Mann ...

Nina ist 32, Food-Journalistin mit einer ersten eigenen winzigen Wohnung und seit 2 Jahren bewusst Single. An ihrem 32. Geburtstag beschließt sie, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wieder einen Mann in ihr Leben zu lassen. Auf Anraten ihrer ewigen Single-Freundin Lola lädt sie sich eine Dating-App runter und schon der erste Mann, mit dem sie sich trifft, ist ein Volltreffer. Max verabschiedet sich mit nach ihrem ersten Date mit „Das war ein schöner Abend, Nina. Und ich bin mir ganz sicher, dass ich dich heiraten werde.“ (S. 56). Die nächsten Monate sind perfekt, sie fühlen sich wie Teenager und sind gleichzeitig reif genug für eine Beziehung mit Zukunft. „Ich fühle mich in eine Ära der Freuden und Verheißungen zurückversetzt. Ich war wieder ein Teenager, nur mit Selbstbewusstsein, eigenem Gehalt und ohne feste Zeit, zu der ich zu Hause sein musste.“ (S. 94) Die ersten Schritte gehen stets von ihm aus und eines Abends sagt er ihr, dass er sie liebt, doch am nächsten Tag ist er weg und reagiert nicht mehr auf ihre Nachrichten – er ghostet sie, erklärt Lola ihr.
Gleichzeitig macht Nina sich Sorgen um ihre Eltern. Ihr Vater ist an Demenz erkrankt und ihre Mutter scheint das nicht zu kümmern. Sie ist 15 Jahre jünger als er und lebt ihr Leben einfach weiter, will sich jetzt in der Rente neu verwirklichen. Ninas Vorschläge für Anpassungen an den Zustand des Vaters werden von ihr abgelehnt, bis sie die Situation nicht mehr ignorieren kann …

„Gespenster“ von Dolly Alderton wird mit „hinreißend, lustig und tief berührend“ beworben, aber ich habe es etwas anders empfunden, nicht ein einziges Mal gelacht oder wenigstens geschmunzelt. Bin ich einfach nicht die Zielgruppe? Zu alt und abgeklärt? Doch berührt hat mich Ninas Geschichte sehr. Vor allem der Part über die Erkrankung ihres Vaters und wie sie verzweifelt versucht, Lösungen für die Situation zu finden, sind extrem emotional. Seine Krankheit schreitet sehr schnell voran. Er erkennt sie immer seltener und ihr wird bewusst, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange leben wird. Außerdem ist es (noch) kein leiser Abschied, er wütet, fühlt sich verfolgt oder ausgegrenzt, verletzt sich und andere. Nina beweist in dieser Situation ungeahnte Stärke, darum hat es mich um so mehr überrascht, dass sie in ihrer Beziehung zu Max so jung und unsicher rüberkommt. Sie vertraut nicht auf sich, sondern macht, was ihre Freunde sagen. Ich habe z.B. nicht verstanden, warum sie Max‘ Kontaktabbruch so einfach hinnimmt und nicht zu seiner Wohnung oder Arbeit geht und ihn zur Rede stellt. Stattdessen betrinkt sie sich mit ihren Freunden und kaut alle Situationen, in denen sie etwas falsch gemacht haben könnte, noch einmal durch. „Ich hatte mir eingebildet, so viel über Max zu wissen, aber nun musste ich mich fragen, ob wir zwei Fremde in einer Blase aus vorgegaukelter Nähe gewesen waren.“ (S. 188)

So zweigeteilt wie mir Ninas Persönlichkeit erschien und wie das Buch aufgebaut ist (in die Zeit mit und die Zeit nach Max), so zwiegespalten ist auch meine Meinung dazu. Der Strang um ihre Familie hat mich echt gefesselt, ich habe mit ihr gebangt, getrauert und gekämpft. Außerdem fand ich es interessant, wie sich die Beziehungen zu ihren Freunden wandeln und sogar zerbrechen, weil sie sich auseinanderentwickelt oder inzwischen andere Lebenskonzepte haben. Sie werden älter und sesshaft, da passt eine Singlefreundin nicht mehr ins Konzept.
Nur wie sie die toxische Beziehung zu Max verarbeitet und mit seinem Ghosting umgeht, konnte ich gar nicht verstehen, fand es traurig, deprimierend und langatmig.

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Veröffentlicht am 30.01.2021

Das Herz ist die Fabrik

Wo wir Kinder waren
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... war über 100 Jahre lang das Motto der Familie Langbein, Spielzeugfabrikanten in Sonneberg in Thüringen. Albrecht Langbein hat die Fabrik 1910 gegründet und damit das Ein- und Auskommen von 3 Generationen ...

... war über 100 Jahre lang das Motto der Familie Langbein, Spielzeugfabrikanten in Sonneberg in Thüringen. Albrecht Langbein hat die Fabrik 1910 gegründet und damit das Ein- und Auskommen von 3 Generationen gesichert. Sie haben 2 Weltkriege, 2 Staaten, verschiedene Besatzer und Wirtschaftskrisen gemeistert, aber die DDR hat ihnen letztendlich das Genick gebrochen. Nach der Wende wagte die Erbengemeinschaft einen Neustart und versagte. Jetzt soll auch verwinkelte Fachwerkhaus der Familie, mit dem alles begann und in dem sie bis zum großen Krach alle zusammen unter einem Dach gewohnt haben, ausgeräumt und vermietet werden. „In diesem Haus waren Dinge geschehen, die Eva nicht vergessen hatte. Die Atmosphäre darin schien am Ende vergiftet zu sein, und dann gab es diesen alles verändernden Streit.“ (S. 28) Dazu finden sich Albrechts Urenkel Eva, Jan und Iris zusammen, erst aus Misstrauen, dann aus Neugierde. Und je mehr Zimmer sie leerräumen, desto mehr erinnern sie sich daran, was sie früher verbunden hat, obwohl sie in Ost und West getrennt waren ...

„Wo wir Kinder waren“ ist mein erstes Lesehighlight dieses Jahr. Auf fast 500 Seiten erzählt Kati Naumann die sehr berührende wechselvolle Geschichte der Familie Langbein, die untrennbar mit der ihrer Fabrik verbunden ist. Trotz 13 Protagonisten und 100 Jahren wird es dabei nie langweilig. Ganz im Gegenteil, das Schicksal jedes Einzelnen aber auch der Familie insgesamt ist extrem spannend.
Die Handlung ist in zwei parallele Erzählstränge aufgeteilt. Es geht überhaupt sehr viel ums Teilen in diesem Buch – die Familie arbeitet und wohnt zusammen, teilt Freud und Leid, Verlust und Gewinn, aber auch das Land war 40 Jahre geteilt.
Drei spannende Fragen ziehen sich durch die Geschichte: Was geschah mit der Zuckerdose des Hochzeitsservices? Wer hat 1953 das Feuer gelegt? Und wer ist Schuld, dass die Fabrik 1978 geschlossen wurde? „Es war das kleinere Übel. Ich hatte keine Wahl.“ (S. 289) Wissen können es nur noch 2 Familienmitglieder, Jans Vater, der leider dement ist, und Evas Mutter, die nicht an die Vergangenheit erinnert werden will.
Eva, Jan und Iris sind sich fremd geworden und trotzdem noch vertraut. Beim Ausräumen des Hauses erinnern sie sich an ihre Kindheit und finden entscheidende Hinweise, um endlich die langgehegten Familiengeheimnisse zu lösen. Gleichzeitig begleitet man die jeweils Lebenden ab 1910 durch ihre Zeit.

Wie schon bei „Was uns erinnern lässt“ hat auch dieses Buch ein ganz besonderes Setting, das mir Gänsehaut beschert. Sonneberg liegt an der Grenze zu Franken und war zu DDR-Zeiten Sperrgebiet der grenznahen Zone, die nur mit einem Passierschein betreten oder verlassen werden konnte. Das ist neben der begangenen Republikflucht eines Familienmitgliedes ein weiterer Grund, warum der Kontakt zwischen Ost und West bis auf wenige Besuche Jahrzehnte lang nur per Post möglich war.

Ich wurde beim Lesen immer melancholischer. Auch ich bin in der DDR und mit dem Sonneberger Spielzeug aufgewachsen, meine Babypuppe sitzt immer noch bei meinen Eltern im Spielzimmer und wartet darauf, dass die Enkel zu Besuch kommen. Ich habe mich an vieles erinnert, an die guten und schlechten Seiten der DDR, und einiges hat mich sprachlos gemacht. Aber egal, wie traurig es wurde, was passiert oder wer an der Macht war, die Langbeins haben durchgehalten und ihren Mut und die Hoffnung nie verloren. „Die Fabrik ist das Herz. Und es schlägt noch.“ (S. 381)
Es sind vor allem die Frauen, welche die Fabrik am Laufen und die Familie zusammenhalten und deren Geschicke aus dem Hintergrund leiten, während die Männer an der Front sind oder sich mal wieder in ihrer Arbeit vergraben haben.
Evas Schicksal hat mich besonders bewegt. Sie hat schon als Kind Spielzeug getestet und Spielzeuggestalterin gelernt, aber als sie arbeiten wollte kam die Wende. Die Fabrik wurde geschlossen, sie und ihr Beruf waren überflüssig. „Für Eva fühlte es sich so an, als hätte sie jahrelang schwimmen geübt, nur um dann festzustellen, dass es nirgends mehr Wasser gab.“ (S. 6) Doch das Spielzeug hat sie nie losgelassen. Sie besorgt sich die alten Spielsachen nach und nach von Freunden und Bekannten, auf Flohmärkten oder bei Internet-Auktionen wieder.

Katie Naumann schreibt sehr lebendig und anschaulich. Sie lässt geschickt einen Teil ihrer Familiengeschichte und interessante Fakten zur Entwicklung und den unterschiedlichen Ansprüchen der Zeit (oder Machthaber) an die Spielzeuge einfließen. Ich finde es gut, dass sie dabei nichts verteufelt oder wertet sondern nur aufzeigt, was in der Nazi-Zeit oder DDR geschehen ist und wie Dinge gehandhabt wurden.

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Veröffentlicht am 26.01.2021

Schnieke Deern

Als das Leben wieder schön wurde
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„Hüte dich vor der Ollen! Und vor der Lütten, die ist nicht viel besser, der Apfel fällt eben ... Na, ich will euer Verhältnis nicht belasten, bevor es sich entwickelt hat. Die Butti wacht über ihren Liebling ...

„Hüte dich vor der Ollen! Und vor der Lütten, die ist nicht viel besser, der Apfel fällt eben ... Na, ich will euer Verhältnis nicht belasten, bevor es sich entwickelt hat. Die Butti wacht über ihren Liebling wie ein Drache über sein Gold. Ich … rate auch dir, dich an den einzig feinen Menschen der Familie zu halten. An Mickey.“ (S. 13 / 14) – so wird Greta bei ihrem Neustart in Hamburg vor der Familie ihres Vaters Harald gewarnt. Sie war 1939 mit ihrer Oma Annie in deren Heimat Schweden zurückgegangen. Ihre Mutter Linn wollte nachkommen, hat das aber nie getan. 1941 kam die Nachricht, dass sie verschwunden ist. Nach Annies Tod will Greta bei ihrem Vater leben, an den sie sich kaum erinnern kann. Doch der ist ein gebrochener Mann und seine neue Frau Trude macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Greta. In der Familie herrscht eisiges Schweigen. Ihre Halbschwester Ellen sieht trotz ihrer 14 Jahre auf Greta herab. Nur ihr Halbbruder Mickey nimmt sich ihrer an. Über ihn lernt sie Marieke kennen, die aus Ostpreußen fliehen musste und jetzt in einer der Nissenhütten lebt. Sie verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie anderen Frauen die Haare schneidet. Geld gibt es dafür kaum, aber Lebensmittel oder Dinge, die man tauschen kann. Greta ist Kosmetikerin, aber in Hamburg will sie niemand einstellen. Als sie wieder einmal bei Marieke ist und eine von deren Kundinnen zugibt „Ich weiß … nicht mehr, wie das geht, sich wohlzufühlen.“ (S. 95) behandelt Greta sie einfach und der Traum vom eigenen Schönheitssalon wird geboren. „Ein Salon, in dem die Frauen für sich waren und dessen Tür doch offen blieb, niemandem verschlossen. Hatte sie nicht immer von so einem Ort geträumt?“ (S. 105) Da sie etwas Startkapital brauchen, nehmen sie Trixie dazu. Die kommt aus gutem Haus, wollte Modedesign studieren, als der Krieg kam, und hat ein untrügliches Gespür dafür, was ihren Kundinnen steht.

„Als das Leben wieder schön wurde“ lässt mich sehr zwiegespalten zurück, weil ich etwas völlig anderes erwartet hatte. Eine Geschichte voller Neubeginn, Träume und Hoffnungen, positiv und fröhlich, aber stattdessen ist sie sehr problembeladen. Träume haben die drei jungen Frauen zwar mehr als genug, aber vor allem hat jede ein Geheimnis oder etwas in ihrer Vergangenheit, dass sie am liebsten vergessen würde oder verdrängt hat. Zudem kommt die „Schnieke Dirn“, der Schönheitssalon der Freundinnen, für meine Begriffe etwas zu kurz, hauptsächlich dreht es sich um Gretas Suche nach ihrer Mutter.
Greta kommt nur schwer über den Verlust ihrer Großmutter und den Abschied von Schweden hinweg. Sie ist nach Hamburg gekommen, um ihre Mutter oder wenigstens einen Hinweis über ihren Verbleib herauszufinden, außerdem hatte sie insgeheim gehofft, dass ihr Vater sie mit offenen Armen empfängt. Doch der lässt niemanden an sich ran und will auch nicht über Linn reden. „Ihr Vater wirkte wie jemand, der sich lieber freiwillig in einer Höhle verkriechen würde, als sich dem Familienleben zu widmen. Oder überhaupt anderen menschlichen Wesen, für die er wenig übrig zu haben schien.“ (S. 127) Das „Familienleben“ hat mir regelmäßig eisige Schauer über den Rücken gejagt. Während sich Trude und Gretas Halbschwester damit anscheinend abgefunden haben, begehrt Mickey regelmäßig dagegen auf. Er ist – wie Greta – ein lebensfroher Freigeist und träumt von einer Kariere als Jazzmusiker.
Über viele Umwege und einige Zufälle erfährt Greta, was mit Linn geschehen ist – das lässt ihr (und auch dem Leser) das Blut in den Adern gefrieren. Aber auch Marieke und Trixie haben ihre Traumata, die sie im Laufe der Handlung überwinden bzw. sich damit anfreunden.

Die drei Freundinnen und die Interaktion zwischen ihnen werden sehr glaubhaft und lebendig beschrieben. Sie sind sich nicht immer grün, müssen sich erst zusammenraufen und immer wieder Probleme bewältigen.

Kerstin Sgonina zeichnet ein sehr lebendiges Bild der damaligen Zeit. Die Parolen und Ansichten der Nazis sind z.T. noch fest in den Köpfen verankert (eine erschreckende Vorstellung), es herrscht auch 9 Jahre nach Kriegsende noch Wohnungsnot und Hunger. Die Menschen trauen ihrem Gegenüber nicht mehr oder noch nicht wieder. Greta läuft gegen eine Wand des Schweigens, wenn sie nach ihrer Mutter fragt. Das macht die damalige Zeit sehr lebendig, allerdings hatte die Handlung für mich einige Längen und Wiederholungen.

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