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Veröffentlicht am 28.03.2022

Zwiebelbook

Für diesen Sommer
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Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, ...

Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, Umweltbewegung, Kindstod, Depressionen, Suizid, ein bisschen natürlich auch die Liebe. Und zwischen den Zeilen sicher noch ein paar mehr.

Zissy steht vor der Tür ihres Elternhauses, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr betreten hat. Ihr Vater und ihre Schwester Monika legten keinen Wert darauf, nachdem sie wenige Stunden zu spät im Krankenhaus eingetroffen war, um sich noch verabschieden zu können, eigentlich eh schon längst nicht mehr da war, aus vielen Gründen, die sie aber eigentlich auch gar nicht so sehr interessieren. Aber jetzt wird sie gebraucht.

Ihr Vater kann den Alltag nicht mehr gut alleine absolvieren, hat die von Monika geplante Kur abgesagt, verweigert den Umbau des Hauses in ein altersgerechtes Domizil, sitzt lieber zuhause und zeichnet Ameisenbären. Zu viel für Monika, die mit Burnout in eine Klinik muss, nachdem ihr Mann Zissy um Hilfe gebeten hat. Eine Klinik, mit der Zissy und „Moka“ mehr verbindet, als sie ahnen.

Gisa Klönne schreibt mal aus der Sicht von Zissy, mal aus der Gedankenwelt des Vaters. Springt immer wieder zwischen dem Zweiten Weltkrieg und heute, der frühen Kindheit der Töchter bis zur Jugendbewegung der 80er-Jahre. Für die Leser:innen ein bisschen fordernd, aber der Geschichte der Familie durchaus angemessen, die Konzentration darf sich nicht einmal einen kurzen Moment ausruhen, ansonsten droht mindestens eine hochgradige Verwirrung und nervöses Zurückblättern.

„Für diesen Sommer“ ist ein langsames, ein leises, ein melancholisches, stellenweise etwas zu pathetisches, aber auch immer wieder hoffnungsvolles Buch. Ein Gespräch mit der Nachbarin, ein Ausflug zum See, ein kurzer Spaziergang ohne Rollstuhl lassen die Entfremdung schwinden, das Geschwisterverhältnis versöhnlicher werden.

Ein Buch, eine Familiengeschichte wie eine Zwiebel, unglaublich vielschichtig, kaum ein Auge trocken lassend, mit wunderlichen und liebevollen, aber auch tieftraurigen Episoden, das keine Generation auslässt – und so vielleicht Leser:innen dazu bewegt, sich nach jahrzehntelangem Stillstand zu bewegen, mit der eigenen Familie auszusprechen und zu versöhnen.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Safe spaces

Unser wirkliches Leben
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"Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war."

Ein schönes Bild. Das eine Lied, der eine Hoodie, beide ein safe space in den eigenen ...

"Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war."

Ein schönes Bild. Das eine Lied, der eine Hoodie, beide ein safe space in den eigenen vier Wänden, wenn das Leben, die Welt wieder einmal unbarmherzig auf einen hinein prasselt, wie ein Hagelschauer im März – den Frühling im Blick und doch noch einmal verwehrt.

Wie passend, dass „Unser wirkliches Leben“ weit entfernt vom Frühling im Londoner Herbst beginnt. Und auch emotional steht Anna vor einem Winter. Sie studiert Operngesang, irgendwie reingerutscht zwischen lauter Student:innen, die seit Jahren nichts anderes machen, im Gegensatz zu ihr, der unerfahrenen Erstsemesterin, die nur bei lokalen Aufführungen gesungen und sich auf gut Glück und ohne ernsthafte Hoffnung beworben hatte, bevor sie tatsächlich genommen wurde.

Um über die Runden zu kommen, lebt sie mit ihrer neuen besten Freundin Laurie zur günstigen Untermiete bei einem völlig verrückten, dominanten Ehepaar, das irre Regeln aufstellt, bevor sie die beiden zu Neujahr vor die Tür setzt. Und singt sie Jazz in einer Hotelbar, in der Laurie arbeitet und in der sie von Max angesprochen wird. Max, der Annas Winter beherrschen will.

Sie trifft sich mit ihm zum Abendessen, dann noch mal, irgendwann wird eine Affäre daraus, mit ihm, den noch verheirateten Bänker, der sich immer mal wieder meldet. Und immer wieder Annas Handeln kommentiert, mal subtil, mal mit der Brechstange. Der sie überredet, das Jazzsingen aufzugeben und ihr stattdessen das Geld gibt, das ihr so durch die Lappen geht. Ihr eine neue Wohnung besorgt. Und in ihr Zweifel sät, ob die Zukunft in der Opernwelt das richtige für Anna ist.

Imogen Crimp ist ein latent perfider Gesellschaftsroman gelungen, der nie ganz klar macht, welche Rollen in dieser Londoner Bank- und Opernwelt aufgeführt werden. Ist es eine toxische Beziehung, in der Max Anna immer mehr seinen Stempel aufdrückt, sie aus ihrem geschätzten Umfeld zieht, ihre Freunde für deren Lebensstil kritisiert und sich manchmal für Tage oder Wochen zurückzieht – zu seiner Frau aufs Land oder in andere Betten Englands? Oder ist das nur der von Laurie eingeflüsterte Eindruck, der sich in Anna mehr und mehr verhärtet und genau dann wieder aufweicht, wenn Max beim nächsten Treffen so ganz anders agiert und reagiert wie zuletzt.

Ist es die Stärke oder die Schwäche von „Unser wirkliches Leben“, dass dieses Spannungsfeld nie richtig aufgelöst wird? Diese Entscheidung, müssen die Leser:innen entscheiden. Am schönsten aber ist Crimps Debütroman, wenn Anna alleine ist. Auf der Bühne. An der Uni. Beim Opern-Workshop in Frankreich. Da fühlt sich auch dieses Buch wie der zitierte ausgeleierte Pulli an – gemütlich, freundlich, wie ein Zuhause. Ein echter safe space eben.

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Veröffentlicht am 25.02.2022

So viel Leben

Man vergisst nicht, wie man schwimmt
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„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“

Wie viele Leute haben wir in unserem Leben getroffen und wieder aus den Augen ...

„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“

Wie viele Leute haben wir in unserem Leben getroffen und wieder aus den Augen verloren, mal schnell, mal schleichend? Kurze Festivalbekanntschaften, die Leute aus der Parallelklasse. Das Mädchen von der Kinokasse, der ältere Herr aus Zimmer 102 während des Zivildiensts. Der beste Freund aus Jugendtagen, die erste große Liebe. Wie viele Geschichten wurden nie zu Ende erzählt?

Es ist der 31. August 1999. Der letzte Tag des Sommers. Der letzte Sommer des Millenniums. Vielleicht der letzte Sommer überhaupt, wenn wahr ist, was Esoteriker und Verschwörungswissenschaftler schwurbeln. Krüger ist das egal. Er ist froh, wenn der Sommer vorbei ist. Dieser eine Tag muss noch geschafft werden. Doch der läuft so ganz anders als gedacht. So anders, dass er noch Jahrzehnte später tief in seinem Kopf eingebrannt ist.

Nur kurz seinem Kumpel Viktor helfen, die Zeitung auszutragen, dann im Müller das neue Tony Hawk zocken, dann mal sehen. Das ist der Plan. Doch schnell wird Krüger auf den Boden der Tatsachen geholt. Oder besser: über den Haufen gerannt und zu Boden gerissen, von einem rothaarigen Mädchen, das mit einem neuen Nokia 3210 in der Hand auf der Flucht vor dem Nazi-Chef der örtlichen Müller-Filiale ist. Und die sich direkt auch noch Krügers Eastpak schnappt, in dem sein größter Schatz steckt. Sein Notizbuch. Sein Geheimnis. Seine Vergangenheit. Sein Grund, warum er den Sommer so hasst.

„Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ ist einer dieser Romane über die Sommer der Jugend, die wie geschrieben sind für die Thirty- oder Fourty-somethings. Bei denen die eigene Coming-of-Age-Zeit irgendwo zwischen den Zeilen aufflackert. Der legitime Nachfolger von Ewald Arenz‘ „Der große Sommer“ oder Benedict Wells‘ „Hard Land“. Nur eben: späte 90er statt 80er.

Endlich, denken alle, die zu dieser Zeit in der Pubertät, der Führerscheinprüfung oder der Abi-Zeit steckten. Als das Internet noch nicht wirklich existierte, Snake die einzige App war, die wir brauchten (und hatten), wenn wir überhaupt schon ein Handy besaßen. Als Eastpaks unsere Schuluniform waren, die Red Hot Chili Peppers über Californication sangen und Freundeskreis über A-N-N-A. Auch so eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Bus weg, Regen fällt, was bleibt?

Doch die Geschichte von Krüger fängt gerade an und endet erst 400 Seiten später am nächsten Morgen, so wie einer dieser perfekten Filme aus genau dieser Zeit: „Go“ mit dem komischen deutschen Zusatz „Das Leben beginnt erst um 3 Uhr morgens“ oder „11:14“ oder natürlich „Schule“, diesem fantastischen Film über eine Clique, die ihr Abi feiert im unausgesprochenen Wissen, bald auseinander zu brechen, die gemeinsame Geschichte zu beenden, um neue zu schreiben.

Gemeinsam mit Viktor macht sich Krüger auf die Suche nach dem Mädchen mit dem Nokia und seinem Eastpak und findet sie im Zirkus, der morgen schon weiterreisen wird. Sie lädt ihn ein zur letzten Vorstellung im fränkischen Kaff Bodenstein, bevor sie gemeinsam in den Abend ziehen, auf die Suche nach der Hanfplantage der örtlichen Dealer, auf die große Hausparty der neureichen Zwillinge, deren Eltern übers Wochenende verreist sind, zur Enthüllung von Krügers Geheimnis. Und zu einem Ende, das alles verändern wird – das Leben, die Freundschaft, die Liebe.

Christian Huber hat einen Roman geschrieben, der einen fantastischen, dramatischen, aber niemals kitschigen Sog entwickelt, der Leser:innen mit in den Rausch dieses letzten Sommertages 1999 nimmt und erst am nächsten Morgen ausspuckt, völlig geschafft, völlig überwältigt, voller 90s-Flashbacks. Oder wie es die Figur Jacky wundervoll in Worte fasst:

„Ein Tag wie ein Leben. Und so viele Tage liegen noch vor uns. So viel Leben.“

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Veröffentlicht am 24.02.2022

Inklusive Entdeckungsreise

Glücksfisch: Hallo, das bin ich!
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Das Schöne an Kindern? Sie haben keine Vorurteile. Erst einmal. Und am besten bleibt das so. Das ist natürlich in erster Linie die Aufgabe der Eltern, aber auch Bücher können hier eine Rolle bei der vorurteilsfreien ...

Das Schöne an Kindern? Sie haben keine Vorurteile. Erst einmal. Und am besten bleibt das so. Das ist natürlich in erster Linie die Aufgabe der Eltern, aber auch Bücher können hier eine Rolle bei der vorurteilsfreien Erziehung spielen. Schön, wenn ein Buch die Vielseitigkeit der Menschen in Bilder und Wörter hüllt, dass es schon Zweijährige verstehen und dabei kleine und große Unterschiede einfach völlig normal sein lassen. Wie „Hallo, das bin ich!“ aus dem Glückskind-Verlag.

Verschiedene Haarfarben, Male, Brille, Hörgeräte – alles wird hier ganz natürlich dargestellt. Und die Hautfarbe nicht einmal bewusst thematisiert, weil es überhaupt keine Rolle spielen sollte, ob Menschen schwarz oder weiß sind. So lässt sich die Vielseitigkeit des Körpers wundervoll entdecken. Und die Kinder nehmen alles ganz unvoreingenommen war, entdecken Merkmale, die sich selbst haben, die sie von Freunden kennen oder die ihnen noch unbekannt sind.

Diese Inklusivität ist die große Stärke des Buchs, das in einem simplen, aber ganz hübschen Stil von Maria Nedarova illustriert wurde. Kleine Klappen zeigen, wie die fünf Sinne des Menschen funktionieren, an Rädchen tanzt ein Kind oder es wird gezeigt, was es nach dem Schlaf am liebsten macht.

Nicht jede Interaktion, nicht jede Seite ist völlig gelungen, das Trinken des Wassers und das Zähneputzen werden zwar groß und interaktiv dargestellt, aber hier wäre sicher noch mehr Potenzial bei der Darstellung und den Reaktionen des Körpers gewesen.

Für Zweijährige ein schönes Buch, um den eigenen und andere Körper zu entdecken, von Gliedmaßen über Gefühle bis zur richtigen Körperpflege und Ernährung. Für Kinder, die auf die 3 Jahre zugehen, vielleicht schon etwas zu wenig informativ, aber gerade in dieser Altersklasse passiert so viel, so schnell, dass es nicht immer einfach ist, das Interesse über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Ist aber auch gar nicht so schlimm. Denn schöner ist es, dass es Bücher wie dieses gibt – inklusiv, lehrreich und dabei ganz und gar nicht belehrend.

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Veröffentlicht am 04.02.2022

200 Fahrzeuge, unendlicher Wimmelspaß

Edition Piepmatz: Fahren, Fliegen, Rollen
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Und wieder etwas entdeckt: Da rennt der Bauarbeiter auf der Baustellenseite doch ganz hektisch aufs Dixiklo. Großes Gekicher. Und das auf fast jeder Seite. Aber erst einmal zum Anfang.

„Fahren, Fliegen, ...

Und wieder etwas entdeckt: Da rennt der Bauarbeiter auf der Baustellenseite doch ganz hektisch aufs Dixiklo. Großes Gekicher. Und das auf fast jeder Seite. Aber erst einmal zum Anfang.

„Fahren, Fliegen, Rollen“ ist das Fahrzeug-Lexikon aus der Ravensburger Edition Piepmatz-Reihe – die perfekten Bücher für Leser:innen ab zwei Jahren. Oder besser gesagt: Entdecker:innen, denen noch fleißig vorgelesen wird, bevor sie selbst blättern, auf etwas zeigen und Dinge beim Namen nennen. Und das geht in diesem Buch richtig gut. Und nicht nur das.

Das Buch liegt wunderbar in der Hand, ist aus sehr angenehm greifbarer Pappe gestaltet – und unfassbar toll illustriert. Eigentlich total simpel, die Figuren erinnern gar an eine Meme-Figuren-Reihe, aber diese reduzierte Art lässt alle Fahrzeuge, Menschen, Tiere und Gegenstände umso klarer und schöner erscheinen.

Im Buch geht es in die Luft – vom Zeppelin über das Flugzeug bis hin zu Nils Holgersson (Papa, wer ist das? – Das lesen wir noch!), ins Meer mit brennendem Containerschiff und zum Glück weit entfernter Entenfamilie, bis zur schon genannten Baustelle.

Fahrzeuge mit viel Trara und Tatütata werden genauso entdeckt wie endlos lange Güterzüge, riesige Monstertrucks und winzige Flitzer aus dem Kinderzimmer vom Schiebeauto bis zu den Rollschuhen. Aber bloß nicht an den Schlitten rangehen, darauf schläft die Katze!

Ganz zum Schluss wird’s doppelt lehrreich: Das Fahrzeug-ABC lässt die Entdecker:innen alle Buchstaben lernen (okay, beim X wird etwas gefuddelt und beim Y ist es nicht die vom Duden empfohlene, aber immerhin akzeptierte Schreibweise), auf der Doppelseite darauf sind sie Autos, Roller, Schiffe und Jets noch einmal nach sechs bunten Farben geordnet.

Ein wirklich wundervolles Buch, um neue Fortbewegungsmittel und neue Wörter zu entdecken – in einer unglaublich liebevollen Umsetzung. Chapeau, Ravensburger. Auch dafür, dass das Pferd der Kutsche einen formschönen Haufen auf die Straße gesetzt hat. Und für das große Gekicher, das darauf folgte.

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