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heinoko

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.04.2018

Ein Wimmelbuch über 100 Jahre russische Geschichte

In einem alten Haus in Moskau
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Ich weiß gar nicht, wie und womit ich anfangen soll, dieses unglaubliche, zauberhafte, detailgenaue, liebevollst gezeichnete Buch zu beschreiben.
Ist es ein Kinderbuch? Vielleicht ja. Es zeigt sich in ...


Ich weiß gar nicht, wie und womit ich anfangen soll, dieses unglaubliche, zauberhafte, detailgenaue, liebevollst gezeichnete Buch zu beschreiben.
Ist es ein Kinderbuch? Vielleicht ja. Es zeigt sich in der äußeren großformatigen Gestaltung eines Bilderbuches, einer Art Wimmelbuch. Wir schauen 1902 mitten hinein in eine Wohnung, in die Familie Muromzew gerade einzieht. Wir schauen und schauen und entdecken unzählige Kleinigkeiten. Am Rand gibt es Erklärungen, aber auch Fragen, Suchaufgaben. Und wir begleiten die Familie Muromzew weiter durch die Jahre, schauen weiter in ihre Wohnung, die sich wandelt, erleben neue Generationen – stets so erzählt, dass es größere Kinder gerne mit Entdeckerfreude lesen.
Ist es ein Erwachsenenbuch? Vielleicht ja. Der Wechsel der Zeiten, der Wechsel der Moden, der Wechsel der politischen Ereignisse wird in den Zeichnungen quasi im Zeitraffer in gezeichneter Form lebendig gemacht, augenfällig gemacht im wahrsten Sinne des Wortes. Dazu gibt es kurze sachbuchgerechte Texte, die den politischen Wandel und seine Wendungen jeweils erklären.
Es wird erzählt die Geschichte der Familie Muromzew, und zwar von 1902 bis 2002, also über mehrere Generationen hinweg. Dank des gezeichneten Familienstammbaums und einer ebenso gezeichneten Übersicht der Nachbarn, Freunde und Zeitgenossen (einschließlich der im Haushalt lebenden Hunde und Katzen) behält man stets die Übersicht. Und da man bis in die Toilette hinein die gesamte Familie beobachten darf, einerseits sehr intim-voyeuristisch, andererseits politisch-distanziert, gewinnt man durch Schauen, Entdecken, Suchen und Spielen ein Maß an Ein-Sicht, wie es so manchem dicken Sachbuch nicht gelingen mag. Urteilsfrei ins Bild gesetzt spricht der Wandel der russischen Lebenswelt voller Charme und ohne Umwege zu uns, egal wie alt wir sind.
Völlig zurecht ist dieses ungewöhnliche, großartige Buch nominiert für den Deutschen Jugendbuchpreis.

Veröffentlicht am 26.04.2018

Ein Kleinod

Ich wollte nur Geschichten erzählen
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Dieses Büchlein ist ein Kleinod. Es enthält nicht das, womit man Rafik Schami normalerweise verbindet, nämlich überbordende Erzählfreude, sondern es ist ein sehr persönliches Buch, mit leisen Tönen, mit ...

Dieses Büchlein ist ein Kleinod. Es enthält nicht das, womit man Rafik Schami normalerweise verbindet, nämlich überbordende Erzählfreude, sondern es ist ein sehr persönliches Buch, mit leisen Tönen, mit viel Traurigkeit, mitunter auch mit Bitterkeit, dann wieder entlarvend-fröhlich, immer aber bewegend.
Rafik Schami erzählt in kurzen Sequenzen, in komprimierter, oft pointierter Form von seiner Heimat Syrien, von Kultur, Politik und von deren Zusammenhängen. Er ist erschreckt über die Unwissenheit der Deutschen über Syrien und Assad und sieht es als seine Aufgabe, durch seine Geschichten „Fenster zu anderen Kulturen“ zu öffnen. Er berichtet über sein Leben im Exil, über sein detailliertes Studium der deutschen Sprache und Phonetik und wie Zivilisation das Lachen verlernen lässt. Ein ganz wunderbarer Abschnitt im Buch sind die Beiträge zum Thema Schreiben und Lesen, insbesondere die 25 Ratschläge für junge Autoren. Man möchte diese Ratschläge auch so manchem älteren Autor gerne in die Hand drücken! Am besten ist Rafik Schami, wenn er in Humor verpackt die Dummheit der Menschen entlarvt. Dass ihm, gerade was den deutschen Literaturbetrieb betrifft, dieser Humor zeitweilig abhanden kommt und leises Entsetzen einen Teil seiner Beiträge diktiert, ist mehr als verständlich.
Ja, das Büchlein ist ein Kleinod. Zum öfter Lesen. Zum Nachdenken. Zum Lernen. Und zum Wertschätzen all der unzähligen Mosaiksteine, aus denen sich das Gemälde des Lebens zusammensetzt.

Veröffentlicht am 19.04.2018

Zwei Themen, die nicht zueinander passen

Der Letzte von uns
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Das Positive vornweg: Das Buch ist schnell zu lesen, es ist leicht zu lesen, die große Schrift macht es dem Leser leicht, die 450 Seiten zügig zu konsumieren.
Zwei Zeitstränge öffnen sich dem Leser: 1945, ...


Das Positive vornweg: Das Buch ist schnell zu lesen, es ist leicht zu lesen, die große Schrift macht es dem Leser leicht, die 450 Seiten zügig zu konsumieren.
Zwei Zeitstränge öffnen sich dem Leser: 1945, die Bombennacht von Dresden. Luisa bringt ihren Sohn Werner zur Welt und stirbt wenige Stunden danach. Die Schwester von Luisa und eine fremde Frau als Amme nehmen sich des Neugeborenen an. 1969 in Manhattan: Wern, jung, erfolgreich, bei den Frauen beliebt, trifft auf Rebecca, eine exaltierte Künstlerin. Er umwirbt sie nach allen Regeln der Kunst, sie bricht jedoch nach einem Zusammentreffen der Mutter von Rebecca mit Wern den Kontakt ab. In der Folge wird – immer wieder wechselnd zwischen den Handlungssträngen – sowohl über die weitere Geschichte von Werner während der Kriegszeit als auch über Wern und Rebecca in den siebziger Jahren in Manhattan erzählt, bis sich zum guten Schluss die beiden Handlungsbögen dramatisch schließen.
Warum kann ich diesem Buch so wenig abgewinnen? Weil hier zwei Themen zusammengewürfelt werden, die sich gegenseitig stören, weil sie in der Kombination dem Ernsten die Tiefe nehmen und dem Leichten das Frohe zerstören. Weil Menschen geschildert werden, mit denen ich nichts anfangen kann, sie werden oberflächlich, wenig greifbar und wenig nachvollziehbar in ihrem Handeln geschildert. Weil mich das ewige Hin und Her zwischen Rebecca und Wern nach einer Weile nur noch nervt. Und weil ich wenige Tage zuvor einen Roman über den Zweiten Weltkrieg gelesen habe, der von so überragender Qualität war (Ein Held in dunkler Zeit), dass mir die Schwächen von „Der Letzte von uns“ leider ganz besonders deutlich wurden.

Veröffentlicht am 19.04.2018

Männlich sexistisch überladen

Der Mann, der nicht mitspielt. Hollywood 1921: Hardy Engels erster Fall
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Vorausschicken muss ich, dass Hörbücher generell nicht mein Ding sind. Zuviel Ablenkung, zuwenig Konzentration, zu oberflächliches Zuhören, mitunter Ermüdungserscheinungen… all diese bei mir auftretenden ...


Vorausschicken muss ich, dass Hörbücher generell nicht mein Ding sind. Zuviel Ablenkung, zuwenig Konzentration, zu oberflächliches Zuhören, mitunter Ermüdungserscheinungen… all diese bei mir auftretenden Mankos lassen
mich viel eher zum gedruckten Buch greifen. Dennoch wollte ich mit diesem Titel dem Hörbuch generell und auch mir eine neue Chance geben. Fast 16 Stunden lang gab ich Christof Weigold und dem Mann, der nicht mitspielt, eine Chance.
Hollywood in den 20er Jahren. Hardy Engel ist erfolgloser Schauspieler und versucht sich als Privatdetektiv. Er erhält von einer mysteriösen, schönen Frau, Pepper Murphy, den Auftrag, Virginia Rappe zu finden, was ihm auch gelingt, allerdings stirbt Virginia Rappe kurz darauf an inneren Verletzungen. Der geschilderte Fall, der zur damaligen Zeit ein großer Skandal war, beruht auf einer wahren Geschichte. Der Autor startet mit diesem Buch eine Reihe, die auf historischen Skandalen und ungeklärten Mordfällen in Hollywood basiert. Das Hollywood dieser Zeit war die Zeit der Stummfilme, der Prohibition, der Drogen und ein wahres Sündenbabel. Schauspielgrößen wie Buster Keaton, Charlie Chaplin, Filmstudio-Giganten, die sich gegenseitig überboten, Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe – all diese schillernden Facetten werden vom Autor äußerst detailliert und für den Hörer vorstellbar beschrieben.
Erst im letzten Drittel nimmt die Geschichte an Fahrt auf, vorher schlingert sich der Text von Beschreibung zu Beschreibung, scheinbar endlos sich ergehend in Beobachtungen, dazu erzählt in einer sehr männlichen, teilweise geradezu abstoßend sexistischen Sprache. Für keine der Protagonisten konnte ich in irgendeiner Form Sympathie entwickeln. Das Hörbuch war für mich deshalb eine äußerst mühsame Sache – einzig die wunderbare Stimme von Uve Teschner ließ mich bis zum Ende durchhalten.

Veröffentlicht am 16.04.2018

Heiß, explosiv, berauschend

Höllenjazz in New Orleans
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Ich gebe zu, das Cover hätte mich nicht dazu animiert, das Buch in die Hand zu nehmen. Doch nach wenigen gelesenen Sätzen taucht man bereits tief ein in die Welt von New Orleans um 1920, in die Welt des ...


Ich gebe zu, das Cover hätte mich nicht dazu animiert, das Buch in die Hand zu nehmen. Doch nach wenigen gelesenen Sätzen taucht man bereits tief ein in die Welt von New Orleans um 1920, in die Welt des Jazz, der Prohibition, des Gangstertums, eine Welt, in der Misstrauen herrscht, in der eine explosive Mischung an Einwanderern und die nicht minder explosive rassistische Gesinnung der Einwohner als ständige Gefahrenquelle lauert. Die Mafia und Louis Armstrong, Tarotkarten und der quasi unsichtbare Mörder – 500 Seiten, die man wie im Rausch liest…
Das Buch erzählt die (wahre) Geschichte des Serienkillers Axeman, der New Orleans in Angst und Schrecken versetzt. Und es erzählt von drei höchst unterschiedlichen Ermittlern, die Jagd auf den Killer machen. Der mysteriöse Mörder tötet mit der Axt und hinterlässt, sozusagen als Markenzeichen, bei seinen Opfern jeweils eine Tarotkarte. Immer schneller und schneller schlägt er zu… Die gelungene Mischung aus Fakten und Fiktion macht das Buch besonders intensiv und überaus spannend. Das Personenverzeichnis zu Beginn des Buches ist, zumindest anfänglich, sehr hilfreich. Der Autor schafft es, so atmosphärisch dicht zu schildern, so dass man als Leser das Gefühl hat, man sei selbst mitten in die rauschhafte Zeit gefallen und erlebe den Schmelztiegel an Korruption, Voodoo, Rassismus und Angst hautnah mit.
Ein berauschendes Lesevergnügen, und das über 500 Seiten!