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Veröffentlicht am 22.04.2019

Die Macht der Geschichte

Mein Name ist Judith
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Durch einen Anschlag auf den Hauptbahnhof hat der Protagonist León Kortner, der in diesem Fall auch selbst Autor ist, seine schwangere Frau und auch seine Tochter verloren. Er führt nun ein recht einsames ...

Durch einen Anschlag auf den Hauptbahnhof hat der Protagonist León Kortner, der in diesem Fall auch selbst Autor ist, seine schwangere Frau und auch seine Tochter verloren. Er führt nun ein recht einsames Leben, bis eines Tages das zehnjährige Mädchen namens Judith in seiner Küche auftaucht und sich darüber beschwert, dass er ihr Essen entsorgt hat. Zunächst wirkt er irritiert, doch nach und nach dämmert es ihm. Sie meint die Kekse und Obstreste unter dem ehemaligen Bett seiner Tochter, die er gerade erst neulich entdeckte und entsorgte. Judith ist ein recht wunderliches Kind. Sie taucht hin und wieder plötzlich auf, sitzt dort mit ihrer roten Mütze und dem altmodischen Wollmantel, den sie nie ausziehen will. Sie traut sich nicht vor die Tür, weil sie behauptet Jüdin zu sein und die Welt da draußen so gefährlich sei. Und auch der Buchladen im Haus gehöre ihrem Vater. Doch diesen gibt's schon lange nicht mehr, denn die Kleins wurden damals von den Nazis vertrieben...

"Die Stahlkammer ist geschlossen und geöffnet. Judith lebt ist tot ist eine alte Frau ist ein junges Mädchen ist ein Geist. Die Stahlkammer ist geschlossen, es gibt niemanden mehr, der sie öffnen könnte. Die Stahlkammer existiert nicht. Judith existiert nicht. Und es gibt niemanden, der von ihrem Leben und Sterben erzählen könnte."

Mit "Mein Name ist Judith" hat Martin Horváth einen interessanten Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Dass Autoren ihre Figuren 'treffen', mit ihnen während der intensiven thematischen Auseinandersetzung reden, ihnen zuhören, sie sehen, ist ein Gedanke, den man immer wieder hört. Sein Protagonist interessiert sich für die Familie Klein, will ihnen einen Roman widmen und nach und nach verschwimmen die Zeiten. Er setzt sich aktiv mit seinem eigenen Trauma und dem Verlust auseinander, aber auch mit Gräueltaten der damaligen Zeit. Horváth verwebt sehr geschickt den Nationalsozialismus mit der heutigen terroristischen Bedrohung und obwohl es sich hierbei um einen fiktiven Roman handelt, so hat er doch einen großen Hang zur Realität. Eine berührende, nachdenkliche Geschichte, die einem die Wertigkeit des Lebens noch einmal vor Augen führt. Zwar kann ich nicht sagen, dass ich diesen Roman großartig finde und trotz seiner eindringlichen Geschichte, hat Horváth mich nicht wirklich erreicht. Mir persönlich war es teilweise etwas zu verworren, zu still, zu fraglich. Und auch, wenn sich diese Gedankenstränge zum Ende hin verbinden und etwas mehr Klarheit entsteht, hat mir generell etwas gefehlt. Diese Annäherung bzw. teilweise den Gedanken, die damalige und mit der heutigen Bedrohung zu verbinden finde ich vom Ansatz her total faszinierend und das transportiert auch die Beklommenheit in die heutige Zeit. Und doch hatte ich immer das Gefühl, der Autor möchte zu viel auf einmal erreichen. Die gedanklichen Sprünge. Erinnerungen, Judith als Geist, der hin und wieder auftaucht, die Geschichte der Familie Klein, seine abmildernden Geschichten/Briefe... alles zusammen ist recht viel und das trübt dann auch meine Begeisterung. Die Erinnerung lebt weiter und man muss sich aktiv damit auseinandersetzen, um freier mit dem Leben umzugehen und das Jetzt mehr zu schätzen. Vielleicht ist für viele "Mein Name ist Judith" da ein großartiger Roman, der einem das Menschliche der Geschichte, die Möglichkeiten der abmildernden Erinnerung und das Leben damals und heute noch einmal näher bringt; für mich gibt's da leider deutlich bewegendere Ansätze.

"Mit jedem Menschen, den die Nazis ermordeten, starb auch ich. Sechs Millionen Mal."

Veröffentlicht am 20.03.2019

In der Historie stecken die schrecklichsten Verbrechen

1793
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"1793" von Niklas Natt och Dag ist für mich momentan mein absolutes Krimihighlight. Normalerweise habe ich bei Krimis generell Probleme, weil die meisten einfach viel zu vorhersehbar oder gar langweilig ...

"1793" von Niklas Natt och Dag ist für mich momentan mein absolutes Krimihighlight. Normalerweise habe ich bei Krimis generell Probleme, weil die meisten einfach viel zu vorhersehbar oder gar langweilig sind. Bei diesem Bestseller aus Schweden habe ich daher auch viel erwartet und wurde zum Glück auch nicht enttäuscht...

"Ich habe nie verstanden, wie der Staat einen Mord sühnen kann, indem er seinerseits einem Bürger das Leben nimmt - und das auf um so bestialischere Art."

Dieser historische Krimi nimmt uns mit ins Stockholm des späten 18. Jahrhunderts. Hier finden Straßenkinder im Fatburen auf Södermaln ein treibendes Bündel und holen den Häscher und Kriegsveteran Michael Cardell zur Hilfe. Aus dem zunächst vermuteten Tierkadaver, den jemand in den Tümpel geworfen hatte, werden an Land schnell die Überreste eines jungen Mannes, der anscheinend über Monate hinweg brutalst gefoltert wurde. Gemeinsam mit dem Juristen Cecil Winge, der bei der Stockholmer Polizei für ganz besonderen Fälle zuständig ist, will Cardell den Fall aufklären.
Karl Johan, wie sie die Leiche nennen, fehlen Arme und Beine. Ihm wurden die Sinne geraubt, Zunge und Augen entfernt und er bis zu seinem Ableben aufs Übelste zugerichtet. Einzig sein hellblondes Haar und sein unterernährter Rumpf sind ihm geblieben. Doch wer hat ihm das angetan und vor allem warum? Das Stückchen Stoff und ein in der Leiche befindlicher Siegelring, könnten in diesem perfiden Mordfall Hinweise liefern. Doch durch ihre Ermittlungen geraten Cardell und Winge sehr schnell ins Visier unangenehmer Gauner und kommen noch schneller an ihre eigenen Grenzen...

"Meine Kunden sind die Männer, die unsere Welt steuern. Wenn es um ihr Wohlbefinden geht, welches Opfer ist da schon ein derartiger Halbmensch?"

So an sich klingt es bisher nach einem relativ normalen Kriminalfall, den man schon zig-fach gelesen hat, doch Natt och Dag schafft es hier nicht nur einen bis ins Detail ausgeklügelten brutalen Mordfall zu schildern, sondern mit den einzelnen Szenen- und Perspektivenwechseln entwickelt sich eine ungemeine Sogwirkung, sodass man förmlich gezwungen wird stets weiterzulesen. Ein Roman voller menschlicher Abgründe. Das Besondere war für mich neben dem eigentlichen Mordfall, das sehr charakterstarke Ermittlerduo. Cardell und Winge sind eben nicht, die Helden in der Form - eine Holzhand und Traumata sind Cardells Überbleibsel vom Krieg und Cecil Winges Tuberkulose im Endstadium schreit oftmals eher nach Aufgabe, statt nach energischen Handeln. Neben ihnen lernen wir auch die Geschichten von Kristofer Blix und Anna Stina, die aufgrund beschuldigter Hurerei in ein Spinnhaus gesteckt wird, kennen. Sie alle verweben sich am Ende zu einen großartigen, spannenden Roman. Argh, ich würde gerne so viel erzählen, aber ich möchte an dieser Stelle weder spoilern noch sonstige Hinweise liefern. Ich habe diesen Roman binnen zweier Tage durchgelesen oder besser: durchgesuchtet und mit jeden der einzelnen Hauptcharaktere mitgefiebert, gebangt und gehofft. Natt och Dag inszeniert hier ein sehr breites, geschichtliches und kluges Bild, das ich in dieser Art noch nirgends gefunden habe. Mir gefällt dieser Spannungsaufbau und die plötzlichen Plotwechsel sehr und sie reißen einen dem Lesen immer tiefer in diese Zeit hinein. Es ist eben kein typisch weichgespültes Serienblabla und genau so wünsche ich mir dann auch einen Krimi. Von daher kann ich hier auch einfach nur eine große Leseempfehlung aussprechen und hoffen, dass es nicht der einzige Kriminalroman bleibt, den ich wirklich großartig finde.

Veröffentlicht am 20.03.2019

“Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.”

Niemals ohne sie
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Auf den neuen Roman von Jocelyne Saucier habe ich mich schon sehr lange gefreut. “Ein Leben mehr” war mit unter das erste Buch, das mich wieder ans Lesen herangeführt und begeistert hat. Ihre ruhige und ...

Auf den neuen Roman von Jocelyne Saucier habe ich mich schon sehr lange gefreut. “Ein Leben mehr” war mit unter das erste Buch, das mich wieder ans Lesen herangeführt und begeistert hat. Ihre ruhige und doch so klare, bildhafte Sprache hat mich schon damals sehr eingenommen. Nun geht es mit “Niemals ohne sie” in die nächste ‘Runde’.

Die Cardinals sind eine recht außergewöhnliche Familie. Mit den insgesamt 21 Kindern behausen sie eine alte, baufällige Hütte in Norco. Ihr Vater hatte dort ein riesiges Zinkvorkommen entdeckt und verkauft sein Wissen an eine Minengesellschaft, die ihn dann jedoch um seinen Anteil verprellt. Der große Wohlstand blieb aus und so leben sie weiterhin unter ärmlichen Verhältnissen. Als dann die Mine geschlossen wird, ziehen nach und nach andere Familien weg, nur die Cardinals erregen weiterhin Aufsehen. So wild, so unberechenbar, so explosiv. Sie halten nicht einfach nur zusammen, sie wollen die Ehre der Familie retten. Es den großen da oben zeigen und ihren Anteil vom Kuchen bekommen. Und so geschieht, was nicht geschehen sollte und aus dem Kampf um Ehre, wird ein Pakt, der die Kinder noch mehr zusammenschweißt und sie noch Jahre später verfolgen wird…



“Die geisterhafte Gestalt unserer Mutter spukte durch unsere Nächte und verfolgt uns bis heute. Manchmal, wenn ich allein im Bett liege, in meinem kleinen Zimmer in dem Hotel, in dessen Küche ich mich sechs Tage die Woche abrackere, warte ich auf sie.”



An dieser Stelle wäre ich jetzt gerne begeistert. Doch leider muss ich nun gestehen, dass ich mit diesem Buch mehrere Kämpfe geführt habe. Generell sind mir zu viele Namen bzw. Protagonisten immer ein Hindernis, dass es in diesem Fall gleich 21 Kinder plus Vater und Mutter sein müssen und die Kinder dann auch noch jeweils zwei Anreden besitzen… Achje. Auch der Handlungsstrang war für mich dieses Mal nicht ganz so spannend. Die Auflösung, auf die sich die ganze Geschichte zuspitzt, ist zwar logisch, aber dennoch fraglich. Alles hängt hier quasi von der Explosion und der damit folgenden Inszenierung ab bzw. dem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl. Die einzelnen Protagonisten erzählen dabei nach und nach von ihren Erinnerungen, Ansichten, Ängsten und lüften so Schritt für Schritt das auftauchende Rätsel. Und dennoch wirft gerade die ‘Lösung’ des Ursprungs bei mir einige Fragen auf, die die Begeisterung schmälern. Warum? Wenn die alle da waren, wie soll denn…? Ahja. Und wieso fühlte sie das denn nicht vorher? Ach, hmm.

Wenn ich dieses allerdings außen vor lasse, dann hat es Saucier mal wieder geschafft mich mit ihrer Erzählweise zu begeistern. “Niemals ohne sie” ist ein eher ruhiges Buch mit enormer Zwischenmenschlichkeit innerhalb der Familie. Schutz, Fürsorge, Ängste, Hierarchien innerhalb einer Familie, die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und auch sehr viel Verständnis kommen innerhalb einzelner Zeilen wunderbar zum Tragen. Auch sprachlich habe ich mir hier wieder sehr viele einzelne Sätze markiert, die nicht nur ein Bild im Kopf erzeugen, sondern auch gedanklich einiges in Gang setzen. Aber ein Roman ist eben mehr als nur die Sprache und so konnte ich in diesem Fall das “Meisterwerk” nicht entdecken.

Veröffentlicht am 25.11.2018

Ein märchenhafter Ausflug zum Loslassen

Die wundersame Mission des Harry Crane
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Ab und zu muss es für Märchen- und Fabelfreunde wie mich, auch etwas schöneres, fern ab der Wirklichkeit sein. Dieses Mal hat es mir "Die wundersame Mission des Harry Crane" von Jon Cohen angetan. Selbst ...

Ab und zu muss es für Märchen- und Fabelfreunde wie mich, auch etwas schöneres, fern ab der Wirklichkeit sein. Dieses Mal hat es mir "Die wundersame Mission des Harry Crane" von Jon Cohen angetan. Selbst das Cover lässt schon einiges an Wundern und eine Beziehung zu Bäumen erahnen. Und schon damit hatte es meine Aufmerksamkeit und ja, es ist leicht kitschig, aber irgenwie auch total schön und passend.

"Wenn man den Wald betrat, merkte man sofort, wie sich alles veränderte. Als habe man eine magische Grenze überschritten. Das Licht war ein anderes, und es wurde ganz still in einem und um einen herum. Alles andere verschwand..."

Harry hat aufgrund eines blöden Wunsches seine Frau Beth mitten auf der Straße verloren. "Warte hier" sagt er, verschwindet um kurz Lotto zu spielen und gerade in diesem Augenblick passiert es, dass ein Baukran einer mangelhaft gesicherten Baustelle zusammenbricht und seine Frau aus dem Leben reißt. Harry verliert den Boden unter den Füßen und das nur weil er das große Glück herausfordern wollte.

Harrys Bruder Wolf drängt Harry nämlich dazu gegen die Baufirma vorzugehen und Schadensersatz zu fordern. Ein Leben in Geld aufzuwiegen, scheint Harry allerdings total absurd und so verliert er sich, als der Anwalt ihm die freudige Botschaft mitteilt, dass er nun um stolze 4 Millionen reicher sei. Er hat gewonnen, allerdings ganz anders als er es ursprünglich geplant hat. Er will fliehen, hinaus aus allem, hinaus aus der Pflicht und seiner Frau hinterhereilen. Sein Weg führt ihn in einen Wald oder besser gesagt zu einem dort stehenden Zuckerahorn. Hier will er sein Leben beenden und mit einem Seil den letzten Schritt gehen. Doch als er zu zweifeln beginnt, entdeckt er im Astloch des Baumes einen glänzenden Schokoriegel. Ein Zeichen, dass seine komplette Aufmerksamkeit verlangt, doch dann rutscht er ab. Er hängt. Er zappelt. Ein großer Knack und der einst so stabile Ast liegt gemeinsam mit ihm auf dem Boden. Neben sich entdeckt er dort "das Buch des alten Grum". Aus der Nähe hört er eine wütende Amanda, die mit ihrer Tochter schimpft und schneller als ihm lieb ist, über ihn stolpern. Auch sie hat vor kurzem ihren Mann, Orainas Vater Dean verloren. Er wird im Schnee liegend, so als würde er gerade einen Schneeengel machen, gefunden. Ein Zeichen, dass Oriana in eine ganz eigene Welt entführt und aus dieser anscheinend nur Harry sie wieder herausführen kann.

"Verschiedene Wege hatten sie zu diesen Bäumen, in den Wald geführt. Oder war es am Ende doch derselbe? Harrys Lottoschein. Orianas Buch."

Vergleichbar mit Rachel Joyes "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" und dessen Gegenpart "Das Geheimnis der Queenie Hennessy", die mir beide schon damals mehr als gefallen haben. Nun reiht sich "Harrys Trees" ,wie es im Original heißt, mit ein. Vielleicht liegt das Geheimnis auch bereits im Titel, denn komischerweise sind sie in diesem Bereich ja alle etwas ähnlich. Auch wenn das Ziel und das große Ganze wie immer bereits zu Anfang erkennbar ist, hat mich dieses Buch sehr gut unterhalten. Für mich, ganz klar, etwas Leichtes für zwischendurch, ohne Mord und Totschlag, wobei der Anfang aufgrund des Unfalls von Harrys Frau Beth und des plötzlichen Tods Orianas Vaters sich als sehr traurig darstellen. Das Ende ist beinahe wirklich wie ein Märchen, samt Märchenfee. Der lockere Schreibstil und das Aufeinanderprallen kindlicher Vorstellungen und Hoffnungen auf ein gesetzteres Leben, schaffen eine gewisse Leichtigkeit und Freude auf das, was geschehen wird. So habe ich dann auch die ganze Zeit mit Harry gehofft, war teilweise hin- und hergerissen und am Ende dann doch recht berührt. Natürlich gibt es auch in diesem Fall das Unheil, doch von einer bösen Hexe kann man hier nicht sprechen. Denn die Bedrohung kommt von Harys Bruder Wolf und dem Möchtegern Immobilienmakler Stu, die eigentlich aus dem nahen Umfeld der beiden Protagonisten stammen, und dennoch rein aus egoistischer Gier handeln. So kommt dann auch das bekannte Sprichwort "Bei Geld hört die Freundschaft auf" großartig zur Geltung.

Ohne jetzt mehr über die Story selbst zu verraten, möchte ich dieses Buch einfach jedem empfehlen, der noch Hoffnung, Fantasie und Wünsche in sich trägt und sich auf total tolle Charaktere einlassen kann.

Veröffentlicht am 23.09.2018

Wenn andere die Welt bedeuten

Mit der Faust in die Welt schlagen
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“Mit der Faust in die Welt schlagen” – ein Roman der aktueller nicht sein könnte und irgendwie den Kopf auf den Nagel trifft, ohne die großen nazistisch, fremdenfeindlichen Aufmärsche zu fokussieren. Lukas ...

“Mit der Faust in die Welt schlagen” – ein Roman der aktueller nicht sein könnte und irgendwie den Kopf auf den Nagel trifft, ohne die großen nazistisch, fremdenfeindlichen Aufmärsche zu fokussieren. Lukas Rietzschel setzt nämlich früher an. Die Kindheit. Das Aufwachsen. Das Hineinwachsen am Rande von Spaß und Unverständnis.


“Tobi wachte auf und ging zum Schreibtisch, wo er sich einen kleinen Zettel nahm. Er malte einen Panzer, wie er sich einen Panzer vorstellte, und ließ ihn durch eine rote Pfütze fahren. Er schrieb mit dem selben roten Stift >Krieg< darüber. Daneben ein Fragezeichen.”

Eine Provinz in Sachsen, deren Schicksal eigentlich schon nach der Wende klar wurde. Menschen, die sich scheinbar verlassen und im Stich gelassen fühlen. Während die letzten industriellen Werke der DDR schließen, entwickelt sich auch bei den Menschen nach und nach eine Angst vor dem Verlust und der Perspektivlosigkeit. Wir begleiten zunächst eine Familie bei ihrem Hausbau, der vermeintlich für ein besseres Leben stehen soll. Doch schon während der Schulzeit scheinen Philipp und Tobias nach und nach abzudriften und immer mehr mit rechten Meinungen konfrontiert zu werden. Ihr Umgang wird fraglicher, auch wenn es ihnen anfangs vieles noch nicht so bewusst oder mehr wie Spaß erscheint. “Ich bin kein Nazi […] Ich auch nicht […] und Menzel, Ramon und die anderen auch nicht.” Doch als die Situation sich zuspitzt und ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, zeigt die Wut ganz andere Richtungen und der Ton wird rauer. Während Philipp sich zurückzieht, sucht Tobias nach dem Ventil für seine Wut und um ihn herum fällt scheinbar alles zusammen.


“Und jetzt stell dir mal vor, diese sogenannten Menschen werden Lehrer oder Ärzte oder Politiker. Kannst du dir das vorstellen? Weißt du, wie Deutschland dann aussieht? Wie sie uns behandeln werden? Wir wurden alleingelassen. Seit Jahren schon”

Lukas Rietzschel schafft es mit seinem Roman ein großes Feld an Gedanken und Ursprünglichkeiten hervorzurufen und genau das finde ich beinahe großartig, denn heutzutage geht es oftmals hauptsächlich um die Verurteilung der “Fremdenhasser”, statt um den Ursprung ihres Gedankenguts oder Verhaltens. Der Ursprung liegt nämlich oftmals in der Erziehung, der Verdrängung, den Vorurteilen, der Verharmlosung und der Egalität. Und dennoch ist grade dies das fatale an dieser Einstellung. Aus Spaß wird schnell Ernst und aus einzelnen Gedanken und Wut ein großer Schwall an rechtem Gedankengut, das man nicht einfach so ignorieren oder löschen kann. Und gerade dies wächst von unten, langsam, bis das Licht an der Oberfläche das verheerende Ausmaß des Ganzen verdeutlicht. Früher wie heute. Und Schuld? Ja, schuld sind immer die anderen.
Dieser Roman greift für mich einzelne entscheidende Punkte hinter der Oberfläche auf. Leicht distanziert und trotzdem sehr treffend in einem Konstrukt aus Trostlosigkeit und der Suche nach einem Ausweg und der Hoffnung. Sprachlich sehr fein und klar thematisiert und dennoch recht emotional ergreifend. Zumindest ich war beim Lesen häufiger wütend, genervt oder saß unverstehend da, auf der Suche nach dem Sinn und vergleichend mit meinen Gedanken zur heutigen Situation. Alles in allem ein spannendes Buch, in dem nun auf den ersten Blick keine weltbewegenden Szenen vorherrschen oder leicht unterhaltend präsentiert werden, aber dafür weitreichend in den Gedanken nachhallen und weitere Gedanken und etwas Verständnis schaffen.


“Diese Gesellschaft, wo niemand mehr sagen kann, was er will. Wo dir vorgeschrieben wird, was du essen, wie viel du trinken und wie schnell du fahren darfst. Du bist ein Rassist, du bist ein Sexist! Die sollen alle mal die Fresse halten!”