Platzhalter für Profilbild

heinoko

Lesejury Star
offline

heinoko ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit heinoko über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.05.2018

Wie er wurde, was er ist

Kluftinger
0

Ein sehr geschickter Coup ist den Autoren da gelungen!
In seinem Jubiläumsfall wird Kluftinger subtil bedroht und er ahnt, dass diese Bedrohung etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Bruchstückweise ...

Ein sehr geschickter Coup ist den Autoren da gelungen!
In seinem Jubiläumsfall wird Kluftinger subtil bedroht und er ahnt, dass diese Bedrohung etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Bruchstückweise kommt in Rückblenden die Erinnerung an ein Ereignis zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn zurück. Gleichzeitig wächst in der Gegenwart die Bedrohung, wird zur realen Gefahr, denn es wird immer deutlicher, dass es jemand auf Klufti persönlich abgesehen hat. Aber Kluftinger wäre nicht Kluftinger, wenn er nicht gleichermaßen mit dem Alltag zu kämpfen hätte. Denn wie transportiert man eine große Trommel in einem rosa Smart? Oder wie wird man fertig mit der Tatsache, dass der eigene Kosename Butzele plötzlich dem Enkelkind gehört?
Kluftinger in seiner gewohnt knorzigen Art und seine nicht minder eigenwilligen Kollegen erfreuen wie eh und je mit ihrem deftigen Umgangston. Die lockere Erzählweise, das perfekt getroffene Lokalkolorit und die Wichtigkeit von regelmäßiger Nahrungsaufnahme ist man bei dem Autorenteam schon gewohnt. Man schmunzelt sich sozusagen durch die Seiten und löst mit Kluftinger zusammen ganz locker nebenbei den aktuellen Fall. Aber dieses Mal gibt es noch eine weitere Dimension im Buch. Wir lernen Kluftinger näher kennen, wir erfahren, wie er zu dem wurde, was er ist. Die zahlreichen Rückblenden, verständnisfreudig in einer anderen Schrift gedruckt, erzählen uns viel Intimes über Kluftinger. Es wird berichtet über seine Jugend, über seine Berufskarriere, wie er seine spätere Frau Erika kennenlernt und erzählt auch von einem dunklen Geheimnis, das nun bis in die Gegenwart hinein seinen Schatten wirft. Durch diesen genialen schriftstellerischen Clou ist Kluftinger nicht länger nur eine durchaus gelungen gestaltete Kunstfigur, Mittelpunkt vieler komischer Szenen, sondern er wird vollständiger, echter, mehr Mensch, möchte man fast sagen. Und vor allen Dingen noch liebenswerter.

Veröffentlicht am 07.05.2018

Zauber der Fantasie

Wind und der geheime Sommer
0


Das großartigste Kinderbuch, das ich seit langem gelesen habe! Zum Immer-wieder-Lesen, für Erwachsene und Kinder gleichermaßen.

John-Marlon ist 11 und viel allein. Seine Eltern sind geschieden, der Vater ...


Das großartigste Kinderbuch, das ich seit langem gelesen habe! Zum Immer-wieder-Lesen, für Erwachsene und Kinder gleichermaßen.

John-Marlon ist 11 und viel allein. Seine Eltern sind geschieden, der Vater hat selten Zeit und die Mutter schuftet für den Lebensunterhalt. John-Marlon ist unsicher, ängstlich, trägt eine Brille und hat keinen Spaß am Fußball-Spielen. Nicht die besten Voraussetzungen also, um Freunde zu finden, um von anderen gemocht zu werden. An einem besonders traurigen Nachmittag entdeckt John-Marlon eine lose Latte in einem Bauzaun, schlüpft hindurch und entdeckt ein völlig verwahrlostes Grundstück. Er trifft auf ein seltsames Mädchen, das sich Wind nennt, und wenn Wind Geschichten erzählt, werden diese wahr. Es wandeln sich wild wachsende Sträucher zum Dschungel, Pfützen zum Meer, es gibt gefährliche Tiere, und einen Sommer lang erlebt John-Marlon die wunderbarsten Abenteuer. Doch eines Tages ist Wind verschwunden…

Die Autorin widmet ihr Buch den Kindern, die Müll im Rinnstein sammeln und Kunst daraus machen. Als ich diese Widmung las, war ich sofort wieder zurückversetzt in die Zeit, als meine Kinder klein waren und völlig selbstvergessen abtauchen konnten in ihre eigenen Fantasie-Geschichten, nur mit Dingen umgeben, die sie in der Natur vorfanden. Dank Waldorf-Pädagogik lernten sie in diesen Spielen ganz beiläufig das gelingende soziale Miteinander und ich erlebte über die Jahre, wie ihnen daraus eine innere Stärke erwuchs, die ihnen niemand mehr nehmen konnte. Genau so ergeht es John-Marlon im Buch. Der einsame, traurige Junge ohne Selbstvertrauen wächst hinter dem Bretterzaun in den von Wind ausgedachten Abenteuern über sich hinaus, er wird von Wind und den anderen Kindern, die sich ebenfalls in der Welt hinter dem Bauzaun einfinden, so akzeptiert, wie er ist und er erfährt, welche Fähigkeiten er tatsächlich besitzt.

Aber nicht nur der Inhalt, dieses gelungene Ineinanderverschränken von Fantasie und Wirklichkeit, macht dieses Buch so besonders. Es ist die Sprache, die mich verzaubert hat, diese wunderbar poetische Sprache in Verbindung mit feiner Beobachtung. So machen zum Beispiel im „pfotendurchhuschten Urwald“ Insekten vor dem Wegfliegen einen Knicks. Das Buch selbst ist wie eine lose Latte am Bretterzaun – zum Durchschlüpfen in die unbegrenzte Welt der Fantasie.

Veröffentlicht am 04.05.2018

Atmosphärisch schöner, gemütlicher Krimi

Tödliche Provence (Hannah Richter 2)
0

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den zweiten Band rund um die Ermittlerin Hannah Richter. Da es nur wenige „Rückblicke“ gibt, lässt sich der Folgeband gut lesen, auch wenn man den ersten Band ...

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den zweiten Band rund um die Ermittlerin Hannah Richter. Da es nur wenige „Rückblicke“ gibt, lässt sich der Folgeband gut lesen, auch wenn man den ersten Band nicht kennen sollte.

Hannah Richter gönnt sich 4 Wochen Urlaub und fährt in die Provence, um im Häuschen ihrer Freundin Penelope entspannte Ferienwochen zu verbringen. Doch daraus wird nichts. Penelopes Nachbar, ein feiner älterer Herr, wird tot aufgefunden, sein Arbeitszimmer ist durchwühlt worden. Emma, eine ehemalige Kollegin von Hannah, bittet diese um Mithilfe. Und so wird offenkundig, dass der Tote vor seinem Tod noch Andeutungen gemacht hatte über ein dunkles Geheimnis aus seiner Vergangenheit…

Ich habe dieses Buch gern gelesen. Nicht weil es spannend wäre. Die Handlung plätschert relativ gemütlich dahin, die Erzählweise ist gemächlich. Allenfalls im letzten Drittel zieht das Tempo ein wenig an, aber eben auch nur ein wenig. Ich habe das Buch gern gelesen aus zwei Gründen: Zum einen ist mir die Kommissarin Hannah sehr sympathisch. Ihre gewisse Zögerlichkeit, insbesondere was Beziehungen betrifft, kann ich gut nachempfinden, und ich finde es sehr angenehm, dass sie seelisch relativ stabil ist, nicht mit alten Traumata zu kämpfen hat, wie es derzeit in den Krimis Mode zu sein scheint. Der zweite Grund war für mich, dass die Autorin ganz wunderbar die Landschaft der Provence und die Mentalität der dort lebenden Menschen zu schildern versteht, und dass nicht zuletzt das leckere regionale Essen und Trinken in schwelgerischer Weise viel Platz im Buch einnimmt. Ein umfangreiches Glossar der vielen französischen Begriffe und Redewendungen, ein angefügter Stammbaum der verzweigten Familie des Toten, eine Übersicht der im Buch erwähnten Musikstücke und ein Rezept für Badekugeln runden das Buch in perfekter Weise ab.
Fazit: Ein sanfter, atmosphärisch schöner, unaufgeregter Krimi mit Urlaubsfeeling.

Veröffentlicht am 03.05.2018

Mit den Ohren reisen

Deutschlandreise
0

Für diese Deutschland-Reise sollte man sich viel Zeit nehmen. 586 Minuten reine Hörzeit sind es insgesamt, aber ein reines Abhören der CDs der Reihe nach, ein reines Konsumieren war mir nicht möglich. ...

Für diese Deutschland-Reise sollte man sich viel Zeit nehmen. 586 Minuten reine Hörzeit sind es insgesamt, aber ein reines Abhören der CDs der Reihe nach, ein reines Konsumieren war mir nicht möglich. Ich hörte sie, wie bei echten Wanderungen, in Etappen, manchmal mit Begeisterung ausschreitend, mal müden Schritts, immer aber neugierig.
Diese besondere Sammlung an literarischen Reiseberichten wandert durch 400 Jahre Schriftstellertum ebenso wie durch zahllose Gegenden Deutschlands – wunderbar dargeboten durch perfekt ausgewählte Sprecher. Und in sehr ansprechender Verpackung samt informativem Booklet angeboten.
Es gab viel zu schmunzeln, als ich mit Mark Twain eine nur wenig anstrengende Neckarwanderung unternahm. Mit Bierbaum genoss ich das Unterwegs-Sein im Automobil und lernte seine Begeisterung für technische Details zu teilen. Mit Michel de Montaigne konnte ich hervorragend speisen! Mit Heinrich Heine konnte ich mit seinen strammen Fußmärschen und seinem beißenden Spott kaum mithalten. Mit Goethe war ich nicht so gerne unterwegs, er war mir recht langweilig als Reisebegleitung ebenso wie der briefschreibenden Georg Forster, und mit der dozierenden Germaine de Stael zu reisen, empfand ich als regelrecht ärgerlich. In der Gesamtheit jedoch ergab sich für mich ein vielfältiger Blick auf Deutschland, auf die Deutschen, auf ihre Besonderheiten (bis hin zur Kehrwoche) und auf die Schönheit deutscher Landschaften, die die Jahrhunderte überdauern – in dichterischer Sprache und von großartigen Sprechern wiedergegeben.

Veröffentlicht am 01.05.2018

Ein kleines, feines Kabinettstückchen Literatur

Die Frau von gegenüber
0


Von Herrad Schenk las ich „Das Haus, das Glück und der Tod“, als ich zeitgleich engagiert war im Renovieren eines ehemaligen Dreiseithofes in Niederbayern. Das Buch hatte mich emotional gepackt aus mehreren ...


Von Herrad Schenk las ich „Das Haus, das Glück und der Tod“, als ich zeitgleich engagiert war im Renovieren eines ehemaligen Dreiseithofes in Niederbayern. Das Buch hatte mich emotional gepackt aus mehreren Gründen: Da waren ähnliche Erfahrungen im Umgang mit alter Bausubstanz, mit eigenwilligen Handwerkern und wohlmeinenden, interessierten Nachbarn, und da war das ins Nichts Stürzen, als alles geplante Glück ein plötzliches Ende findet. Umso mehr, als ich entdeckte, dass Herrad Schenk dies alles erlebte in dem Landstrich Deutschlands, in dem ich mein Alter verbringen wollte. Viele Jahre später lebe ich nun wenige Kilometer von Herrad Schenk entfernt und entdecke dieses Buch. Kein Zufall.

Viel geschieht nicht im Buch. Ein einsam lebender, verwitweter Wissenschaftler, der sich festhält an dem Projekt, ein fundamentales Standardwerk abzuschließen, schaut in die Fenster des Hauses gegenüber. Dort sieht er anderen beim Leben zu, insbesondere einer ebenfalls verwitweten, zur Trägheit neigenden Frau, die ihre Unabhängigkeit zu genießen scheint. Als eines Tages eine junge alleinerziehende, unangepasste Frau mit zwei Kindern in das Haus gegenüber einzieht, wird der Sommer von Tag zu Tag schwüler…

Herrad Schenk schreibt klar, ohne Schnörkel, leicht lesbar, aber an keiner Stelle oberflächlich. Sie erzählt in genialer Schlichtheit so intensiv, dass man als Leser das Gefühl hat, selbst in diese kleine, enge Welt hineingezogen zu werden. Die Einsamkeit fällt den Leser an wie ein Tier. Die Sonnentage legen eine innere Düsternis bloß, die erschreckt. Die Hitze verwirrt einerseits, lässt bisher sicher geglaubte Grenzen verschwimmen und offenbart andererseits in Klarheit so manche Lebenslüge. Die Autorin entwickelt auf kleinstem Raum große Themen. Fast beiläufig, wie ungewollt, kommt sie dem Leser nahe und stellt essentielle Fragen, denen man als älterer Mensch nicht länger ausweichen kann.