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Veröffentlicht am 17.02.2020

ein intensiver Roman über Familie, Kunst, Wahrnehmung und Abhängigkeit

Je tiefer das Wasser
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Edith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. ...

Edith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. Und dann wird die alleinerziehende Mutter in eine Nervenklinik eingewiesen. Die beiden Kinder bleiben zurück und müssen nun zu ihrem Vater nach New York. Er ist ein bekannter Schriftsteller und hat die Familie vor etwa 12 Jahren im Stich gelassen. Für Edith bricht die Welt zusammen. Er ist ein Fremder und sie möchte wieder zurück zu ihrer Mutter, ihr helfen und für sie da sein, doch man lässt sie nicht. Der Umzug zu ihrem Vater gleicht für sie einem Verrat und wie sich herausstellt scheint auch er an dieser Situation nicht ganz unschuldig zu sein. Für Mae hingegen ist das alles wie ein Befreiungsschlag. Sie will von ihrer Mutter nichts mehr wissen und geht im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters förmlich auf. Es kommt zum Bruch und die beiden Geschwister schlagen komplett gegensätzliche Wege ein. Edith unternimmt einen Rettungsversuch und gibt alles mögliche um wieder zurück zu ihrer Mutter zu kommen. Und Mae verrennt sich in etwas, das ihr bald noch zum Verhängnis werden soll …

“Ich weiß nicht, wie viel Edie von alldem wusste. Sie sagte immer, ich wäre Moms Liebling, aber das ist nicht wahr. Es war eher so, dass Mom mich als Erweiterung ihrer selbst sah, während Edie die Freiheit hatte, ganz sie selbst zu sein. […] Ich musste so weit wie möglich von ihr wegkommen, sonst hätte sie mich verschlungen.”

Dieser Roman schildert nun die Tragik innerhalb der Familie, teilweise aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven. Wir lernen die Gedankenwelt der beiden Kinder kennen, aber auch die Ansichten ihrer Bekannten und Verwandten in Bezug auf die Geschehnisse. Dabei springt die Erzählung zwischen Briefen aus der Kennlernzeit von Marianne und Dennis, dem Jahr des Geschehens und Rückblicken bzw. Anmerkungen und Erinnerungen einzelner Beteiligter aus der heutigen Zeit. Nach und nach setzt sich so ein Bild zusammen, das so einiges erklärt, umreißt, aber auch sehr bewegt. Es ist eine Mischung aus Wirklichkeit und individueller Wahrnehmung, die immer wieder von Kunst, Liebe, Wahn und Inspiration durchbrochen wird. Während des Lesens war es für mich eine Art Achterbahnfahrt, geprägt von der Angst vor dem was kommt und dem Unbedingt-wissen-wollen wie es weiter geht. Katya Apekina liefert hier eine vielschichtige und aus vielen Perspektiven aufbauende Geschichte, deren Protagonisten einiges erleben, aber nicht alles wird auserzählt. Es bleibt sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken und einiges dröselt sich erst im weiteren Verlauf auf. So war ich dann teilweise erstaunt, teilweise überschlagend im Weiterlesen, manchmal mit den Protagonistinnen betrübt, manchmal eher skeptisch und manchmal auch einfach überrascht und puh… Dieses Leseerlebnis war toll und irgendwie habe ich seit langem mal wieder auf so ein durch und durch faszinierendes und begeisterndes Buch gewartet. Und hier ist es nun.

Vom Ablauf her erinnert es mich an ein Verhör bzw. so ein Puzzle aus einzelnen Fragmenten einer Tätergeschichte. Und Täter gibt es sogar zahlreich, denn im Grunde läuft bei allen Beteiligten der Familie so einiges schief – psychisch, traumatisch, zwischenmenschlich. Im Fokus stehen dabei die beiden Mädchen, Edith und Mae. Edith versucht ihr Bild über die Mutter so lange wie möglich aufrecht zu halten, kämpft für die Nähe und Bindung zu ihr und scheint wie mit einem Tunnelblick keine anderen Ansichten und Möglichkeiten zuzulassen. Sie will ihre Mutter wieder haben, bei sich ‘tragen’. Nur von ihrem Vater, der sie vor 12 Jahren einfach so sitzen gelassen hat, will sie so gar nichts wissen. Sie scheint sauer auf ihn zu sein, ähnlich wie auf alle anderen Menschen in ihrem Umfeld. Und bei Mae ist es eben genau anders herum. Man merkt recht schnell, es muss noch irgendetwas anderes vorgefallen sein. Sie verrennt sich immer mehr in einer Art Fanatismus und nimmt im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters nahezu alles in Kauf und dann… nun ja. Dann passiert eben das, wovor alle gewarnt haben. Damals schon. Und als Leser guckt man nun so kopfschüttelnd und fasziniert zu und kann einfach nicht einschreiten, noch im gleichen Moment alles verstehen. Zumindest mir erging es dabei so.

Neben dieser extremen Bindungsgeschichte/diesem Aufmerksamkeitswahn durchdringt diesen Roman dann immer wieder die Kunst, die Literatur, die Fotografie, die Musenhaftigkeit und Inspiration den Gedankenstrom. Teilweise sind es ‘meine’ Abschnitte und Gedanken, die sich in diesen sehr klaren, direkten Zeilen wiederfinden. Die Besonderheit der Fotografie und des ‘Sehens’ zum Beispiel. Hierüber könnte ich stundenlang schwafeln und Apekina schafft es ihre Gedanken in die Geschichte einfließen zu lassen, auf wenige Zeilen zu beschränken und doch den Kern der Essenz zu verdeutlichen. Es ist dabei aber kein hochliterarischer oder gar anstrengender Text. Apekina schreibt wunderbar leicht, normal menschlich und gedanklich voller Spitzen, aufbrausender Wut und Trauer und dennoch lässt sie sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken des Lesers, der nach und nach das Bild hinter dem Puzzle ergründet.

Mich hat dieser Roman begeistert verschlungen und auf eine abwechslungsreiche Reise entführt. Ich hoffe nun, dass ihr zu diesem Buch einen Zugang findet und Ähnliches, Faszinierendes und Tolles entdecken könnt, denn Apekina zeigt hier sehr eindrucksvoll wie kräftezehrend die Kunst, Beziehungen oder gar Egoismus sein können. Eine überraschend große Leseempfehlung, leicht ungewöhnlich und doch absolut toll.

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Veröffentlicht am 03.02.2020

Wenn der Tod zur Sünde wird

Was man sät
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Vor ungefähr zwei Jahren, war Lize Spit mit ihrem düsteren Roman “und es schmilzt” in aller Munde. Viele fanden die Geschichte von Eva sehr verstörend, brutal und faszinierend zu gleich. Und irgendwie ...

Vor ungefähr zwei Jahren, war Lize Spit mit ihrem düsteren Roman “und es schmilzt” in aller Munde. Viele fanden die Geschichte von Eva sehr verstörend, brutal und faszinierend zu gleich. Und irgendwie hat es die belgische Provinz (in der dieser Roman spielt) nach einigen langatmigen Abschnitten ‘hart getroffen’.
Ein ähnliches, beklemmendes Buch ist nun gerade bei Suhrkamp erschienen. Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld kommt, wie der Name es vielleicht schon verrät, auch aus dem holländischen Raum und wurde ebenfalls von Helga van Beuningen ins Deutsche übertragen. Auch die Grundvoraussetzungen sind ähnliche und dennoch bringt Rijnevelds Roman eine noch viel düstere und bewegendere Welt zutage.

“Wir haben alle eine alte Seele. Meine ist schon zwölf Jahre alt. Das ist älter als die älteste Kuh des Nachbarn, und die gehört seinen Worten zufolge auf den Schrott, sie gibt nur noch wenig Milch.”

Und genauso fühlt sich Jas. Seit nun zwei Jahren führen sie und ihre Geschwister ein eher sündiges Leben zwischen experimenteller Fantasie, Okkultismus, Sehnsüchten, Angst. Damals waren sie noch eine 6-köpfige Vorzeigefamilie. Es war kurz vor Weihnachten und die Familie freute sich auf die nahenden, besinnlichen Festtage. Doch Jas bemerkte, wie ihr Vater ihrem Lieblingskaninchen immer mehr Aufmerksamkeit schenkte und es mästete. Sie fürchtete schlimmstes und so betete sie zu Gott, er möge es beschützen und lieber ihren ältesten Bruder Matthies zu sich holen… und genau das geschah. Ihr Bruder brach beim Schlittschuhlaufen auf der anderen Seite des Sees durch die Eisdecke und starb. Der Tierarzt überbrachte die Nachricht, als die Mutter Jas und ihre kleine Schwester Hannah badete. Die große Trauer blieb aus, jeder machte sich einzeln Vorwürfe, Weihnachten wurde vor die Tür gesetzt und das Unausgesprochene fraß sich seinen Weg.

“Später dachte ich manchmal, dass hier die Leere begann: dass nicht der Tod schuld war, sondern die beiden Weihnachtstage, die in Töpfen und leeren Husarensalatschachteln weggegeben wurden.”

Ihre Mutter hört auf zu essen und wird immer dünner. Ihr Vater kümmert sich um den Hof, das Vieh und begibt sich immer mal wieder alleine mit dem Fahrrad zum See. Ihr Bruder Obbe, sie und ihre Schwester leben irgendwie weiter, suchen ihren Weg und treiben in ihren Gedanken. Und vor allem Jas macht sich Vorwürfe, die Schuldige an Allem zu sein. Sie hat Angst vor dem Tod, zieht ihre Jacke nicht mehr aus, trägt allerhand Krimskrams in ihren Taschen mit sich, nur um zu sein, um Erinnerungen zu haben und weiter zu leben. Die Kinder probieren sich aus, erkunden sich sexuell, fügen sich Schmerzen zu, lassen Tiere sterben… Es ist als wären sie abgetrennt von der Außenwelt. Ihre eigene Welt, ihre eigenen Gesetze und vor allem Jas scheint irgendwo dazwischen stecken zu bleiben, zwischen Gott und Tod, Angst und Schmerz…

“Im Verlust finden wir uns selbst und sind, wer wir sind: verletzliche Wesen wie gerupfte Starenjunge, die ab und an nackt aus dem Nest fallen und hoffen, dass sie wieder aufgesammelt werden. Ich weine um die Kühe, ich weine um die drei Könige, aus Mitleid, und dann um das lächerliche, in eine Jacke der Angst gehüllte Selbst, die Tränen rasch wieder wegzukriegen.”

In diesem Zusammenhang zu sagen, dass es ein großartiges Buch ist, klingt irgendwie falsch und doch hat mich Rijneveld komplett in eine andere Welt katapultiert. Dieser so wahnsinnig düstere, abgrundtiefe Roman hat eine enorme Bildhaftigkeit und lässt den Schmerz, die Trauer, die Angst von Jas beinahe hautnah erleben. Und dabei entwickelt sich mit jeder Seite eine große Sogwirkung, ohne, dass es sich hierbei um einen Krimi handelt und doch denkt man nur: Was mag als nächstes passieren? Wer wird sterben? Wird wer sterben? Warum tun sie das? Warum merkt das denn niemand? Hilfe! Und das wühlte mich bis zur letzten Seite sehr auf und hat mich noch lange darüber hinaus beschäftigt.
Zwar ist das Ende nicht gerade das, was man sich zu Anfang erhofft und doch hat dieses Buch so etwas in sich Abgerundetes, das ich es einfach nur toll finden kann. Lize Spit selbst sagt: “Rijneveld erschafft eine finstere Welt voll wunderschöner Bilder.” und da merkt man wieder, wie ähnlich die beiden Autorinnen literarisch ‘unterwegs’ sind, denn genau so, wie “Und es schmilzt” endet, ist dieser ganze Roman. Fesselnd, bedrückend, tragisch, faszinierend, menschlich, wow. Also wer in Sachen Romanen einiges ab kann und Lize Spits Geschichte ebenso begeistert gelesen hat, der ist mit diesem Buch wunderbar bedient. Und zu allen anderen würde ich sagen: “Es ist wie der grausigste November. Lest mal vorsichtig rein und lasst dabei vielleicht das Licht an.”

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Veröffentlicht am 03.02.2020

Helge Timmerberg – ein Hippie und der Glaube an die Kraft der Worte

Das Mantra gegen die Angst oder Ready for everything
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“Bereit für alles zu sein bedeutet, keine Angst mehr zu haben, und wer keine Angst hat, keine einzige, auch nicht die klitzekleinste, ist frei, und wer frei ist, hat alle Kräfte, die von der Angst absorbiert ...

“Bereit für alles zu sein bedeutet, keine Angst mehr zu haben, und wer keine Angst hat, keine einzige, auch nicht die klitzekleinste, ist frei, und wer frei ist, hat alle Kräfte, die von der Angst absorbiert werden, zur freien Verfügung.”



Helge ist Autor, Journalist, Reiseschriftsteller und selbst ernannter Hippie. Als er vor Jahren im Annapurna-Massiv pilgerte und sich einem Yogi anvertraute, schenkte dieser ihm ein Mantra gegen seine Angst. Und seine Ängste, Aufregung, Lampenfieber waren tatsächlich recht häufig präsent – sei es durch einen nahenden Hund, einen Türsteher oder eben eine Lesung. Jedenfalls murmelt er sich nun seit etwa 15 Jahren vor schwierigen Situationen, die ihn in Stress und Angst versetzen, das Mantra vor, sein Geist beruhigt sich und er ist für diesen Moment von den bösen Gedanken befreit. Als er nun auf Lesungen immer wieder davon erzählt, würden seine Zuhörer auch gerne von diesem Mantra profitieren. Doch einfach so weitergeben, darf Timmerberg es nicht, denn das könnte das Mantra unwirksam machen.
Dies führt den Autor nun wieder zurück nach Kathmandu. Hier begibt er sich nun auf die Suche nach dem Yogi Kashinath, um ihm zu danken und gleichzeitig zu fragen, wie geheim das Mantra eigentlich ist und ob er jenes mit anderen teilen darf. Timmerberg möchte weiter gehen und darüber ein Buch veröffentlichen und genau das hält man dann mit Das Mantra gegen die Angst oder Ready for everything in den Händen. Dies ist seine Reise, seine Geschichte, einige Begegnungen, Gedanken, neun Tage, Kathmandu.



“Alle wissen, dass ein Mantra kein Opel ist, Mantras sind Worte, die wirken. Nicht durch ihren Inhalt, sondern ihre Lautschwingungen. Sie massieren das Gehirn von innen, sie schwingen die Stressneuronen raus, andere machen das genaue Gegenteil und putschen auf, für jeden ist etwas dabei, sie haben sogar ein Mantra, um Tiger ruhigzustellen.”



Ich gebe zu, dieses Buch entspricht nicht ganz meinen Erwartungen. Ich hatte mit einer Mischung aus spannender Reiselektüre und Weisheit fürs Leben gerechnet und wurde in dieser Hinsicht dann eher enttäuscht. Und dennoch, ist dieses Buch so unbestimmt wie das Leben selbst. Timmerberg schreibt eher locker, direkt und eigenwillig, eben so, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Er schreibt über seine Gedanken, seine Reise, die ursprünglich auf 4 Wochen festgelegt wurde und die er dann abbrechen und auf neun Tage reduzieren möchte. Alles ist sehr ungewiss und so hat man dann auch das Gefühl, dass es für dieses Buch eigentlich keinen roten Faden gibt und doch erzählt er mit einigen Rückblenden seine Geschichte und wie ihn der Glaube an die Kraft des Mantras geholfen hat. Timmerberg macht dem Leser deutlich, dass zu viele Gedanken für eine Entscheidung nie von Vorteil sind, es eigentlich nie eine richtige Entscheidung gibt und dass alles meistens ganz anders kommt, als urpsrünglich geplant. Der Autor hatte scheinbar schon immer ein aufregendes Leben mit einigen Höhen und mehreren Tiefschlägen und doch hat er seinen Weg gefunden. Diese Geschichte ist daher ein Teil von ihm, so eine Mischung aus autobiographischem Auszug und Mantra. Sie enthält einige sehr tiefsinnige Bemerkungen, gespickt mit Witz, Leichtigkeit und einer Prise Abenteuer. Es ist ein Buch, das man locker nebenbei lesen kann, einem die Hand reicht und in seiner ganzen Ungewissheit leitet – raus aus der Gedankenspirale, hinein in die Freiheit.
Wer bei diesem Roman einen Reiseroman oder einen tiefsinnige Reise ins Land Buddhas, sowie Anleitungen Ängste abzulegen, erwartet, der ist hier sicherlich falsch aufgehoben. Für mich war es eher ein spezielles Experiment, denn wie schon gesagt, lese ich diese Art von Buch eher seltener und trotzdem hat Timmerberg mich irgendwie fasziniert und mit auf seine Reise genommen, ohne mich in irgendeiner Art und Weise zu überfordern. Das ‘beigelegte’, gesungene Mantra ist vielleicht das Highlight des Buches, aber die Geschichte lässt gerade Vieldenker, wie mich, etwas zur Ruhe kommen.



“In 30 Minuten kann viel geschehen. Sogar ein klarer Gedanke.”

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Veröffentlicht am 03.02.2020

"Das Vermächtnis unsrer Väter" - Angst und Schuld auf Lebenszeit.

Das Vermächtnis unsrer Väter
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Vor zwanzig Jahren geschah auf auf einer Hebrideninsel ein erschütterndes Verbrechen. Niemand hat es damals kommen sehen und dann war es plötzlich zu spät. Katrina Baird, ihr Ehemann John, ihre einjährige ...

Vor zwanzig Jahren geschah auf auf einer Hebrideninsel ein erschütterndes Verbrechen. Niemand hat es damals kommen sehen und dann war es plötzlich zu spät. Katrina Baird, ihr Ehemann John, ihre einjährige Tochter Elisabeth und der zehnjährige Nicholas wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Ein Blutbad mitten auf dieser sonst so beschaulichen, kleinen Insel, auf der einfach jeder jeden kennt. Der einzige Zeuge und Überlebende dieses Verbrechens ist der achtjährige Thomas, der sich verängstigt im Kleiderschrank versteckt hielt. Doch, was genau ist passiert? Wer hat die Familie angegriffen? Oder war es doch ihre eigene Schuld? Ein Nachbar? Ein Unbekannter?

"Hätte Katrina überlebt, hätte sie hinterher gesagt, was Menschen in solchen Fällen immer sagen: das es ein Tag gewesen sei wie jeder andere. Alles ganz normal. Vielleicht hätte sie auch gesagt, wie seltsam es doch war, dass man Normalität immer erst wahrnahm, wenn sie nicht mehr da war…"

Der Junge kam zu seinem Onkel, doch alles sollte nie wieder so werden wie es war… Ist ja klar, nach dem, was ihm widerfahren ist. Er hat seine Familie verloren, sein Zuhause und grausame, quälende Gedanken und Erinnerungen zurückbehalten. Die Zeit verging, Thomas verließ die Insel und alle schienen es nach und nach langsam zu vergessen. Doch nach zwanzig Jahren Absenz kehrt Thomas wieder zurück, so als hätte er noch eine Rechnung zu begleichen. Alte Erinnerungen werden wach. Schuldgefühle, Angst und Verunsicherung machen sich bei den Inselbewohnern breit und einige wären froh, wenn er schnellstmöglich wieder verschwinden würde. Wissen sie etwa mehr als ihnen lieb ist?

"Ich dachte die ganze Zeit, ich will unbedingt mit dir über meinen Vater reden. Aber ich glaube, es geht mir eher um meine Mutter. [..] Ich meine, ich weiß, wie sie zu mir war, aber ich hab keine Ahnung, wie andere sie gesehen haben."

Rebecca Wait hat mich mit ihrem Roman "Das Vermächtnis unsrer Väter" recht euphorisch gestimmt. Was zunächst als ganz ruhiger, 'normaler' Roman beginnt, wird nach und nach düsterer, nimmt plötzlich eine Wendung, nimmt Fahrt auf und man hat das Gefühl einen Krimi zu lesen. Und dann kommt die Zeit, die Verdrängung, die Menschlichkeit. Thomas kehrt wieder zurück und mit ihm kommt alles noch einmal ins Rollen. Er wohnt bei seinem Onkel, trifft einige andere Inselbewohner und diese sind verwundert, haben Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte und alte Wunden werden wieder aufgerissen. Sie versuchen den Tod und das was damals geschehen ist als Gesprächsthema zu vermeiden und doch bleibt es schwierig.

Wait gibt vielen Bewohnern eine Stimme, ein jeder ihrer Protagonisten hat seine Eigenarten und diese zwischenmenschliche Kommunikation, die Skepsis und die Beobachtungen machen diesen Roman für mich total faszinierend. Mit jeder weiteren Seite merkt man, dass es bereits im Vorfeld einige Anzeichen für die Tat gab, dass Schuld und Vorwürfe auch Jahre überdauern können und dass 'dieses Vermächtnis' zahlreiche Risse und Abgründe in dieses doch so fragile Inselleben ziehen kann und sich damit beinahe alles ändert. Ich möchte jetzt auch gar nicht so viel verraten, denn was wirklich geschehen ist und welche Gründe und Anzeichen es gab und was die Inselbewohner sonst noch so tuscheln, fürchten und verschweigen, sollt ihr dann schon noch selber herausfinden. Die Mischung aus Familiengeschichte, Liebe, Schuld, Verdrängung und Flucht/Veränderung finde ich aus dieser Perspektive sehr spannend geschildert. Ich habe mich lange mit den einzelnen Charakteren auseinandergesetzt, mit meinen bisherigen Begegnungen verglichen und von ihnen sowie vom Setting eine genaue Vorstellung gehabt. Das macht diese Geschichte so greifbar, so abgrundtief bewegend und irgendwie schwingt dann doch auch so ein Hauch menschliche Naivität mit bzw. die Frage ob Schein eben auch Sein ist oder ob man vieles einfach übersehen möchte, weil es so einfach einfacher ist. Mich jedenfalls haben diese Gedanken noch lange begleitet und die Aufmerksamkeit für das, was um mich herum geschieht, verstärkt, mich skeptischer gemacht, sensibilisiert und das, obwohl es eben nur ein fiktiver Roman ist.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

“Vater, Mutter, Kim” und diese Lücke, die bleibt.

Vater, Mutter, Kim
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“Vater, Mutter, Kim” von Eivind Hofstad Evjemo habe ich nun schon vor einer Weile gelesen und habe nach wie vor das Gefühl, diesem Roman hier nicht gerecht werden zu können. Evjemo erzählt nämlich nicht ...

“Vater, Mutter, Kim” von Eivind Hofstad Evjemo habe ich nun schon vor einer Weile gelesen und habe nach wie vor das Gefühl, diesem Roman hier nicht gerecht werden zu können. Evjemo erzählt nämlich nicht nur eine einfache Geschichte. Sie ist viel tiefgründiger und greift ganz andere Gedankenebenen an. Es geht mehrfach um den Verlust und die Trauer. Es geht um eine Familie, die ein Kind adoptiert. Es geht um Anteilnahme, um Menschlichkeit, Zurückhaltung und …

“Dieses unmittelbare Gefühl, wenn ein Damals und ein Jetzt zusammenfallen, dass etwas Unveränderliches, ja Ewiges, zwischen dem Anwesenden und dem Verlorenen entsteht. Für sie ist es wohl das, was einem Glauben am nächsten kommt. Wenn sie es fühlt, dann existiert es auch und kann nicht angezweifelt werden, denkt sie, und der Gedanke verschwindet sofort…”



Sella und Arild leben in einem kleinen Haus. Es scheint ein ruhiger, ereignisloser Tag zu sein und dann erblickt Sella das Auto ihrer Nachbarn, wie sie langsam durch die Siedlung fahren. Nach einer Woche Abwesenheit kehren sie nun endlich zurück und damit zunächst auch Sellas Hoffnung. Doch die Familie ist nicht vollständig. Ein Platz ist leer, der ihrer Tochter, die einem Terroranschlag auf Utoya zum Opfer fiel. Sella möchte ihnen ihre Anteilnahme zeigen, ihnen etwas backen. Waffeln vielleicht? Später wird sie diese in den Brotkasten legen und diese Geste immer wieder hinauszögern. Sella und Arlig kennen das Leid, die Trauer, den Verlust. Auch sie haben vor Jahren ihren Adoptivsohn Kim verloren. Sein Platz ist leer, wird es immer sein und doch lassen die Gedanken ihn nie verschwinden, geschweige denn Normalität einkehren. Rückblicke ermöglichen einen Einblick in ihr früheres Leben, den Kummer kein Kind zu bekommen, die Schwierigkeit ein Fremdes zu adoptieren, mit dessen Eigenarten fertig zu werden, gar Gewalt auszuüben und ihm doch ein zuhause und Liebe zu schenken, auch wenn dies oftmals einseitig erscheint. Und dann, dann ist da diese große Lücke, die ihr, aber auch anderen geblieben ist.



Es ist ein eher ruhiges, klares, teilweise gar beklemmendes Bild, das Evjemo hier zu Tage bringt. Aber es ist eben kein Roman, der sich mit einem turbulenten Plot brüsten kann, und das ist auch gut so, denn sonst würde es dieses feine, leicht Philosophische und Tiefgründige nur unnötig aufwirbeln, gar zerstören und den Fokus auf die Handlung lenken. Die Menschlichkeit und der Umgang mit dem Verlust steht hier im Vordergrund und das macht Evjemo sehr geschickt. Zumindest gefiel es mir sehr, dass das Hauptaugenmerk eben nicht auf diesen Anschlägen beruht, sondern die Gedanken der Protagonisten einfängt. Es ist eigentlich eher Sellas Geschichte, die hier präsent wird und ein sehr großes emotionales Abbild von Vertrauen, Liebe, Hoffnung über Trauer, Schmerz, Verzweiflung und Hilflosigkeit bereithält. Als Leser wird man hierzu zwischen den einzelnen Kapiteln bzw. Jahresausschnitten etwas hin und her geworfen und doch ist gerade dieses ‘Spiel’ wichtig um sich näher mit den einzelnen Protagonisten und ihrer Geschichte zu befassen. Und natürlich ist man zunächst etwas verwirrt, vielleicht sogar enttäuscht weil augenscheinlich kaum etwas passiert, im Text heißt es sogar: “Von oben gesehen, könnte man denken, es sei gar nichts passiert.” und doch sind diese 273 Seiten recht gewaltig, aber eben nur auf den zweiten, emotionaleren Blick.
In diesem Zusammenhang fällt mir dann auch Sarah Kuttners Roman “Kurt” ein und doch kann man beide nur bedingt miteinander vergleichen. In beiden geht es um Trauer und den Verlust. Kuttner, beschreibt eher die Verarbeitungszeit, das Tief, die Hilflosigkeit ihrer Protagonisten. Kurt ist unglücklich vom Klettergerüst gefallen und sein Vater scheint in der Welt aus Trauer gefangen. Seine Freundin versucht ihm eine Stütze zu sein und doch schaffen sie es nur gemeinsam Schritt für Schritt sich zu verstehen, sich wieder anzunähern und sich dem Leben neu zu wappnen.
Bei Evjemo ist diese Verarbeitungszeit bereits geschehen. Es ist eher die ständig mitschwingende Trauer und Erinnerungen, die noch danach aufkommen und das Leben begleiten. Der Schicksalschlag der Nachbarn, weckt die Unsicherheit, den Schmerz von damals und doch versuchen sie ihr Leben aufrecht zu halten. Vor allem Sella beschäftigt dies sehr. Und dann ist da noch die Anteilnahme am Verlust der anderen, die Skepsis, die Frage nach dem Wann. Wann ist der richtige Zeitpunkt auf die Betroffenen zuzugehen? Was werden sie denken? Und wie wäre der richtige Weg? Sella backt gerade hierfür häufiger Brötchen oder Waffeln, die sie den Nachbarn gerne vorbeibringen möchte, es ist ihre Form/Geste der Nähe und Aufrichtigkeit. Doch sie zögert den Weg hinüber zu gehen stets aufs Neue hinaus. Und diese tiefen Gedankengänge liebe ich an diesem Roman. Man fühlt sich in die Protagonistin hinein, begleitet sie, schaut, wie sie sich ihr Leben aufbaut und einiges wieder verliert, Menschen kennenlernt und verschwinden lässt. Man nimmt ihren Kummer, den Schmerz, ihre Liebesbemühungen auf, möchte eine Stütze sein, doch einem bleiben nur die Beobachtung und die Gedanken.
Das Leben kommt immer anders als man sich das selbst erhofft, manchmal unvorhergesehen schnell, manchmal ist es Arbeit, manchmal wird sie geschätzt, manchmal auch nicht und manchmal bleibt einem nur der Blick zu den ‘anderen’ und die Überwindung der eigenen Gedanken. Eivind Hofstad Evjemo – eine großartige Stimme aus Norwegen mit einem großen, unaufgeregten Roman voller Wärme, Einsamkeit und Leid.

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