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Veröffentlicht am 05.03.2024

Glaubenskrise

Yellowface
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Unzuverlässiges Erzählen hat mich schon immer fasziniert. Ob in literarischer Form von Max Frischs Stiller bis zu Gillian Flynns Gone Girl oder in Filmen wie Mulholland Drive, The Sixth Sense und Die üblichen ...

Unzuverlässiges Erzählen hat mich schon immer fasziniert. Ob in literarischer Form von Max Frischs Stiller bis zu Gillian Flynns Gone Girl oder in Filmen wie Mulholland Drive, The Sixth Sense und Die üblichen Verdächtigen. Jetzt ist Yellowface keine klassische unzuverlässige Erzählung – die Handlung wird am Ende nicht auf den Kopf gestellt – aber ihrer Hauptfigur mag man dennoch nicht alles glauben. Zu oft verheddert sie sich in Widersprüchen, Ausflüchten und Ausreden, um nicht als die Böse abgestempelt zu werden. Und das funktioniert großartig: Als Leser:in weiß man nicht, ob June nun liebens- oder verachtenswert ist. Oder beides.

Der Plot: June ist dabei, als ihre Freundin, die erfolgreiche Autorin Athena, an einem Pancake erstickt. Noch in derselben Nacht landet das fertige Manuskript ihres neuen Buchs in Junes Tasche. Und da ihr eigenes literarisches Debüt gefloppt ist, überarbeitet sie nun Athenas Werk über chinesische Zwangsarbeiter im ersten Weltkrieg. Ihre Agentur und sich überbietende Verlage sind begeistert, drängen aber darauf, Junes Namen so anzupassen, damit dieser chinesischer klingt. June kostet den Erfolg aus, aber es kommen erste Zweifel auf, ob das Buch überhaupt von einer nicht-chinesischen Schriftstellerin kommen kann.

Yellowface ist einer der Buch-Hypes des noch jungen Lesejahres. Hochdekoriert, unter anderem als Gewinner des Goodreads Choice Awards in der Kategorie Best Fiction – also das beste Buch des Jahres auf der größten Buchplattform im Internet mit fast dreimal so vielen Stimmen wie Platz 2. Eine oft bitterböse Satire auf das Verlagswesen, in der offengelegt wird, dass Verlage sich mit einzelnen „exotischen Stimmen“ schmücken, aber dann doch bitte nicht viel mehr als eine pro Kontinent. In der Filmproduzenten die Geschichte weiß waschen, während die Verleger June Hayward als Juniper Song promoten, um deren vermeintlich asiatische Herkunft zu suggerieren. In der junge Autor:innen sich gegenseitig abfeiern, um so den größtmöglichen Push für ihre Publikationen zu erlangen.

Spannender ist R. F. Kuangs Roman aber als psychologische Studie: Was macht Neid aus Freundschaften? Wie weit würde man selbst für den Erfolg gehen? Und wie schnell lässt man sich um den Finger wickeln, wenn eine Geschichte möglichst glaubhaft erzählt wird? Als Leser:in ist man schnell auf der Seite der Hauptfigur und stutzt, wenn plötzlich Risse ins Bild kommen, dass die Hauptfigur, in diesem Fall June, aufgebaut hat. Trotzdem lässt man sich wieder einlullen, wenn diese nur Zeilen später es mit einem Winken abtut, bis dann doch der nächste Moment folgt, der irgendwie falsch wirkt.

Kuang schafft es, diesen Widerspruch, dieses Glauben und Hadern bis zur letzten Seite, ja, quasi sogar darüber hinaus aufrecht zu erhalten. Ist diese Geschichte wahr? Oder hat June die Leser:innen über das Ende hinweg an der Nase herumgeführt? Ist es am Ende vielleicht nicht mal ihre Geschichte? Eigentlich meisterhaft, dieses Buch. Einziger Wermutstropfen – und der Grund für die 4-Sterne-Bewertung: Die Auflösung des Plots ist zwar schlüssig, aber auch zu dünn, zu 08/15. Ein Buch, das einem über fast 400 Seiten das Hirn wegbläst, braucht auch ein mindblowing Finale. Das ist ein bisschen schade – aber trotzdem ist Yellowface eine absolute Leseempfehlung. Viel Spaß beim Lieben und Hassen der Juniper Song – und der damit eintretenden Glaubenskrise.

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Ausgefuchster Riesenspaß

Grimmwald: Lasst die Felle fliegen! – Band 2
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Zum Beginn ein kleiner Rückblick: Im ersten Band von Grimmwald mussten die beiden Füchse Ted und Nancy aus der vertrauten Stadt fliehen – die fiese Katze Prinzessin Pinöckel war ihnen auf den befellten ...

Zum Beginn ein kleiner Rückblick: Im ersten Band von Grimmwald mussten die beiden Füchse Ted und Nancy aus der vertrauten Stadt fliehen – die fiese Katze Prinzessin Pinöckel war ihnen auf den befellten Fersen. Ihr Ziel war der Grimmwald, doch auch dort waren sie nicht sicher. Erst nach einem elektrisierenden Finale kehrte Ruhe ein. Doch dann … erschien Teil 2 von Nadia Shireens Fuchsgeschichte: „Lasst die Felle fliegen!“

Eigentlich haben sich Ted und Nancy gut eingelebt, baumboinken lustig mit ihren neuen Freund:innen durch den Wald, aber dann, ja dann steht plötzlich Sebastian Silver vor der, naja, Tür. Der Bürgermeister des umliegenden Funkelforsts möchte einen Vergnügungspark bauen und dafür den Grimmwald abholzen. Und das müssen Ted und Nancy natürlich verhindern.

Der zweite Teil der Grimmwald-Reihe punktet vor allem durch absurden Witz. Ein Beispiel? Der kleine Faktenteil auf Seite 5 – die Themen sind der Grimmwald, das lustige Spiel Baumboink und Eulen – endet mit dem Hinweis in Bezug auf Letztere, dass diese „einige Jahrhunderte lang […] ausschließlich in einem kleinen Familienbetrieb in Portugal hergestellt“ wurden. Und allein solche Sätze machen Grimmwald zu einem (sehr) frühen Einstieg in die Humorwelten von Douglas Adams oder Terry Pratchett. Eltern, die das begrüßen, sollten auf jeden Fall zugreifen.

Mein Lieblingssatz allerdings ist die Beschreibung eines geheimnisvollen Fuchses: „Und er hat richtig gut gerochen. Nach alten Büchern und Streuselkuchen.“ Geht’s noch besser? Direkt Wohlfühlatmosphäre geschaffen. Und genau das ist der große Pluspunkt des zweiten Buchs. War das erste noch brachialer, wachsen den Leser:innen hier die Figuren noch mehr ans Herz, es ist heimeliger und natürlich trotzdem weit weg vom Kitsch anderer Kinderbücher. Oder ertrinken da Fliegen in Hirschtränen? Eher nicht, vermutlich.

Manchmal hat Grimmwald ein paar Längen, auf der anderen Seite sind auch die durchaus humorvoll befüllt. Und für gerade einmal 15 Euro bekommt man eine Geschichte mit gut 240 Seiten Lesespaß, witzigen Illustrationen und fantastischen Einschüben. Oh, und ein Rezept für ein Strafmüsli ist auch dabei. Wobei … das ist nur etwas für Fans von Ästen, Kies und Schneckenhäusern. Schwierig, vielleicht. Und eine Zwiebel ist auch noch drin, da würde im Haus natürlich auch sofort geschimpft. Nun gut.

„Lasst die Felle fliegen“ ist in jedem Fall eine würdige Fortsetzung der Grimmwald-Reihe, die aber auch ohne die Vorkenntnisse von Band 1 funktioniert. Könnte Kindern gefallen, die schon „Dachs und Rakete“ mochten, deren Geschichten aber eine Spur zu nett fanden. Am Ende – es ist ein Kinderbuch und daher kein Spoiler – wird natürlich alles gut und der Grimmwald ist bereit für ein drittes Abenteuer. Und so viel sei schon einmal verraten – in England gibt’s das schon. Attack of the Stink Monster heißt es und das wird bestimmt wieder genauso gut. Aber bis dahin wird erstmal eine Runde gebaumboinkt und Streuselkuchen gegessen.

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Veröffentlicht am 27.02.2024

Pflanztastisch

Geniale Power-Pflanzen
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Dass wir Menschen unsere Inspiration aus der Natur beziehen, ist klar. Spätestens nach der Lektüre des im vergangenen Jahr bei Seemann erschienenen Kinderbuchs „Von Ameise bis Wombat – Tierisch geniale ...

Dass wir Menschen unsere Inspiration aus der Natur beziehen, ist klar. Spätestens nach der Lektüre des im vergangenen Jahr bei Seemann erschienenen Kinderbuchs „Von Ameise bis Wombat – Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft“. Mit „Geniale Powerpflanzen – Vorbilder für unsere Zukunft“ liegt jetzt quasi der florale Nachfolger vor. Bloß das Autoren-Illustratoren-Duo hat gewechselt, jetzt nehmen uns Clive Gifford und Gosia Herba zusammen mit Steppenhexe Kali mit auf die Reise in die Pflanzenwelt. Und das macht fast noch mehr Spaß.

Das Buch ist in sechs Überkategorien eingeteilt und zeigt Vorbilder und Inspiration zu Strukturen, Robotik, Energie, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Materialien, die in der faszinierenden Welt der Blumen, Bäume und anderen Pflanzen zu finden sind. Wusstet ihr beispielsweise, dass Pomelos einen eingebauten Stoßdämpfer haben, um Stürze von bis zu 15 Meter hohen Bäumen abzufedern? Dass Forscher:innen in Singapur Roboterarme an ein Fangblatt einer Venusfliegenfalle gebunden haben, damit dieser schneller zugreifen kann? Oder sie versuchen, aus dem Blatt des Madagaskar-Immergrüns ein Leukämie-Mittel für Kinder zu entwickeln?

All diese und noch viele, viele weitere Themen werden in diesem Kinderbuch ab fünf Jahren behandelt. Ob man den Vorgänger nun kennt oder nicht, spielt keine Rolle. Hier wurde lediglich das Quiz am Ende des Buchs vermisst. Der Illustrationsstil von Gosia Herba ist dem von Yeji Yun sehr ähnlich, die beiden Bücher haben also trotz des unterschiedlichen Teams einen klaren Wiedererkennungswert. Und einen hohen Spaßfaktor, schließlich gucken alle Pflanzen total fröhlich aus der Wäsche und auf fast allen Seiten gibt es etwas zu entdecken und zu lachen.

Die Lieblingskapitel im Haus sind die Klette, die das Prinzip des Klettverschlusses wunderbar erklären, der maisterhafte (sic!) Mais, aus dem nicht nur Essen, sondern auch schnell abbaubares Geschirr gewonnen wird, und natürlich der mega-stinkende Titanenwurz. Aber auch die Steppenhexe, bekannt aus Wild-West-Filmen, deren Tumbleweed-Struktur als Inspiration für den nächsten Mars-Rover dienen kann. Und von da, ist es nicht mehr weit bis zum Star Wars-Liebling BB-8. Tierisch gut, ääh, nee, natürlich pflanztastisch, oder?

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Veröffentlicht am 07.02.2024

Magerjahre

Klarkommen
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Die fetten Jahre? Gibt’s nur in Geschichten. Zumindest für die Ich-Erzählerin. Weder auf dem Land zu Abi-Zeiten noch in der Studi-Großstadt ist das Leben laut, bunt und aufregend. Stattdessen gibt’s nur ...

Die fetten Jahre? Gibt’s nur in Geschichten. Zumindest für die Ich-Erzählerin. Weder auf dem Land zu Abi-Zeiten noch in der Studi-Großstadt ist das Leben laut, bunt und aufregend. Stattdessen gibt’s nur Apfelschorle in der Kneipe, ruhige WG-Abende, Geburtstagsbrunch statt wilder Reinfeier – und genau zur einzigen richtig-wichtigen Party einen grippalen Infekt. Soll das so? Vermutlich. Denn das ist, mit Freddie Mercury-Stimme gesungen, the real life.

Ilona Hartmann war vor Jahren ja eine der gehypten Twitter-Autorinnen. Leider aber auch ein gutes Beispiel, dass launige Tweets nicht auch launige Bücher bedeuten. Ihr Debütroman „Land in Sicht“ war zu bemüht, zu konstruiert und insgesamt eher langweilig. Die gute Nachricht: All das hat sie in „Klarkommen“ abgestreift.

Ihr neues Buch ist authentisch, gut geschrieben, nicht mit berufsjugendlichen Buzzwords vollgeknallt. Der Ton passt ideal zur Geschichte. Kurze, nur wenige Worte oder Zeilen lange Kapitel, eher Gedankenfetzen, wechseln sich mit Erlebnissen der Protagonistin ab. Mein Handy war nach der letzten Seite voller Fotos von Zitaten. Nicht unbedingt pointiert, aber nachfühlbar und selbst erlebt. Ein Beispiel für einen dieser schönen Sätze: „Jedes Mal, wenn wir freiwillig oder zufällig Nachrichten gelesen hatten, beschlich uns das beklemmende Gefühl, dass wir uns mit dem Aufblühen beeilen mussten.“ Übrigens ist das auch das ganze Kapitel mit der passenden Überschrift „Druck“.

Und genau dieses Nachvollziehbare, dieses Echte ist das Alleinstellungsmerkmal von „Klarkommen“: Der Roman ist kein wilder Road-Trip durch Jugend- und Studijahre, keine Dauerparty, kein Coachella-Insta-Life. Keine Realitätsflucht in andere Leben, die so viel bunter, glamouröser und aufregender sind als das einzige. Stattdessen ein Spiegel des eigenen Großwerdens und dadurch auch ein klares „Dein Leben ist in Ordnung, auch wenn du denkst, du verpasst was, denn anderen geht es genau wie dir.“-Statement. Coming-of-Age ist eben mehr Magerkost als Vollfettware, egal was alle behaupten. Und genau das macht Ilona Hartmanns 2024er Buch zu einem ersten Highlight des noch jungen Lesejahres.

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Veröffentlicht am 30.01.2024

Schlachthof Boys

Essex Dogs
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Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. ...

Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. Das ist der Verdienst des Autors – Dan Jones. Nebenberuf Autor, Hauptberuf Historiker. Hohe Fallhöhe – aber es geht nicht schief. Zum Glück.

Die „Essex Dogs“ sind ein Haufen Söldner, der 1346 mit englischen Heeren nach Frankreich zieht. Eigentlich haben sie sich nur für 40 Tage verpflichtet, danach soll es wieder zurückgehen in die Grafschaft nordöstlich von London, zurück zu Pints und Pubs. Dass dies erst der Auftakt des Hundertjährigen Krieges sein wird, ahnt vermutlich keiner. Auch nicht, dass nicht alle Essex Dogs den französischen Boden verlassen werden.

Dan Jones Roman ist wahrlich kein Buch für Leser:innen von cozy history. Er ist eine klassische Kriegsgeschichte. Dörfer werden erobert und zerstört, Frauen vergewaltigt, Kinder getötet. Nicht explizit, da die Dogs aus Essex sich an letzteren Taten nicht beteiligen, dennoch harte, wenn leider auch wahre Kost.

Jones mixt für seine Geschichte historische Figuren von King Edward III, dessen Sohn und britischen Feldherren sowie ihren französischen Pendants mit den fiktiven Essex Dogs um ihren leicht mysteriösen Anführer Loveday. Letzterer kämpft mit den Schatten seiner Vergangenheit – dem Tod seiner Familie, dem Verlust des früheren Dogs-Chefs Captain – und dem Auf- und Abtauchen einer nebulösen Frau in einer eroberten Stadt, die ihm keine Ruhe lässt. Und natürlich damit, seine Gruppe heil aus England zu bekommen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Viel Geschichtswissen müssen Leser:innen nicht mitbringen. Es gibt eine Karte, die den Schlachtzug von der Landung in der Normandie hin zur Schlacht von Crécy nachzeichnet. Jedes Kapitel startet mit einem kurzen Auszug aus historischen Dokumenten. Den Rest erzählt Jones, basierend auf historischen Dokumenten, Liedern und Erzählungen und mit einer großen Portion eigener Story. Ob alle historischen Figuren charakterlich korrekt getroffen sind – von den harten Feldherren bis zum weichen, unsicheren Königssohn – sei dahingestellt, aber „Essex Dogs“ ist ja weniger Geschichtsbuch als Abenteuerroman.

Und natürlich dauert die Reise der Dogs länger als 40 Tage im Schlachthaus Frankreich. Sie ist nach der letzten Seite nicht einmal zu Ende. Denn so ein hundertjähriger Krieg dauert länger als ein paar Monate – und am Schluss wartet noch der ein oder andere Cliffhanger. Und damit ändern sich auch für mich zwei Dinge: Vielleicht werde ich doch noch Fan historischer Romane – und vielleicht sogar der von Roman-Reihen. Danke, Dan Jones. Vermutlich.

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