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Veröffentlicht am 17.04.2023

Willkommen im "Institut für gute Mütter", dem Ort an dem Gut, Böse und Mutterschaft nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen

Institut für gute Mütter
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Eigentlich wollte Frida Liu nur schnell etwas von der Arbeit holen und kurz für einen Kaffee Halt machen um dann schleunigst zu ihrer Tochter zurückzukehren. Nach Hause zu Harriet. Doch aus den geplanten ...

Eigentlich wollte Frida Liu nur schnell etwas von der Arbeit holen und kurz für einen Kaffee Halt machen um dann schleunigst zu ihrer Tochter zurückzukehren. Nach Hause zu Harriet. Doch aus den geplanten wenigen Minuten, wurden zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden in denen das kleine Mädchen allein in der Wohnung saß, nach ihrer Mommy schrie und weinte. Und wahrscheinlich wäre das alles niemals so schlimm gewesen, hätten nicht die Nachbarn die örtliche Polizei verständigt. Die Kinderschutzbehörde schaltete sich ein, entzog Frida ihr Kind, schränkte ihre Umgangsrechte ein und übergab ihrem Ex-Mann Gust und seiner Frau Susanna das vollständige Sorgerecht. Auf einmal sah sie sich mit der Aussage "Sie sei eine schlechte Mutter" konfrontiert, wurde wie ein Schwerverbrecher verhört, überwacht und schlussendlich wegen Vernachlässigung und Aussetzung zur Teilnahme an einem neuen staatlichen Programm zur Schärfung ihrer Fähigkeiten verurteilt. "Sie können sich glücklich schätzen [...] noch vor ein paar Monaten wäre Ihnen einfach die Teilnahme an Erziehungskursen angeordnet worden. Aber wozu soll ein rein theoretischer Kurs über Erziehung gut sein? Schlechte Eltern müssen alles von Grund auf neu lernen: die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen."
Für dieses Rehabilitierungsprogramm/den Aufenthalt im Institut mussten sie alles abgeben, durften nichts mitnehmen, bekamen sogar Unterwäsche staatlich gestellt. Sie und viele andere Frauen oder auch Männer in einem anderen "Umerziehungslager" müssen hier von Grund auf alles neu lernen. Viele von ihnen sind hier aufgrund von Vernachlässigung, einige haben ihr Kind einfach zu sehr geliebt und verhätschelt, andere ihren Kindern in der Öffentlichkeit einen Klaps auf den Po gegeben oder sie alleine im Hinterhof spielen lassen... alles was laut KSB zu traumatischen Erfahrungen bei Kindern führen kann. "Ich glaube, wir können weder körperliche noch seelische oder verbale Misshandlung vollkommen ausschließen", meint die Sozialarbeiterin, die Frida in den wenigen, erlaubten "Spielstunden" mit ihrer Tochter gefilmt, analysiert und beurteilt hat.
Und nun sitzt sie ausgerechnet hier und soll mit den anderen Frauen an einer KI-Puppe lernen wie man es richtig macht. Richtig umarmt, richtig kindgerecht spricht, generell auf seine eigene Sprache, Lautstärke, Vokabular und Handlungen achtet... 3-2-1 loslassen, so schwer kann es doch gar nicht sein. Und wenn sie nach einem Jahr endlich alles gelernt hat und die Voraussetzungen für eine gute Mutter erfüllt, darf sie auch ihr Kind wieder sehen... aber wird es überhaupt dazu kommen? Wird sie es schaffen, nachdem man ihr schon vorher allerhand Dinge unterstellt hat? Und kann ein normaler Mensch auf Dauer überhaupt noch zwischen realen und KI-Menschen unterscheiden? Wie verhält es sich mit dem Auseinanderleben von Kind und Mutter? Was für ein krasses und großes Sozialexperiment, gepackt in Jessamine Chans Roman "Institut für gute Mütter".

"Die Mütter müssen gleichzeitig auf Tonfall und Vokabular achten. Ein Gerät in den Puppen zeichnet auf, wie viele Wörter jeden Tag gesprochen werden, wie viele Fragen die Puppe beantwortet und wie viel sprachliche Interkation stattfindet. Die Tonaufnahmen werden auf das Verhältnis zwischen Ermutigungen und Warnungen oder Maßregelungen untersucht. Bei zu vielen Neins ertönt ein Alarmsignal, das nur die Trainerinnen abstellen können."

Ich hätte niemals gedacht, dass mich ein Buch so faszinieren und mir gleichzeitig so unangenehm sein könnte. Die Beschuldigungen, die Einmischung und konsequente Überwachung durch die KSB und den Staat, sowie die strikte Einordnung von Gefühlen, Handlungen und Empathie nach Lehrschlüssel haben mich fertig gemacht. Der Begriff Mutterschaft bekommt eine extreme, enge Schablone über beinahe alles gestülpt und jede einzelne Handlung wird beurteilt... doch was genau macht eine gute Mutter aus? Was ist falsch daran, wenn man einem Kind zu viel Aufmerksamkeit und Nähe schenkt oder auch mal, kurze, verzweifelte Momente hat? Und das in dieser extremen Kombination mit dieser utopischen Vorstellung, die irgendwie den Blick für alles menschliche verloren hat, sofern es nicht mit "Lernschlüssel" konform ist, ist sehr erschütternd und aufwühlend. Natürlich stellt Chan einige Dinge sehr überspitzt da, schon die Ausgangslage erinnert an die klassischen Vorstellungen einer überarbeiteten, übermüdeten Mutter, die aufgrund eines ständig quengelndes Kindes alles schleifen lässt... nur der Vater bekommt dies gut geregelt, natürlich.
Am weiteren Verlauf könnte man nun etwas mäkeln, denn bereits die zweite Hälfte lockt zwar mit einigen Herausforderungen, aber sobald das Setting genaustens erklärt wurde, allen Müttern eine Puppe zugeordnet wurde und alle Beteiligten sich in ihren Rollen einfinden, plätschert es irgendwie so vor sich hin. Und das Ende ist dann nur noch eine logische Konsequenz, kaum Überraschung. Dennoch löst dieses Buch beim Lesen so einiges aus, lässt über menschliches Zusammenspiel, Elternschaft und Freundschaft nachdenken, eigene Wege und Erklärungen finden... und irgendwie wird dabei schon deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung für eine gute Mutter sein kann und wie anstrengend eine 'regelkonforme' Erziehung ist. Ich würde gerne sagen, dass diese Zukunftsversion sehr weit hergeholt ist, aber an sich ist dieser Roman nur etwas ins Extreme vorschoben und gar nicht mal unmöglich. Ich hoffe allerdings, dass wir so weit niemals kommen werden. Ansonsten ein tolles, spannendes Buch und mal eine ganz neue utopisch-dystopische Sicht auf die Welt - kein Wunder, dass es bereits in den USA ein Bestseller war.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Ein Buch der vielen kuriosen Zufälle, oder ist das etwa so im Leben?

Wovon wir leben
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Birgit Birnbacher setzt sich in ihrem Roman "Wovon wir leben" mit einer sehr spannenden Frage der heutigen Zeit auseinander: wie wollen wir in Zukunft leben? Macht ein bedingungsloses Grundeinkommen wirklich ...

Birgit Birnbacher setzt sich in ihrem Roman "Wovon wir leben" mit einer sehr spannenden Frage der heutigen Zeit auseinander: wie wollen wir in Zukunft leben? Macht ein bedingungsloses Grundeinkommen wirklich vieles einfacher? Wie sieht die optimale Work-Live-Balance aus? Und vielleicht auch ein Stück weit: wie sieht die Arbeit der Zukunft aus? Doch der Weg dorthin ist nicht unbedingt logisch und leicht... zumindest in Birnbachers Roman. Durch einen Fehler verliert die Protagonistin und Asthmatikerin Julia Noch nach zwölf Jahren ihren Job im Krankenhaus. Sie hat einer Patientin ein falsches Medikament verabreicht, gegen das diese allergisch war, und in Panik anschließend den Herzalarm ausgelöst. Nach ihrer Kündigung macht sie sich auf den Weg zu ihrem Vater aufs Dorf, in dem auch nicht mehr alles so ist wie früher, ganz zu schweigen von der Situation des Vaters. Die Mutter hat ihn und den kranken Bruder einfach sitzen gelassen und einen Neuanfang gewagt. Und die Fabrik im Dorf wurde geschlossen. Beim Herumschlendern durch den Ort trifft Julia auf den Städter Oskar. Er hatte ihr schon auf den ersten Blick irgendwie gefallen und so lernen sie sich nach und nach näher kennen. Ein Herzinfarkt riss ihn aus seinem alten Leben, er erholt sich im angrenzenden Rehabilitationszentrum und ein zusätzlich gewonnenes Grundeinkommen lässt ihn nochmal ganz anders über sein Leben denken, andere Erwartungen aufkommen. Doch wie sieht Julia es mit ihrem Leben, ihrer Zukunft, ihrer Familie? Fragen über die sie sich vorher sichtlich kaum Gedanken gemacht hat...
"Ich hätte nicht gedacht, in meinem Alter noch einmal in diese Lage zu kommen, aber seit ich diese ständigen Erstickungsanfälle habe, ist das Gefühl, Mutter zu brauchen, stärker als jemals zuvor. Das alles habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich eine Auszeit brauche, und ob ich für einige Zeit zu ihnen kann."
Ich hätte diesen Roman irgendwie gerne gemocht, so finde ich die Auseinandersetzung mit dem Leben und andere Ansichten doch immer sehr faszinierend, allerdings war mir die Aneinanderreihung von 'Zufällen' einfach zu viel. Auch, dass beinahe alle Protagonisten dieses Romans mit ihrer Gesundheit hadern und kämpfen, von Julia mit ihren Asthmaanfällen, ihrem Vater, der sich selbst schon als tickende, kranke Zeitbombe betrachtet, bis Oskar, der natürlich einen Herzinfarkt erlitt und sich in dem Ort erholen muss. Dass Julia und Oskar dann näher zusammenfinden und was dann noch so passiert... ach, warum? Das hat mir persönlich die ganze Geschichte ins Absurde driften lassen und ich war immer weniger gewollt ihrem weiteren Werdegang zu folgen. Da konnten dann auch die verschiedenen Lebenswege, Ansichten und Erwartungen vom Leben, die hier aufeinanderprallen, mich nicht mehr wirklich begeistern. Wer sich nun nicht an solch fragwürdigen Zufällen stört und gerne leichtere Geschichten mit tiefgründigen Gedanken liest, wird an diesem Buch sicherlich Gefallen finden, meins war es einfach nicht.

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Veröffentlicht am 07.03.2023

ein gedankenreicher Roman über das erdrückende Erbe, Erwartungen, Macht, Schatten und und und

Männer sterben bei uns nicht
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"Wir Frauen der Familie wohnten in einem Anwesen am See, das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große, destruktive Lieben. Allein in meiner Kindheit wurden zwei Frauen angeschwemmt, ...

"Wir Frauen der Familie wohnten in einem Anwesen am See, das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große, destruktive Lieben. Allein in meiner Kindheit wurden zwei Frauen angeschwemmt, die sich aus Liebeskummer ertränkt hatten. Dass es ein unglücklicher Zufall war, erfuhr ich erst viel später, änderte aber nichts an der Tatsache, dass das Anwesen diese Anziehungskraft besaß, die für Frauen selten glücklich endete. Männer starben bei uns nie, Männer kamen und gingen."

Dies sind die ersten Worte und Gedanken in Annika Reichs Roman "Männer sterben bei uns nicht" und gleich war ich mehr als begeistert von diesem Buch - sprachlich, inhaltlich und gedanklich weiterschweifend. Schon allein in diesen wenigen Worten sind mehre, riesige Bilder enthalten, die diesen Roman prägen. Das Anwesen, ein Hof mit einem Herrenhaus und vier kleineren Häusern in der Nähe eines Sees. Hier leben die Frauen einer Familie; das männliche Geschlecht hat es nie lange ausgehalten, nur seine gewaltigen Schatten hinterlassen, die das Verhalten der Frauen, den Umgang mit den Gesellschaftsnormen und die Familie bis ins kleinste Detail prägten, wenn nicht sogar ein Korsett schnürten, das Generationen überdauert, strikt weitergegeben und immer enger wurde. Erst mit dem Tod der Großmutter, dem stets forderndem Oberhaupt, bricht dieses Schema auf und doch stehen wieder nur die Bewertungen der anderen und das Erbe im Raum, das erneut Schatten, Anforderungen, sowie Erwartungen auf zukünftige Generationen und in diesem Fall auf Luise wirft.
In diesem Roman erzählt sie von der Beerdigung ihrer Großmutter und durchkramt in zahlreichen Rückblenden ihre Erinnerungen an einzelne Gespräche, Erlebnisse und das Leben auf dem Anwesen. Als Leserin lernt man so die einzelnen Frauen der Familie, ihre Gedanken und (Lebens-)Erwartungen, sowie Zweifel und Trauer in all ihren Facetten und verschiedenen persönlichen Ausprägungen kennen, befasst sich fast sich schon automatisch mit dem, was es bedeutet die zugewiesene Rolle und damit einhergehende Erwartungen zu (er-)füllen, sich dem Druck der Macht und dem vorherrschenden Gesellschaftsnormen zu beugen oder eben übergangen zu werden und doch stets auf der Suche nach Antworten zu sein.

"Großmutter denkt, dass sie nur leben kann, wenn sie's wie die Männer macht. Sie denkt, Macht wäre immer nur die Macht der Männer und dass sie sie nur behalten kann, wenn sie herrscht wie sie. Dass sich Macht auch teilen lässt, daran glaubt sie nicht. Sie denkt übrigens, dass du die Einzige von uns bist, die klug genug ist, sich nicht von vornherein auf die Seite der Opfer zu schlagen. [...] Sie dachte immer, du wärst die Einzige, die so ein Leben zu schätzen weiß."

Ach, ich habe dieses Buch geliebt, habe mir unzählige Gedanken über Erwartungen und das Erbe bzw. die Weitergabe von Familien'anforderungen' gemacht und bewundert wie Annika Reich sich diesem sehr komplexen und heiklen Thema nähert. Dabei liefert sie nicht unbedingt viele Antworten, aber das Bedarf es vielleicht auch gar nicht, da jede
r Leser*in eine eigene Geschichte mitbringt und vielleicht ähnliche Situationen und Gedanken nachempfinden kann. Mit knapp 200 Seiten ist es ein recht dünnes, aber dafür, wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, sehr schweres Buch, das Zeit und Raum benötigt; nicht einfach so hinuntergeschlungen werden kann. Das Leben der Frauen dieser Familie, die Veränderungen, die mit dem Tod des Oberhaupts eintreten, die vorherrschende gesellschaftliche Norm und Vererbung... man kann sich in allen Ausprägungen der einzelnen Protagonistinnen, die alle so unterschiedlich und doch nahbar sind, wiederfinden.
Die weitervererbte Last der Erwartungen, zugewiesene Rollen und Machtkämpfe - das sind Themen, die auch mich immer wieder beschäftigen und mit denen ich bei fast jedem Besuch in der Heimat erneut konfrontiert sehe. Vielleicht ist es gerade auch deshalb ein Buch, das mich gerade in diesen Punkten sehr bewegt hat. Und es ist halt nicht nur eine Geschichte, es ist die Geschichte einer jeden nachfolgenden Generation, die sich immer wieder mit dem Umgang der alten, vorherrschenden Strukturen befassen, sich neu finden und neue Rollen erkämpfen muss. Oder sich für dem Familienfrieden fügt und in eine Rolle gepresst wird, die nicht unbedingt ins eigene Weltbild passt und sich dennoch in ihr beweisen und weiterkämpfen muss. Ich könnte nun noch über weitere Gedanken, die angeschwemmten Frauen, die einzelnen Familienmitglieder, die Bedeutungen des Anwesen mit dem Herrenhaus und dem heruntergekommenen Haus mit samt den gesammelten 'Andenken' des männlichen Geschlechts und und und sprechen. In diesem Roman gibt es so viel zu entdecken und erstaunlicher Weise ist es doch nur so ein komprimierter Roman. Ich hätte Luise und ihre Familie, die Auseinandersetzungen mit ihren Erinnerungen, dem Schicksal und dem Leben, die ganzen Gedankenwelten und zwischenmenschlichen Interaktionen wirklich gerne noch viel länger begleitet. Von mir eine große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 07.03.2023

ein Roman voller Härte, erbitterte Kämpfe und Zärtlichkeit

Young Mungo
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"Ihre Mutter war bestimmt tot. Es war drei Wochen her, dass die Kinder sie gesehen hatten, und Mungo konnte sich nur die schlimmsten Szenarien vorstellen. Mo-Maw Hamilton war vergewaltigt und dann mit ...

"Ihre Mutter war bestimmt tot. Es war drei Wochen her, dass die Kinder sie gesehen hatten, und Mungo konnte sich nur die schlimmsten Szenarien vorstellen. Mo-Maw Hamilton war vergewaltigt und dann mit einem Steakmesser ausgeweidet worden, das irgendein Fernfahrer mit Tankstellencoupons gekauft hatte. Er hatte die nackte Leiche verschnürt und ihr die Finger abgehackt, bevor er sie im kalten brackigen Wasser des Clyde versenkte. Mungo folgte seiner Schwester von Zimmer zu Zimmer und beschwor die blutigsten Bilder herauf."

Doch der Grund warum Mo-Maw mal wieder ihre Kinder vernachlässigte war ganz simpel... sie arbeitete abends in einem kleinen Imbiss, mitten auf einer Verkehrsinsel, die Kundschaft stand Schlange, sie trank und hatte mal wieder einen neuen Typen kennengelernt, dem sie nichts von ihren Kindern erzählen wollte... irgendwie kommen einem diese Szene und diese Gedanken aus Douglas Stuarts neustem Roman "Young Mungo" doch bekannt vor. Zumindest eine ähnliche Ausgangssituation gab es schon bei seinem Debüt "Shuggie Bain", eines meiner liebsten und schmerzhaftesten Romane aus den letzten Jahren. Die (un-)gewollte Parallelität ist hier sehr präsent. Stuart entführt seine Leser*innen erneut nach Glasgow, dieses Mal ins East End der 90er, wo ernste Straßenkämpfe zwischen den Katholiken und Protestanten geführt werden, Minderheiten es nicht gerade leicht haben und auch sonst ein sehr rauer Ton herrscht. Nicht gerade die einfachste Gegend für einen eher verträumten, zu ängstlichen und hibbeligen Fünfzehnjährigen. "Und ich werd das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld ist, Mungo. Ich habs nicht geschafft, nen Mann aus dir zu machen. [...] Ich hab das Gefühl, ich hab dich falsch erzogen.", sagte ausgerechnet sein großer Bruder zu ihm. Der, der ihn immer auf die Straße bringen und mit ihm ins wilde Getümmel stürzen wollte. Als Mungo dann auch noch den Taubenzüchter James trifft, sie sich zunächst anfreunden und er seine Liebe zu ihm entdeckt, macht es das alles nicht einfacher. Er verleugnet sich vor seiner eigenen Schwester Jodie, versteckt sich vor seinem großen Bruder Hamish und möchte eigentlich nur noch Zeit mit James verbringen. Als dann noch seine Mutter mit einer Idee um die Ecke kommt, die Mungo zu einem echten Kerl machen soll, steht plötzlich nicht nur seine Beziehung zu James auf dem Spiel, sondern auch etwas, das Mungo sich in seinen kühnsten Träumen niemals zu wagen traute...

"Mo-Maw hatte gedacht, sie würden einen Mann aus ihm machen; sie würden ihm zeigen, wo es langging, ihm Dinge beibringen, die ein Vater ihm hätte beibringen sollen, Dinge, die sie ihm selbst hätte beibringen können, wenn sie gewollt hätte. Dinge, die er nie brauchen würde, wenn er sein ganzes Leben in Glasgow blieb, was er tun würde, weil es alle, die er kannte, taten."

Oder vielleicht auch nicht. Oh, was habe ich diesen Roman ersehnt! Douglas Stuarts Debüt war für mich eins der tollsten Bücher in den letzten Jahren. Ich habe mit dem kleinen Shuggie so gelitten und fand die Geschichte über diese arme Glasgower Familie mit der Alkoholsucht und dem Absturz der Mutter, der innerlichen Zerrissenheit ihres Jungen und die Beziehungen zwischen Shuggie und seinen beiden Geschwistern so herzzerreißend und emotional überwältigend, wie gewaltig... da kommt für mich lange kein anderer Roman heran. Und dieses Bild von diesem einen verflixten, alkoholfreien Jahr, in dem die Beziehung zwischen Agnes und ihren Kindern aufblüht, bevor sie in aller Härte zurück in das tiefe Loch stürzt, werde ich wahrscheinlich für immer in mir tragen. Wahnsinn.
Und genau so etwas mitreißendes und emotional tiefgründiges habe ich auch bei bei seinem zweiten Roman erwartet, aber, wie das dann immer so ist mit großen Erwartungen, ich wurde enttäuscht. Es ist ein toller Roman, keine Frage, aber für mich gab es so einige Ecken und Kanten, die es mir schwer gemacht haben, angefangen beim Cover, das irgendwie eine reifere (Liebes-)Geschichte erwarten ließ. Dann die Ausgangssituation, die fast schon deckungsgleich mit Stuarts Debüt ist. Eine Glasgower Familie, eine trinkende Mutter, drei Kinder, von denen einer die Familie verlässt und einer seine Homosexualität entdeckt und sich damit in eine schwierige, unverstandene Lage bringt, stellte für mich einen noch größeren Bezug zu "Shuggie Bain" her, weshalb ich diese beiden Bücher ständig miteinander vergleiche. Allerdings spielt dieser Roman in 90er Jahren und Mungo ist schon etwas älter als Shuggie. Es hätte somit eine kluge Weiterführung sein können, was ich tatsächlich sehr spannend gefunden hätte, aber es ist dann doch so eine ganz eigene Geschichte geworden, die etwas wirr mit dem kleineren der beiden Handlungsstränge beginnt. Der Ausflug mit den zwei Bekannten von den AAs, die Mungo wieder auf 'rechte Bahnen' bringen sollen, hätte für sich schon eine sehr spannende und erschreckende Geschichte ergeben, so hat sie leider den Hauptplot umspielt, ohne ihm wirklich mehr Kraft zu verleihen, ihm vielleicht sogar Aufmerksamkeit geraubt, denn die eigentliche (Liebes-)Geschichte ist bis auf die Bandenkriege zwischen den Katholiken und den Protestanten dann doch deutlich ruhiger.

Aber ich mag nicht nur nörgelig sein, denn was Stuart kann, ist es sehr bewegend von schiefen Familienbahnen, vorhandenen Spannungen und Zwiespälten zu erzählen. Eher zufällig lernt Mungo James kennen, den Jungen, bei dem er so sein kann, wie er wirklich ist - ohne jemanden zu enttäuschen, ohne von seinen Geschwistern aufgezogen oder zu etwas aufgefordert zu werden und lernt dabei seine Sexualität und sehr viel mehr über sich selbst kennen. Die Umstände sind schwierig, seine Familie erwartet von ihm ein durchsetzungsfähiger, ganzer Mann zu werden, einer, der mit seinem Bruder Hamish in die Bandenkriege zieht, für sich und seine Familie einsteht und Härte zeigen kann. Das Bild des homosexuellen Jungen, der den kleinen Taubenzüchter von gegenüber liebt, passt da so gar nicht. Sehr einfühlsam und nahbar erzählt Stuart von eben dieser 'Entdeckungsreise', diesen Gegensätzen und später auch von der Angst, sowie seinem kraftvollem eigenen Weg, der ihm viel sehr mehr abverlangt als Hamish und Mungos restliche Familie sich überhaupt vorstellen können. Und auch, wenn es nicht an "Shuggie Bain" heranreicht, so ist es doch ein sehr beeindruckendes Buch über die Findungsphase eines Jungen, sowie die Diskrepanzen und Erwartungen der Gesellschaft, der Familie und von einem Selbst im Vergleich zum allgemeinen Weltbild, in das man hineingewachsen ist.

Ich bin gespannt, was da nun noch so folgen wird, ich hoffe allerdings Stuart löst sich vom Setting und offenbart dann noch einmal so ganz andere, zerrissene Gefühle und ein Schicksal, das mich wieder mehr fesseln und begeistern kann.

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Ein Segeltörn, der einem wirklich vieles abverlangt.

In blaukalter Tiefe
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Caroline und Andreas Kepler sind nach außen hin ein erfolgreiches Paar, das wahrlich jede Hürde meistert, doch zwischen ihnen kriselt es schon seit Ewigkeiten. Ein lang ersehnter Traum und Urlaub soll ...

Caroline und Andreas Kepler sind nach außen hin ein erfolgreiches Paar, das wahrlich jede Hürde meistert, doch zwischen ihnen kriselt es schon seit Ewigkeiten. Ein lang ersehnter Traum und Urlaub soll ihrer Beziehung nun endlich wieder Aufwind verleihen und anfangs sieht es tatsächlich so aus, denn "Als er ihr verriet, dass er ein Segelschiff gechartert hatte und sie in die schwedischen Schären segeln würden, hatte Caroline mit ihm geschlafen, das erste Mal seit Monaten.", aber da gab es noch eine kleine Kleinigkeit. Sie würden nicht alleine fahren. Andreas hatte seinen Kollegen aus der Kanzlei Daniel Schmidt und dessen Freundin Tanja eingeladen sie neben dem Skipper und dessen Freundin zu begleiten. Doch während Daniel es als Chance sieht, seinen Chef zu beeindrucken, fragt sich Tanja bereits zu dem Zeitpunkt, ob es wirklich eine gute Idee war, die Einladung anzunehmen. Auch an Bord wird sie dieses Gefühl nicht los, denn irgendwie scheint alles anders zu laufen als geplant und sie fühlt sich nur noch verkrampft und fehl am Platz, gar ihre Beziehung stellt sie zu dem Zeitpunkt in Frage. "Ich bin nicht naiv. Es passt wohl kaum. Der Topanwalt und die Altenpflegerin, was soll denn daraus werden?". Auch dass die Freundin des Skippers sie dann doch nicht begleiten würde, macht die Situation zwischen den beiden Paaren und auch untereinander nicht angenehmer. Weitere Probleme, Gedanken und die stete Verbindung zur Kanzlei sollen sie die nächsten zehn Tage nicht loslassen und ihnen sehr viele Nerven rauben. Aber nicht nur das - Risse in ihren Beziehungen werden sichtbar, fragliche Charakterzüge und Geheimnisse werden auf engstem Raum zur Qual und auch der Skipper scheint ihnen so einiges verschwiegen zu haben. Die Wetterverhältnisse tun ihr übriges, ein Sturm bringt sie in größte Seenot und damit tun sich Gräben auf, die wirklich niemand vorher erahnt hat.

"Andreas nickte, um sich selbst Mut zu machen. Er war naiv gewesen. Hatte wirklich gedacht, er könne sich für zehn Tage von allem frei machen. Zehn lächerliche Tage. Die Zukunft der Kanzlei, die Krankheit ihrer Tochter. Isabelle in der neuen Wohnung, ihr neuer Freund. Caroline und er hatten sich eingeredet, Isas Zustand sei stabil. Vielleicht war sein Wunsch, Caroline auf diesem Boot wieder näherzukommen, ebenso naiv gewesen. Die Dinge änderten sich eben nicht von allein. Er fühlte sich von ihr nicht wahrgenommen, auch hier nicht, an Bord. Aber darüber konnte er nicht mit ihr reden. Caroline hasste Selbstzweifel."

Puh, so viel Unausgesprochenes, Versuche den anderen eifersüchtig zu machen, Übergriffe... ich glaube, ich bin für solche Romane einfach nicht gemacht. Ich habe mich auch lange gefragt, ob ich dieses Buch ohne das erste Kapitel vielleicht schöner gefunden hätte oder nicht, denn bereits nach den ersten fünf Seiten hatte ich das Gefühl, den weiteren Verlauf und den Ausgang des Buches bereits zu kennen und so war es dann tatsächlich auch. Das machte es mir neben den immer unsympathischer werdenden Protagonist*innen mit ihren fragwürdigen, unausgesprochenen Problemen immer schwieriger an diesem Buch überhaupt noch Gefallen zu finden. Abwechselnd berichten sie von ihren Ansichten, den Geschehnissen an Bord und ihren Zwischenaufenthalten an Land. Und was irgendwie als eine Art Pärchen-Segelausflugs- und Beziehungs-Rettungsaktions-Geschichte startete wurde für mich mehr und mehr zu einer schlechten Soap voller künstlicher Dramatik, Abhängigkeiten und natürlich auch neu aufflammender Liebe. Kristina Hauff alias Susanne Kliem hat mit "In blaukalter Tiefe" einen Roman geschrieben, in dem sie sehr viele Themen und Probleme, die in Partnerschaften auftauchen, gemeinsam mit fünf grundsätzlich verschiedenen Charakteren auf den begrenzten Raum eines Bootes packt und dieses 'Sozialexperiment' mit einem auf die Spitze getriebenen Spannungsroman kombiniert... als Unterhaltung ist dies sicherlich lesenswert - etwas übertrieben, mit einem steten flauen Gefühl im Magen und sehr viel Pärchendynamik, aber sobald man mehr erwartet, würde ich dann doch eher zu einem anderen Buch raten.

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