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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.03.2020

Anspruchsvoller, themenreicher und sehr sprachmächtiger Roman

Milchmann
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Nordirland, Belfast, 1979 - einerseits – andererseits sicher auch eine Parabel für sämtliche Gesellschaften, insbesondere bürgerkriegsbetroffene, aber auch Gesellschaften mit patriarchalischen, religiösen ...

Nordirland, Belfast, 1979 - einerseits – andererseits sicher auch eine Parabel für sämtliche Gesellschaften, insbesondere bürgerkriegsbetroffene, aber auch Gesellschaften mit patriarchalischen, religiösen oder totalitären Strukturen.

Die eigenwillige und kluge Icherzählerin beschreibt, wie sie Stalkingopfer und infolge Opfer von Gerüchten und letztlich Opfer der Verhältnisse wird. Der Milchmann spürt ihr nach, obwohl verheiratet, möchte er sie zur Geliebten. Er ist ein hohes Tier unter den politischen Rebellen, den „Verweigerern“. Ihr wird schnell ein Verhältnis angedichtet. Weder ihr Vielleicht- Freund glaubt ihr, noch ihre Mutter. Viele Freunde hat sie nicht. Und eigentlich möchte sie sich nicht mit der grausigen Realität auseinandersetzen, stattdessen versinkt sie lieber in der Literatur des 19. Jhdts. Dennoch läuft sie durchaus mit wachen Augen durch die Gegend, erkennt vieles, nur was sie selbst betrifft, nimmt sie nicht wahr bzw. verdrängt sie.

Ihre Lebensrealität ist allgemein sehr bedrohlich, was sehr eindrücklich geschildert wird. Sie lebt in einer „permanent alarmbereiten Gesellschaft“ mit Überwachung, hoher Gewaltbereitschaft und der ständigen Gefahr von (sexuellen) Übergriffen, Bomben und Busentführungen. Die Menschen sind daher paranoid, niemand sagt, was er wirklich denkt, niemand zeigt sich, wie er wirklich ist. Es besteht eine riesige Fassade, es heiratet sogar niemand den, den er wirklich liebt, weil es zu allem noch einengende Religionsvorschriften, starre Traditionen und Konventionen gibt. Die Menschen leben somit oft eine Doppelmoral, es wird wichtig, was die anderen über einen denken und Gerüchte erhalten eine große Macht.

Es ist eine patriarchalische Gesellschaft in der diese junge Frau Opfer männlicher Gewalt wird. Dieser Prozess wird sehr gut und sehr berührend beschrieben. Die Ich Erzählerin zieht sich immer mehr in sich zurück, bis sie letztendlich kapituliert, was wirklich schmerzhaft anzusehen ist. Es fehlten ihr auch stets die richtigen Worte, um sich verständlich zu machen. Auch das ist immer wieder Thema des Romans - das Unaussprechliche. Immer wieder wird sichtbar gemacht, wie wichtig das Aussprechen, das Erfassen und damit einhergehende Verdinglichung der Wirklichkeit ist, um Selbstwirksamkeit und innere Ruhe, trotz relativer Machtlosigkeit, zu erlangen.

Die Autorin lässt nah an den Gedanken der Ich-Erzählerin teilhaben. Diese schildert Wahrnehmungen, Empfindungen, reflektiert diese, setzt sie in Zusammenhänge und hinterfragt sie immer wieder. Sie verfügt über keine Sicherheiten, kein Vertrauen, daher ist sie stets voller Zweifel, was sich streckenweise recht anstrengend liest. Eine für mich besonders einprägsame Szene spielt während eines Französischkurses, in dem es, kurz gesagt, darum geht, dass die Wirklichkeit nicht Schwarz-Weiß zu sehen ist, sondern in den mannigfaltigsten Farben erscheint. Das fand ich literarisch so phantastisch gemacht, dass ich das bestimmt nie vergessen werde.

Die Autorin ist ungemein sprachmächtig und zeigt eine große Lust am Formulieren und Wortschöpfungen. Der Schreibstil hat mir gut gefallen! Die Lektüre ist anspruchsvoll, ich benötigte volle Konzentration, fand aber auch viele interessante Gedanken und Beschreibungen. So inspirierte der Roman mich einerseits und brachte mich zum Nachdenken. Anderseits berührte er mich aber auch sehr, erweckte Mitgefühl, bedrückte und ließ mich traurig werden. Gleichzeitig amüsierte ich mich jedoch auch über diesen hintergründigen, etwas schwarzen und trockenen Humor.
Etwas genervt war ich aufgrund einer Redundanz, man hätte großzügiger kürzen können, zudem auch die letzten 50 Seiten für mich eher unnötig waren.

Der Roman ist sehr komplex. Politische, feministische, psychologische und soziologische Themen, aber auch Fragen über Wahrnehmung, Sprache und Erkenntnis werden hier dargestellt.
Mir gefiel dieser etwas eigenwillige Roman sehr gut, er klingt immer noch nach und wird mich auch weiterhin beschäftigen.

Veröffentlicht am 06.03.2020

Sehr witzig, aber auch ernsthaft

Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst
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Louise, Ärztin, hat ihren Ehemann Tom, einen derzeit arbeitslosen Musikjournalisten betrogen. Sie hatte eine Affäre. Verheiratet sind sie schon lange, sie haben zwei Kinder und einen Hund. Irgendwie ist ...

Louise, Ärztin, hat ihren Ehemann Tom, einen derzeit arbeitslosen Musikjournalisten betrogen. Sie hatte eine Affäre. Verheiratet sind sie schon lange, sie haben zwei Kinder und einen Hund. Irgendwie ist ihnen aber im Laufe der Zeit die Leidenschaft abhanden gekommen.
Sie beginnen nun eine Eheberatung aufzusuchen. Es kommt zu 10 Terminen, vor denen sie sich in der gegenüberliegenden Kneipe treffen. Dort diskutieren sie bei Wein und Bier ihre Lage und welche Themen sie in der Beratung besprechen wollen.

„Verdammt, wenn man drüber nachdenkt, ist es wie beim Brexit. Wir werden noch zwei volle Jahre verhandeln, bis wir uns darüber einigen können, wo die Probleme überhaupt liegen.“ So beginnen sie und tatsächlich brauchen sie einige Zeit, um ihre wirklichen Probleme zu erkennen. Sie reden um den heißen Brei, sind zynisch, machen Witze, streiten sich, geben sich Mühe, verletzen sich, nähern sich an, entfernen sich voneinander und gelangen dann doch zu tieferen Erkenntnissen.

Dieser kurze Roman ähnelt einem Theaterstück oder einem Drehbuch, da die Handlung fast ausschließlich aus den Dialogen der beiden besteht.
Es liest sich wirklich sehr witzig, erinnert etwas an Loriot, ist sehr amüsant, kurzweilig, manchmal auch albern, aber immer fesselnd. Tatsächlich konnte ich das Buch schlecht aus der Hand legen..:) Es werden aber auch ernstere, durchaus auch bittere Töne angeschlagen. Einige Situationen und Sätze berühren sehr. Das Schlamassel der beiden wird deutlich und man kann sich gut identifizieren. Wie sie letztlich verbleiben, welche Schlussfolgerungen sie beide ziehen, hat mir gut gefallen
Kleiner Kritikpunkt: Manchmal empfand ich die Dialoge ein wenig hölzern oder gestellt und hatte Mühe mir dabei echte Menschen vorzustellen, aber das mag an mir liegen..:)

Fazit: Dieser Schlagabtausch der beiden, ihre Gespräche haben mich wunderbar unterhalten, zum Schmunzeln und zum Nachdenken gebracht. Toll!

Veröffentlicht am 06.03.2020

Poetische und sanfte Heranführung an das Altern und dem Tod

Dankbarkeiten
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Dieser kleine Roman erzählt von Mischka, die in eine Seniorenresidenz übersiedeln muss, da es zu Hause allein nicht mehr geht. Sie verliert die Orientierung, sie überfallen große Ängste und sie vergisst ...

Dieser kleine Roman erzählt von Mischka, die in eine Seniorenresidenz übersiedeln muss, da es zu Hause allein nicht mehr geht. Sie verliert die Orientierung, sie überfallen große Ängste und sie vergisst Wörter.
Abwechselnd erzählen nun Marie und Jérôme von ihren Begegnungen mit Mischka. Marie ist eine Ziehtochter, eine ehemalige Nachbarin, um die sich Mischka gekümmert hat. Jérôme ist ihr Logopäde, der sie zweimal in der Woche für Übungen aufsucht. Von denen ist Mischka allerdings nicht so begeistert, stattdessen unterhält sie sich lieber mit dem sympathischen Jérôme.
Mischka versucht sich mit ihrer Situation im Heim und dem Verlust ihrer Eigenständigkeit zu arrangieren. Gleichzeitig möchte sie unbedingt noch eine Sache aus ihrer Vergangenheit klären...

„Alt werden heißt verlieren lernen...[...] Das Gedächtnis verlieren, seine Fixpunkte verlieren und seine Wörter verlieren. Das Gleichgewicht, das Zeitgefühl, das Augenlicht, den Schlaf, das Gehör und den Verstand verlieren.“

Es geht hier natürlich um das Altern, um Krankheit und Tod, aber in einer Weise, in der man sich gern damit auseinandersetzt, weil es so fein geschrieben ist. Gleichzeitig geht es auch um Menschlichkeit, gegenseitige Hilfe, Liebe und Freundschaft.

Die Autorin schreibt sehr berührend, sanft und poetisch. Die Sprache hat mir wunderbar gefallen, sie klingt und der Ton ist angenehm ruhig. Es liest sich traurig und komisch zu gleich. Eine gute Mischung!
Die Geschehnisse fesselten mich so, dass ich den Roman kaum aus der Hand legen konnte. Man findet einige schöne und auch wahre Sätze, die zum Innehalten anregen. Zugleich ist er sehr emotional, er wühlt auf und gerät sicherlich auch etwas rührselig. Zum Ende hin, und das fand ich schade, wird es noch ein bisschen kitschig mit einer romantischen Entwicklung. Das fand ich ganz unnötig.

Fazit: Ein sprachlich schöner Roman, zum Lachen, Weinen und Träumen, der sanft mit dem Altern und dem Tod vertraut macht.

Veröffentlicht am 04.03.2020

Schonungsloser Roman-Essay über prekäre Lebenssituationen in Frankreich

Fehlstart
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Fehlstart würde ich eigentlich gar nicht als „richtigen“ Roman bezeichnen, eher als eine Art Kolumne oder Essay über aktuelle soziologische und sozialpolitische Phänomene in Frankreich, wobei sich vieles ...

Fehlstart würde ich eigentlich gar nicht als „richtigen“ Roman bezeichnen, eher als eine Art Kolumne oder Essay über aktuelle soziologische und sozialpolitische Phänomene in Frankreich, wobei sich vieles auch auf andere europäische Länder übertragen lässt. Einerseits zeichnet die Autorin ein Generationenportrait, andererseits nimmt sie einen Teil der prekär lebenden Bevölkerungsgruppen besonders in den Fokus, nämlich Studenten mit unzureichenden finanziellen Mittel, zum einen aus aus Arbeiterfamilien stammend, zum anderen mit Migrationshintergrund.

Als Anschauung für ihre Thesen und Beobachtungen, alles vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008 und unter der Präsidentschaft von Sarkozy, beleuchtet die Autorin das Leben der 18 jährigen Studentin Aurelie sowie des etwas älteren kolumbianischen Studenten Alejandro.
Die Handlung an sich ist schnell erzählt. Aurelie nimmt auf Wunsch der Eltern ein Jurastudium in ihrem Wohnort Grenoble auf. Davon ist sie allerdings schnell ernüchtert. Bald lernt sie Alejandro während eines Putzjobs kennen und mit ihm die erste große Liebe. Das Studium bricht sie ab und als auch die Liebe zerbricht, geht Aurelie nach Paris, um nochmal neu anzufangen, doch auch dort ist es alles andere als einfach.
Paris, die „seelenlose Stadt“, ist sehr teuer, Wohnungen sind nicht zu finden, weite Wege sind mit der Metro zu bewältigen, so dass letztlich nichts übrig bleibt zum Leben. Arbeiter- und Mittelschicht verschmelzen hier zu „armen Werktätigen“.

Den Schreibstil der Autorin empfand ich im ersten Teil als etwas anstrengend, da sie aufzählend und herunter rasselnd berichtet, doziert und lamentiert. Im zweiten Teil lockert das etwas auf, es kommen mehr Dialoge und Interaktionen hinzu und wahrscheinlich habe ich mich auch eingelesen..:) Sie schreibt sehr scharfzüngig, direkt, schonungslos, teilweise gar brutal oder auch zynisch. Viele ihrer Beobachtungen und Thesen treffen allerdings genau ins Schwarze. Sie zeichnen ein bitteres Bild, machen traurig und betroffen. Dennoch sollte man vor der Situation nicht die Augen verschließen!

Messina kritisiert das Schul- und Hochschulsystem sowie die neoliberale/ kapitalistische Arbeitswelt. Sie macht die sozialen Ungleichheiten sichtbar sowie die „Chancengleichheit“, die daraus bestehe, dass `Hase und Schildkröte an einer Startlinie stehen`. Die angebliche Wahlfreiheit wird hier ad absurdum gefühlt, es wird gezeigt, wie junge Menschen ohne finanzielle, intellektuelle oder generell protektive Unterstützung scheitern, vor allem wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, dazu nicht in der Lage sind.
Zudem sensibilisiert sie für die Situation von Migranten, die von der Heimat entfremdet sind und im Einwanderungsland als nicht dazu gehörig wahrgenommen werden.
Darüber hinaus zeichnet sie ein, durchaus auch widersprüchliches Portrait einer ganzen Generation. Eine Generation, die auf Instabilität und Veränderung geeicht und pornogesättigt ist, Beziehungen ohne Verantwortung und Verpflichtung führt (zumeist zu Lasten der Frau), dabei aber letztlich einsam bleibt. Die mutlos und voller Überdruss ist, zwar nie echte Schwierigkeiten hatte, aber auch nicht die geringste Perspektive hat.

Fazit: Sehr interessante soziologische Gedanken und Beobachtungen, in Form eines „Roman-Essays“, die einen Teil des aktuellen Bildes von Frankreich erhellen und zudem viele Parallelen zu Deutschland aufzeigen. Lesenswert!

Veröffentlicht am 03.03.2020

Erdenströme und Sternenfelder

Code: Orestes - Das auserwählte Kind
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Die 13 jährige Malin wohnt in einem Vorort von Göteborg. In das Nachbarhaus zieht der gleichaltrige Orestes mit seiner Mutter Mona und der kleinen Schwester Elektra. Auf Orestes hat Malin schon ungeduldig ...

Die 13 jährige Malin wohnt in einem Vorort von Göteborg. In das Nachbarhaus zieht der gleichaltrige Orestes mit seiner Mutter Mona und der kleinen Schwester Elektra. Auf Orestes hat Malin schon ungeduldig gewartet. Ein Unbekannter hat ihr nämlich einen verschlüsselten Brief in die Hand gedrückt mit der Aufgabe, ihn dem neu ankommenden Rutenkind zu übergeben, es gehe dabei um die Zukunft, es gehe um Leben und Tod.
Schritt für Schritt entschlüsseln nun Malin und Orestes, beide übrigens Mathegenies, die Codes und stoßen, wie bei einer Schnitzeljagd auf immer mehr Briefe. Diese sind von Axel Aström verfasst. Er lebte vor ca. 150 Jahren, zu einer Zeit, wo um Göteburg eine Eisenbahnlinie, nicht ohne Widerstände, geschaffen wurde.

Die Figuren empfand ich als angenehm schräg, allerdings wurde ich im Laufe des Buchs nicht mit ihnen warm. Bei Malin, der Hauptfigur fehlten mir irgendwie die Gefühle und sie wirkte recht trübsinnig. Sie spielt Cello und richtige Freunde hat sie nicht. Malins Vater, der noch geschwächt durch einen erlittenen Herzinfarkt ist, wirkt irgendwie depressiv und abwesend, so dass seine Beziehung zu Malin schon lange erkaltet ist. Malins Mutter ist wegen ihrer Arbeit vorrangig in Japan und man liest sie daher fast nur per Mail. Auch zwischen den Eltern verspürte ich keine Zuneigung.
Orestes, der Nerd, ist über weite Strecken abweisend und kühl, doch auch wenn sich sein Verhältnis zu Malin bessert, bleibt er etwas unzugänglich. Seine Mutter Mona ist sehr esoterisch veranlagt (verbietet Orestes z.B. Schmerztabletten) führt spirituelle, heilende Sessions durch und überlässt die kleine Elektra oft Orestes.

So richtig sympathisch wurde mir also niemand und die Stimmung empfand ich oft als eher unangenehm. Dem doch recht umfangreichen Buch fehlte es zudem manchmal an Spannung, wenngleich sie hin und wieder durchaus aufflackerte.
Man erfährt etwas über (anspruchsvolle) Codes, Schreibmaschinen, Rechenschieber und Rechenmaschinen, jeweils veranschaulicht auch durch Illustrationen. Angedeutete Themen sind die Gegensätze Natur – Technik sowie Glaube - Wissenschaft. Ein weiteres angerissenes Thema ist eine möglich Gefahr, die im Umgang mit dem Internet entstehen kann.

Die Handlung ist mit abenteuerlichen, mystischen und esoterischen Elementen angereichert. Ein bisschen Grusel kommt auch noch hinzu, als ein manipulativer Psychopath auftritt, was mir allerdings so gar nicht gefallen hat und ich irgendwie sehr unpassend fand. Dementsprechend empfand ich den (vorläufigen) Abschluss auch als etwas wüst.
Da die grundlegenden Aufgaben und Rätsel um Axel Aström und die Erdenströme aber noch nicht gelöst sind, wird es zwei weitere Bände geben.

Insgesamt überzeugte mich dieser Reihenauftakt leider nicht. Ich wollte das Buch wirklich mögen, aber der Funke sprang nicht so recht über, obwohl es sehr witzig und kurzweilig begann. Für diese Altersgruppe gibt es so viele bessere Bücher, so dass ich es meinen Kindern eher nicht empfehlen werde.