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Veröffentlicht am 06.05.2019

"weg" in die Freiheit

weg
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Georg und Heidi kennen sich eigentlich kaum noch. Sie haben eine Tochter, aber sonst gibt es nur wenige Überschneidungen in ihrem Leben. Sie wohnt allein bei Frankfurt. Er lebt mit seiner neuen Familie ...

Georg und Heidi kennen sich eigentlich kaum noch. Sie haben eine Tochter, aber sonst gibt es nur wenige Überschneidungen in ihrem Leben. Sie wohnt allein bei Frankfurt. Er lebt mit seiner neuen Familie auf einem österreichischen Landgasthof. Früher war es Georg, der einfach weg wollte, raus aus der Stadt. Heute ist es ihre Tochter Charlotte, die zwar schon erwachsen ist, aber an psychischen Problemen leidet. Sie ist einfach verschwunden, nicht mehr in Berlin auffindbar. Weg. Nach und nach trommelt Heidi alle Freunde ihrer Tochter zusammen, sammelt Informationen und malt sich Schreckliches aus. Sie beschließt ihre Tochter zu suchen und auch Georg steht ihr bei diesem Plan zur Seite. Die quälende Angst lähmt sie und doch stellt sie sich den neuen Herausforderungen. Die wenigen Anhaltspunkte führen sie nach Vietnam und Kambodscha. Heidi kommt dort mit neuen Kulturen, Gewohnheiten, einem ganz anderen, unbehüteten Leben in Kontakt. Sie macht sich zahlreiche Gedanken, gewinnt Abstand zu ihrem alten Leben und blüht auf. Sie verlässt ihren Kokon und aus der einstigen Suche nach ihrem Kind wird ein Befreiungsschlag mit offenem Ende...

Dieses Mal ist es die Geschichte einer überfürsorglichen Mutter, die Doris Knecht hier auf die Probe stellt. In ihren Romanen machen die Hauptcharaktere stets eine ungeahnte Entwicklung durch und gerade durch das zutiefst Menschliche wird das Gelesene zu etwas besonderem. Nachdem ich ein großer Fan von "Wald" war (und auch noch immer bin), musste ich ihr neues Buch unbedingt lesen, beinahe schon verschlingen. Und doch war ich dieses Mal etwas genervt. Heidi, ist mir zunächst ein viel zu ängstlich umsorgender Mensch, der teilweise wahnsinnig anstrengend wird. Mit der Zeit lässt sie los, lässt sich am Ende gar treiben und gerade das tut dem Ganzen unwahrscheinlich gut. Das Ende ist für mich fast schon das Highlight der ganzen Geschichte.
Und auch sonst hat es Knecht mal wieder geschafft eine Mischung aus poetischen und hinterfragenden Gedanken mit Themen wie Vertrauen, Beziehungen, Liebe und Festhalten sowie Loslassen zu verweben. Es bedarf in diesem Fall nicht einmal sonderlich großer Action. Die Geschichte zieht einen menschlich in den Bann und gerade das ist großes Kino. Dieses Buch sehr schnell mitgerissen und in eine Welt voller Ängste, Sorgen und Beschützerinstinkte geworfen, die mir rückblickend wahnsinnig gut gefallen hat. Für mich eine klare Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 06.05.2019

Debüt mit Tiefgang

Wenn ich blinzle wird es besser
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Erzählbände sind eigentlich immer etwas tolles, wenn man nicht so viel Zeit hat oder einfach nur kurz vor dem Schlafengehen noch etwas lesen möchte. Christoph Strolzs Buch "Wenn ich blinzle wird es besser" ...

Erzählbände sind eigentlich immer etwas tolles, wenn man nicht so viel Zeit hat oder einfach nur kurz vor dem Schlafengehen noch etwas lesen möchte. Christoph Strolzs Buch "Wenn ich blinzle wird es besser" wäre dafür so ein optimaler Kandidat, wenn er nicht so herausfordernd wäre. Und das meine ich in diesem Fall überhaupt nicht negativ, denn ich hatte mit diesem schmalen Buch eine recht intensivere Leseerfahrung.
So geht es zum Beispiel um einen Fotografen, der bereits Madonna porträtiert hat und nun Promo-Aufnahmen von Tailor Swift macht. Eigentlich sollte dies für ihn nun kein Problem sein und doch steckt der Teufel im Detail. Sein Eindruck und Wille das perfekte Bild, das seinen Vorstellungen entspricht, abzuliefern, treibt ihn vor allem in der Nachbearbeitung weit über die Deadline hinaus. Er stellt so beinahe alles was er an ihr sieht infrage und versucht nun krampfhaft das digitale Abbild einer perfekten haut zu erzeugen. "Wenn ich blinzle wird es besser" sagt er sich und irgendwie hat damit dann auch Recht. An anderer Stelle beobachtet ein Mann mit Kamera die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses. Er will scheinbar Emotionen einfangen um sie Mara zeigen. Mara ist ans Bett gefesselt und scheint auch außerhalb dessen kein Leben zu haben. Niemand im Haus hat sie bisher bemerkt. Es ist eine Welt zwischen dem Gesehenen und dem Eigentlichen. Und so geht es dann auch andererorts um Lüge und Wahrheit, gar Krankheit oder eine Frau, die plötzlich Schlangengesichter um sich herum sieht und alles hinterfragt oder um eine Putzfrau, den Bus und den Schnee oder...



Ich würde nun lügen, wenn ich sagen würde, diese Geschichten hätten mir außerordentlich gut gefallen... Zu sehr stellten sie nämlich meine Zweifel an der oberflächlichen Realität und der eigenen Beobachtung in den Vordergrund. Das liegt nun nicht am Geschriebenen selbst, denn Christoph Strolz verpackt hier viele Gedanken auf eine recht angenehme und doch eher anspruchsvolle Art. Das hier ist kein Buch für eine Nebenbeiunterhaltung, in ihm steckt nämlich viel, viel mehr. Zumindest hat er es bei mir mit jeder einzelnen Geschichte geschafft den Schein der heutigen Welt infrage zu stellen. Wie viel Perfektion und Wunsch wäre noch gerechtfertigt? Was ist Trug und was ist die Wahrheit der eigenen Gedanken und Wahrnehmung? Vielleicht erinnert es auch einfach nur mich an den steigenden Leistungsdruck, persönlich wirre Gedanken und die eigene Wirkung auf quasi Außenstehende. Jede Erzählung steht für sich selbst, hat eine komplett andere Ausgangslage und doch finde ich sie insgesamt so sehr harmonisch.

Veröffentlicht am 06.05.2019

Auf in den Kampf... oder auch nicht.

Meine Königin
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Es ist 1965. Sommer. Der 12-jährige Shell lebt mit seiner Familie in einem recht abgelegenen Ort in der Provence. Das nächste Dorf liegt etwa 10km entfernt. Sie betreiben eine Tankstelle, die aufgrund ...

Es ist 1965. Sommer. Der 12-jährige Shell lebt mit seiner Familie in einem recht abgelegenen Ort in der Provence. Das nächste Dorf liegt etwa 10km entfernt. Sie betreiben eine Tankstelle, die aufgrund der Distanz zum Dorf nicht so häufig von den Einheimischen angefahren wird, aber zum Leben reicht es scheinbar. Shell ist ein Sonderling. Er hat keine Freunde, geht nicht mehr zu Schule, zündet gern Insekten an und erfreut sich daran die Zapfsäulen zu polieren und Autos vollzutanken. Doch er will endlich ein Mann sein. Er probiert eine Zigarette und steckt damit beinahe die Tankstelle in Brand. Und als ihn dann noch seine Eltern zurück auf eine Sonderschule schicken wollen, reißt er sich zusammen und geht über Nacht. Er fühlt sich erwachsen. Shell will in den Krieg ziehen. In einen, wie er ihn aus dem Fernsehen kennt, und es allen beweisen, dass er ein echter, furchtloser Kerl ist. Sein Weg führt ihn über ein nahegelegenes Plateau, wo er auf ein Mädchen namens Viviane trifft. Sie verstehen sich auf Anhieb, reden, spielen. Shell lebt nun auf dem Hochplateau.

Gar täglich bekommt er nun Besuch von seiner Königin. Zumindest erzählt sie ihm, dass sie eine sei und auf einem Schloss in der Nähe wohnt. Mit ihr scheint er die große Schlacht der Männlichkeit vergessen zu haben und bleibt. Als Untertan. Als Held. Nur zurück kann er eben nicht. Als dann alle nach ihm suchen, hilft sie ihm sich versteckt zu halten und versorgt ihn mit Sandwiches. Doch eines Tages, als die Polizei vor seiner Hütte auftaucht und er flieht, ist sie dann plötzlich auch verschwunden...

"Ich wollte nicht als Feigling gelten, wenn ich zurückkam. Aber ich hatte eine Königin und ich wusste schon jetzt, dass ich für sie alles tun würde, nicht weil ich es geschworen hatte, sondern weil ich Lust hatte."

Dieser Roman ist für mich ein sehr feiner, poetischer, gar niedlicher Ausflug mit einigen Längen. Shell und Viviane sind so wunderbar kohärente Charaktere, die jeweils sehr viel Raum für sich beanspruchen und auf ihre Art total liebenswert sind. Und so ist dieser Roman dann auch von den Charakteren bestimmt und weniger von der Handlung als solches. Leider kann Andrea das Niveau nicht durchgängig halten, zumindest hat sich der Mittelteil etwas gestreckt und ich verlor dadurch auch leider kurzzeitig meine Begeisterung. So habe ich dann an diesen gerade einmal 152 Seiten vergleichsweise auch recht lange gelesen. Das ist allerdings auch nicht sonderlich schlimm, denn das Ende hat alles wieder ausgeglichen. Jean-Baptiste Andrea liefert hier nämlich keine abgeschlossene, bis ins Detail ausformulierte Geschichte. Es bleibt noch ganz viel Spielraum für Fantasie übrig und gerade diese Möglichkeit macht's dann auch aus. Man sieht die beiden Hauptcharaktere vor dem inneren Auge und nimmt ihnen jedes Gefühl, jede Regung, Begeisterung... einfach ab. Meine Königin ist eine wirklich tolle Geschichte für alle, die noch das Kind in sich besitzen und vielleicht auch hin und wieder über ihren eigenen Schatten springen wollen.

Veröffentlicht am 06.05.2019

Düstere Erzählungen mit Happyend?

Die kennen keine Trauer
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Lebensausschnitte. Quere Gedanken und Ausbrüche. Alles ist möglich und doch... nicht. "Die kennen keine Trauer" heißt es in Bjarte Breiteigs gleichnamigen Erzählband und doch ist diese Traurigkeit oft ...



Lebensausschnitte. Quere Gedanken und Ausbrüche. Alles ist möglich und doch... nicht. "Die kennen keine Trauer" heißt es in Bjarte Breiteigs gleichnamigen Erzählband und doch ist diese Traurigkeit oft möglich. Zumindest erging es mir häufig so, als sich bei mir hinter den sieben recht verschiedenen Erzählungsfetzen die Gedankenmaschinerie in Gang setzte.
Die Protagonisten in diesem Buch haben alle haben etwas gemeinsam. Sie können über ihre Trauer nicht sprechen, nichts tun, nicht richtig handeln. Sie sind gehemmt und doch bricht dieses Gefühl auf ganz unterschiedlichen Wegen aus und macht sich Luft. Während der eine eher plötzlich verzweifelt und zu allem bereit ist, verrennt sich der andere in komischen Welten. Sie alle haben eine ganz besondere Beziehung zu Dingen, Gedanken, Menschen und doch droht gerade diese auseinanderzubrechen. Wobei eigentlich ist es bereits zu spät. "Nichts sagen! Nichts sagen, sonst wirst du verschwinden."
So erzählt der 'komische' Karsten von der Leichenbestattung in Nepal. Die kennen dort keine Trauer und auch seine Bestürzung zeigt sich nicht in Sentimentalitäten. Nein! Sie bricht einfach so aus. Karsten verfällt plötzlich in eine Art Wahn und zerstört einfach alles, woran andere Kinder im Werkunterricht gearbeitet haben. An anderer Stelle sitzt eine Frau im Wagen am Rand des Kais. Sie steht vor einer Verzweiflungstat. Mit einem Fuss gibt sie Gas, mit dem anderen steht sie noch auf der Kupplung. "Gott, sagt sie laut. Tu jetzt was. [...] Sonst lasse ich los." Daheim sitzt ihr Mann und wartet. Wartet auf ein Zeichen und damit auf die Rückkehr seiner schwangeren Frau. Doch er erwartet das Schlimmste. Andere haben wiederum bereits mit den plötzlichen Verlusten kämpfen. Ein Junge, der seinen Bruder vermisst und ihn doch noch sehen kann. Ein Mann, der seine Trennung nicht annehmen kann, seine Mutter belügt und sich gleichzeitig in Online-Bekanntschaften verrennt. Der Tod. Die Trauer. Die Frustration. Die aufgestaute Angst und die Hemmung...



Bjarte Breiteig hat mich überrascht. Denn obwohl jede Erzählung nur einen kurzen Augenblick andauert, hat mich jede für sich sehr schnell gepackt und auch emotional ergriffen. Breiteig schafft es mit nur wenigen Worten gerade mal auf zwei/drei Seiten so viel unterzubringen, für was andere ein ganzes Buch brauchen. Es sind eben Erzählungen die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern auch zwischen den Zeilen sehr viel Tiefe und Gedanken transportieren und den Leser in eine leicht düstere, traurige Situation katapultieren und genauso plötzlich wieder zurückwerfen. Das intensive Gedankenspiel danach... toll!

Veröffentlicht am 24.04.2019

Guten Tag, Leben - Wenn plötzlich alles anders ist

Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer
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Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer ist so ein großartiger, fast schon poetischer Titel, hinter dem so viel mehr steckt, als das Bild, das nach dem erstmaligen Hören im Kopf entsteht. Tabea Hertzog ...

Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer ist so ein großartiger, fast schon poetischer Titel, hinter dem so viel mehr steckt, als das Bild, das nach dem erstmaligen Hören im Kopf entsteht. Tabea Hertzog erzählt nämlich nicht von Beobachtungen und erheiternden Landschaftsaufnahmen, sondern viel mehr von ihrer eigenen Geschichte, der Diagnose chronische Niereninsuffizienz, der Therapie und ihrer damit verbundenen Transplantation.


“Das, was am meisten zerrt in diesem Augenblick? Dass alle Pläne anders gefasst werden müssen. Dass Dinge, die ich jetzt machen wollte, nicht gemacht werden können. […] Es fühlt sich an wie Stillstand.”



Und dieser Stillstand erreicht die Autorin selbst, kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Mit der Diagnose verändert sich von jetzt auf gleich ihr ganzes Leben. Die Konfrontation mit der Endlichkeit und dem großen Wunsch einfach nur zu leben. Und obwohl zunächst noch alles halb so wild erscheint, verschlechtern sich ihre Nierenwerte rapide. Sie spuckt Blut und kommt erneut ins Krankenhaus. Dieses Mal auf die Intensivstation. Schnell wird klar, Tabea braucht eine neue Niere. Ihre eigenen machen es nicht mehr mit. Sie muss sich neuen, ungeplanten Herausforderungen stellen, auf ihre Essgewohnheiten achten, drei mal wöchentlich zur Dialyse um ihr Blut reinigen zu lassen und auf ein Spenderorgan hoffen. Glücklicherweise kommt ihr Vater, zu dem sie erst seit gut einem Jahr wieder Kontakt hat, infrage und er ist auch bereit ihr zu helfen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, denn diese verkriecht sich, scheint plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Tabea nimmt uns eindrucksvoll mit in ihre Gedankenwelt und ihren ‘neuen Alltag’. Ihre Ängste. Hoffnungen. Ihr Kampf um Selbständigkeit. Freundschaftliche und familiäre Beziehungen. Es ist, wie ich finde, ein sehr intimes Buch. Ihr Erzählung wirkt zunächst leicht kühl und abgeklärt. Doch mit jeder Seite scheint sie Nähe zuzulassen und das obwohl sich an ihrer Erzählart kaum etwas ändert. Man lernt sie kennen, liest zwischen den Zeilen. Sie wirkt zerbrechlich und doch so stark. Der Drang zu leben überwiegt. Alles endet gut und doch ist es nun anders. Sie ist erst einmal wieder frei, mit kleineren Einschränkungen.



“Der Mensch möchte sehen und selbst nicht immer gesehen werden. Diese Sicherheit umgibt auch mich. Noch spüre ich nicht, dass mein Immunsystem schwächer wird. Die Niere fühlt sich gut geschützt an.”



Auch wenn mich das Thema Nierentransplantation nicht betrifft, war Tabea Hertzog mir mit ihrer Geschichte so unheimlich nah. Sie schildert zahlreiche Beobachtungen, Erlebnisse und Begegnungen. Man könnte meinen eine chronische, langfristige Erkrankung ist von der Diagnose bis zum ‘alles ist wieder gut’ eine persönliche Reise und das große Überdenken des Lebens. Und gerade hier nimmt Tabea den Leser mit. Dieses Buch stellt ihre Entwicklung, vom ersten Schock über das langsame Annehmen und den Versuch so weit wie möglich selbständig zu bleiben,von der Abhängigkeit anderer bis hin zum Rückgewinn des Lebens dar. Für mich ist es so ein wirklich sehr persönliches Buch, das beinahe das Innerste der Autorin selbst zeigt. Sie bewahrt Distanz, schildert nur ausgewählte Situationen und Phasen und doch hat man stets das Gefühl, sie durch die komplette, schwere Phase zu begleiten und ihr nahe zu sein. Eine Achterbahnfahrt an Emotionen, ein Leben, ein Schicksal... große Leseempfehlung von mir!