Schonungslos. Krass. Menschlich.
Licht über dem WeddingMenschlichkeit ist heute so ein großer Begriff, teilweise ganz unvorstellbar, dass jeder mit jedem harmonieren könnte. Zu verschieden sind die Ansichten, Erwartungen, die Kindheit, die familiäre Bindung, ...
Menschlichkeit ist heute so ein großer Begriff, teilweise ganz unvorstellbar, dass jeder mit jedem harmonieren könnte. Zu verschieden sind die Ansichten, Erwartungen, die Kindheit, die familiäre Bindung, das Leben als solches. Ein jeder verrennt sich in seiner Vorstellung. Manche schüren Hass, Neid und Missgunst und äußern dies mit Gewalt. Andere hingegen scheinen alles andere verdrängen zu wollen und flüchten in eine visuelle Scheinwelt. Unterschiedliche Welten prallen tagtäglich aufeinander und doch begleitet uns alle der Drang des Lebens und irgendwie damit auch die Angst des Versagens, der Einsamkeit, der Leere.
In Nicola Karlssons Roman Licht über dem Wedding beschäftigt sich genau mit den verschieden stark ausgeprägten Differenzen. Hannah hat einen Modeblog und verdient ihr Geld als Influencer und Model im SocialMedia. Doch gerade ihre Bilder beschreiben nicht ihr Leben, denn eben dieses gerät nach und nach aus den Fugen. Und die unliebsame Begegnung mit der einen Nachbarstochter könnte dabei eine recht große Rolle zu spielen. Wolf ist alleinerziehender Vater, ist dem Alkohol verfallen und scheint nichts mehr in den Griff zu kriegen. Er und seine Tochter Agnes, wohnen in dem Hochhaus, in dem auch dieses 'Püppchen' vor kurzem eingezogen ist. Sie sind bereits unten angekommen. So kaputt und gewalttätig. Handgreiflichkeiten sind in ihrem Leben keine Seltenheit und auch ihre Ängste scheinen mehr in Aggression zu münden, als Zutraulichkeit zu erzeugen. Und doch sind sie alle sind auf der Suche, nach dem großen Ganzen, dem Leben und der Hoffnung. Aber sie verrennen sich und werden vom Strom der Einsamkeit mitgerissen, bis...
Dieser Roman ist ein gewaltiger Brocken, im wahrsten Sinne des Wortes. Und das kann man jetzt nicht mal auf den Umfang beziehen, denn tatsächlich reißen die 57 Kapitel einen einfach so mit. Schon nach den ersten Seiten wird man als Leser schonungslos in das Leben der Protagonisten gezogen und so schnell auch nicht mehr losgelassen. Man könnte beinahe meinen es wäre ein übelst spannender Krimi und doch ist es eigentlich 'nur' ein Gegenwartsroman, der die aktuelle Situation innerhalb der Großstadt nicht besser darstellen könnte. Welten die auf kleinsten Raum aufeinanderprallen und trotz der gewaltigen Unterschiede so viel gemein haben.
Hannah, Agnes und Wolf sind Figuren, mit denen ich in meinem Umfeld so gar nichts anfangen könnte, zu groß wären hier Spannungen und so war ich dann auch innerhalb des Romans recht wütend, aufgebracht, hassend. Hannah, die irgendwie alles für ein Bild machen würde und in einer so oberflächlichen Welt lebt, alles andere verdrängt und doch so recht wenig vom Leben versteht. Sie hat eine ganz spezielle und für heute recht typische Einstellung, die mich bereits im Geiste herausfordert und zum Teil auch auf die Palme bringt. Wolf, der Schläger und Säufer, und seine Tochter, hingegen sind Menschen denen ich recht wenig über den Weg traue und um die ich wahrscheinlich auch stets einen großen Bogen machen würde. Und so bauten sich dann zwischen dem ganzen Unverständnis, auch Aggressionen in mir auf, die ich gar nicht beschreiben kann. In dieser Form hat mich die Situation und jede Handlungen der einzelnen Protagonisten so wahnsinnig aufgewühlt und wütend gemacht. Doch mit der Zeit wirkten sie dann eher verletzlich, leicht neben der Spur und neben der Wut empfand ich plötzlich Mitleid, Trauer und Hoffnung, dass sich für sie alles zum Besseren wenden wird. Und irgendwie ändert sich in ihrem Leben ja auch was, nur eben so ganz anders als erwartet, mehr überrumpelt, krass und... puh.
Licht über dem Wedding lebt gerade von der Sprache und diesen recht konträren Charakteren. Ein jeder hat seine spezielle Geschichte und gerade das macht diesen Roman so tief, nahbar und ganz besonders. Nicola Karlsson verleiht Menschen eine Stimme, die irgendwo auf dem Abstellgleis herumdümpeln und durch jeden Verlust und jede Begegnung sich neu herausfordern, sich verängstigen lassen und irgendwie auch menschlicher werden. Für mich war dieser Roman eine ganz besondere Lesererfahrung und daher gibt's von mir auch eine ganz, ganz große Empfehlung!