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Veröffentlicht am 19.06.2024

James - eine große Empfehlung

James
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Percival Everetts Roman "James" finde ich aufgrund mehrerer Faktoren wahnsinnig spannend. Everett entführt uns in die Welt von Huckleberry Finn und erzählt Mark Twains Klassiker aus einer ganz neuen Perspektive, ...

Percival Everetts Roman "James" finde ich aufgrund mehrerer Faktoren wahnsinnig spannend. Everett entführt uns in die Welt von Huckleberry Finn und erzählt Mark Twains Klassiker aus einer ganz neuen Perspektive, die der bekannten Geschichte nicht nur ein neues Gesicht verleiht, sondern auch viel mehr Tiefe gibt. Hier geht es um die Gedanken und Erlebnisse des Sklaven Jim, der um seinen weißen, kleinen Freund Huck und seine Familie bangt und sich auf der Flucht in Richtung Freiheit befindet. Auf seiner Reise, entlang des Mississippis, trifft er auf andere Sklaven und -händler, Betrüger und Blackface-Sänger, die ihn von 'einem Abenteuer' direkt ins Nächste jagen. Dabei springt er selbst schon immer zwischen den Welten - seiner und der weiß geprägten. Jim stellt sich dumm um eben jenen vorherrschenden Vorurteilen und dem weißen Blick auf die Welt zu entsprechen, eine Rolle, die er nur in wenigen Momenten ablegen kann, denn wirklich frei ist er nie, egal wo er hinkommt, wo sich versteckt oder ob er Gleichgesinnte findet. Er beobachtet die Vergehen der Weißen an den Sklaven, seinen Freunden, berichtet von Vergewaltigungen und Unterdrückungen... dieses Buch ist nicht ohne, vielleicht sogar provozierend, stellt Everett doch die weiß-geprägte Geschichtsschreibung zum Teil infrage, überholt und öffnet sie, rückt sie grade.
Auf der Flucht möchte Jim auch anderen helfen, wie dem Mädchen Sammy, das im späteren Verlauf getötet wird. Die fast beiläufige Aussage "Sie war schon tot, als ich sie gefunden habe [...] Sie ist jetzt bloß noch einmal gestorben, aber diesmal als freier Mensch." hat mich lange nicht losgelassen, trifft sie doch genau die damaligen Verhältnisse der Unterdrückung auf den Punkt. "Von meiner Heimat habe ich nicht viel in Erinnerung, aber an das Schiff kann ich mich erinnern. An die Misshandlungen. Das Klatschen der Wellen.","Bin in der Hölle geboren. Verkauft worden, ehe meine Mutter mich im Arm halten konnte." sind weitere Aussagen, die sich in eben jenes Bild nur so einreihen und von der Grausamkeit und dem zugefügten Leid berichten. Aber es sind nicht nur diese Szenen, die diesen Roman ausmachen. Für Everett scheint es ein Leichtes zu sein zwischen Härte und Komik, tiefgründigen Gedanken, mitreißenden Szenen und leichteren Beschreibungen zu wechseln. Dies hat er bereits in "Erschütterung" und "Die Bäume" in der hervorragenden Übersetzung von Nikolaus Stingl mehrfach bewiesen. Und wo ich gerade von der Übersetzung spreche, der Slang in diesem Roman und wie Stingl dies ins Deutsche übertragen hat... grandios. Ich hoffe sehr, dass noch weitere Romane ihren Weg nach Deutschland finden und das Everett auch hier die Anerkennung und Beachtung bekommt, sind seine Romane doch jedes Mal so eine Wundertüte und zeitgleich so eine Abhandlung wichtiger Themen. "James" - eine große Empfehlung ob mit oder ohne Mark Twains "Huckleberry Finn"-Kenntnisse.

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Veröffentlicht am 14.06.2024

"Annas Lied" - ein Buch, hundert Jahre gelebtes Leben

Annas Lied
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Ich weiß gar nicht, was ich an "Annas Lied" beeindruckender finde, dass Benjamin Koppel [Ü: Ulrich Sonnenberg] hier einen umfangreichen Roman über das Leben seiner Tante Anna und jüdischen Familie geschrieben ...

Ich weiß gar nicht, was ich an "Annas Lied" beeindruckender finde, dass Benjamin Koppel [Ü: Ulrich Sonnenberg] hier einen umfangreichen Roman über das Leben seiner Tante Anna und jüdischen Familie geschrieben hat oder dass es so eine mitreißende, wie bewegende Geschichte ist, die über viele Höhen und Tiefen eines Lebens berichtet, geschichtlich so einige tragisch-schwere Einblicke liefert und dabei Hoffnung und Träume nie so ganz aus den Augen verliert. In Dänemark war diese Familiensaga ein Überraschungsbestseller und für mich eine große Entdeckung, die mir so einiges abverlangt hat.

Die Geschichte beginnt in Dänemark. Wir Leserinnen lernen die Koppelmanns kennen, zumindest den Teil, der auf den Weg nach NewYork in Kopenhagen hängen blieb. Yitzhak und seine Frau Bruche, ihre fünf Kinder - Joseph, Zimmel, Avrom, Ezekiel und Hannah.
Sie alle teilen die unbedingte Freude an der Musik und gerade für die Jüngste sind Brahms, Beethoven und Bach beinahe ihr Leben. Bereits als Kind hegt sie den Traum Pianistin zu werden und so wie ihre Brüder auf der ganzen Welt zu spielen. "Ich hätte gern eine große Familie. Wir würden die ganze Zeit musizieren." Doch mit den Träumen und Wünschen ist das so eine Sache. In der jüdischen Tradition ist es Brauch, dass die Familie nach einer/einem geeigneten Frau/Mann für die ihre Kinder sucht und deren Ehe arrangiert. Dies führt in der Familie Koppelmann zu sehr viel Streit, denn alle vier Söhne wollen selbst entscheiden und legen sich mit ihrer Mutter Bruche an und "Jedes Mal tröstete sie sich damit, dass sie sich in jedem Fall auf ihre Tochter verlassen konnte. Hannah würde niemals Schande über die Eltern bringen. Hannah würde nie gegen den Willen ihrer Eltern handeln. Hannah würde ihrer Mutter nicht auf die gleiche Weise trotzen wie ihre Brüder. Hannah würde sie niemals im Stich lassen." Oder etwa doch?
1936 fanden Hannahs Eltern endlich mit Francois die passende Partie für ihre 15jährige Tochter, eine vornehme Pariser Familie sollte es also sein, die die Ehre und jüdische Tradition der Familie retten sollte. Aber da wussten sie noch nichts von Aksel, Hannahs heimlicher Liebe, die sie eines Abends beim Ausgehen mit ihrer Freundin Elisabeth kennenlernte...

Während die Welt langsam das Ende der Wirtschaftskrise erreicht, kommt es in Deutschland zu großen Veränderungen. Die Deutschen "wählen so einen Verrückten und überlassen ihm die gesamte Demokratie" und es sollte nicht allzu lange dauern, bis auch in Dänemark die Nationalsozialistische Arbeiterpartei gegründet wurde, die Nazis Einfluss gewannen und auch die Deutschen die Neutralität Dänemarks nicht länger respektieren würden. Die Invasion Dänemarks stand unmittelbar bevor. Für Hannah und ihre Freunde stand fest, sie wollten Widerstand leisten, brachen in Geschäfte von Unterstützern der Deutschen ein, zündelten mit selbstgebauten Bomben.

"Wie so viele andere Juden im Laufe der Geschichte gingen sie davon aus, dass schon alles gut werden würde, solange man nur auf sich, seine Geschäfte und seine Familie aufpasste. Die jüdische Gemeinde erwartete, dass Dänemark sich schon um seine Bürger kümmern würde - auch um die dänischen Juden. Das Leben musste so normal wie möglich weitergehen, davon waren die meisten überzeugt, auch bei den Koppelmanns."

... bis dann die Unruhen stärker wurden, die Deutschen Listen über sämtliche dänische Juden stahlen und auch die dänischen Juden zur Flucht gezwungen wurden. Was dann folgt ist ein ungewisses Schicksal mit vielen herben Enttäuschungen, Hannah muss sehr viel zurückstecken und ja, als der Krieg vorbei ist, unterwirft sie sich wirklich den Wünschen ihrer Eltern, doch Aksel und die Musik kann sie nie so ganz vergessen.

Ich könnte nun noch ewig weitererzählen, denn dieses Buch hat so einiges zu bieten. Sehr interessant fand ich dabei den Blick auf Dänemark und Frankreich während Hitlers Machtergreifung und deren Folgen. Auch über die jüdischen Traditionen habe ich in dieser Form noch nie etwas gelesen. Die stete Verbindung zur Musik, diese große Familie mit ihren so komplett unterschiedlichen Charakteren, Hannahs Leben, ihre Träume und Wünsche, ihre Aufopferung für die Familie, diese Wut und Enttäuschung, diese hoffnungslose Liebe, die sich durch all die Jahre und den Krieg zieht... ich habe Hannahs Lebens- und Leidensweg so gefühlt und finde die Art und Weise dieser Erzählung einfach besonders. Bis zuletzt habe ich für Hannah gehofft, dass sie ihren ursprünglichen Traum Pianistin zu werden irgendwie erreichen kann, sie kämpft immer wieder dafür und muss viel zu oft zurückstecken oder sich ihren Brüdern, der Ehe und ihrem Mann... unterordnen. Durch die etwas mehr als 500 Seiten bin ich an einem Wochenende nur so geflogen und wollte mich auch durch nichts anderes mehr ablenken lassen. Ein ganz großer Wurf, dem ich wirklich noch viel mehr Leser
innen wünsche.

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Veröffentlicht am 13.06.2024

"ich trage viele in mir" - "Issa" und die bewegenden Schicksale ihrer Mütter

Issa
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An sich bin ich jeher ein großer Fan von Familiengeschichten, die sich über mehrere Generationen erstrecken. Dieser lebendige und emotionale Blick auf die Geschichte, Schicksale und Werdegänge finde ich ...

An sich bin ich jeher ein großer Fan von Familiengeschichten, die sich über mehrere Generationen erstrecken. Dieser lebendige und emotionale Blick auf die Geschichte, Schicksale und Werdegänge finde ich einfach wahnsinnig spannend, zumal verschiedene Perspektiven, Ansichten und Handlungen, wie ihre Folgen stets andere Sichtweisen zutage fördern. Mirrianne Mahn fokussiert sich in "Issa" z.B. mehr auf die starken Frauen einer Familie, die sich von der Unterdrückung ihrer Männer befreien, und erzählt von den großen, gewichtigen Themen, die im eurozentrischen Geschichtsunterricht gerne mal vergessen werden - Kolonialismus, Ausbeutung, die Entwicklung Kameruns in den letzten hundert Jahren, sowie das Leben Schwarzer. Aber eins nach dem anderen, denn dieser Roman beginnt 2006 mit einer schwangeren Frau, namens Issa, die in einem Flieger nach Douala sitzt. In Kamerun erwarten sie dann nicht nur ihre Omas und der restliche Teil der Familie, sondern auch verschiedene Glaubensrituale. "Der heilsame Weg der Rituale", die nun alle vor der Geburt des Kindes unbedingt nachgeholt werden müssen und die sie auf Drängen ihrer Mutter über sich ergehen lassen will.

"Ich kam nach Kamerun, um einer Zukunft zu entgehen, bei der ich mir nicht sicher war, ob ich sie wirklich wollte. Mutter, Vater, Kind. Heiraten, alles perfekt. Aber so fühlte es sich nicht an. Gestern konnte ich zum ersten Mal meine Zukunft fühlen, eine Zukunft, die ich gestalte, und ich hatte eine Ahnung davon, wer ich bin. [...] Inmitten des Labyrinths meiner Gedanken finde ich endlich Klarheit. Ich muss mich nicht zwischen meinen Wurzeln, meiner Herkunft und meinem Leben in Deutschland entscheiden.[...] Ich will meine Wurzeln feiern und gleichzeitig meine Flügel ausbreiten."

Der Weg zur Erkenntnis ist allerdings kein einfacher, die Traditionen und Glaubensfragen, sind etwas spezieller und dieses gewisse Gefühl der Fremdheit, welches sie auch in Deutschland immer wieder begleitet, ist zunächst auch hier präsent - in Frankfurt zu Schwarz, in Buea zu deutsch. Und dieser Weg führt vorbei an der Familiengeschichte, an den Leben und Erzählungen über die Mütter und Großmütter ihrer Familie, ihr Kampf um Freiheit, Liebe und Selbstbestimmung.

Es dauerte eine Weile, bis ich in diese Geschichte hineingefunden habe. Issa war mir anfangs etwas zu nervig und viel zu anstrengend, auch dieses Problem mit ihrem Freund und der Mutter interessierten mich so gar nicht und der zweite Erzählstrang mit den Zeitsprüngen in die Jahre 1903, 1908, 1918 usw., sowie die ganzen Namen dieser großen Familie überforderten mich. Aber im Verlauf der Geschichte, etwa ab dem vierten Kapitel, und dieser gewissen steten Dramatik, machte es auf einmal Klick und ich war fasziniert bis erschüttert von der geschilderten Polygamie, dem Leben innerhalb eines Stammes, dem Schicksal der Frauen, die gefangen waren durch die vorhandene Traditionen und Ränge, erwartete Unterwürfigkeit und Aufopferung. Ihanna, Enanga, Marijoh, Namondo, Ayudele... sie alle haben Kämpfe hinter sich, teils gewonnen, viel verloren, immer wieder Mut und Stärke bewiesen; Kampfgeist für ihre Kinder.

"... wir leben in einer Welt, in der Frauen nun mal dafür da sind, die Probleme von Männern zu lösen. Sie sehen uns nicht als Menschen oder als ebenbürtig an, sondern behandeln uns so, als könnten sie uns nach Belieben verschenken und austauschen."

Und das fand zeitweise wirklich krass. Auch die Entwicklung, von dieser wütenden Unzufriedenheit, dem Unterordnen bis hin zum Aufbäumen gegen die Männerwelt, hin zur Selbstbestimmung und dieser klaren Kante, bis hier hin und nicht weiter. Und diesen Kampf um das eigene Leben oder das der Kinder irgendwie in jeder Generation wiederzufinden... puh.
Den zweiten Erzählstrang mit Issa und diesen ganzen Ritualen habe ich nach einer Weile ähnlich gern gelesen. Auch sie macht eine Entwicklung durch, taut etwas auf und lässt mehr Nähe zu. Am Ende mochte ich sie eigentlich ganz gern und hätte mir sogar gewünscht noch deutlich mehr über sie und ihre Rückkehr lesen zu können. Der Epilog war mir etwas zu kurz und doch wahrscheinlich genau richtig, denn so blieben beschäftigten mich Issa und die ihre Vorfahren noch eine ganze Zeit. Dieses ganze Leid, die Traumata, diese Wut... dieses stete Auf und Ab an Gefühlen beim Lesen und diese intensiven Geschichten/Rückblicke haben mich mitgerissen und begeistert. Ein sehr starkes, vielschichtiges und beeindruckendes Debüt. (Und auch ein sehr interessanter, wie erbaulicher Umgang mit dem Tod.)

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Eine kurze Geschichte in Sachen Freundschaft

Der ehrliche Finder
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Lize Spits Romane "Und es schmilzt" und "Ich bin nicht da" [in der Übersetzung von Helga van Beuningen] schätze ich sehr aufgrund der intensiven Auseinandersetzungen mit ihren Protagonistinnen, den tiefgründigen ...

Lize Spits Romane "Und es schmilzt" und "Ich bin nicht da" [in der Übersetzung von Helga van Beuningen] schätze ich sehr aufgrund der intensiven Auseinandersetzungen mit ihren Protagonistinnen, den tiefgründigen Beobachtungen und Entwicklungen, sowie die sehr düsteren menschlichen Abgründe, die nach und nach sichtbar werden. Dass "Der ehrliche Finder" da nun nicht nur vom Umfang, sondern auch von der Art deutlich leichter daherkommt, fand ich zunächst etwas überraschend. Allerdings erklärt es sich, sobald man weiß, dass "De eerlijke vinder" eine Auftragsarbeit für die niederländische Boekenweek 2023 war, bei der es jährlich in den Buchhandlungen das sogenannte Boekenweeksgeschenk zum Einkauf dazu gibt und es sich dabei traditionell um eine Novelle handelt.

In diesem Roman thematisiert Spit nun eine ganz besondere Freundschaft und eine Flüchtlingsgeschichte, die von wahren Gegebenheiten und dem Fall der zehnköpfigen Flüchtlingsfamilie Zenelaj aus dem Kosovo, die 1999 ausgewiesen werden sollte und für die sich dann ein ganzes Dorf einsetzte, inspiriert wurde. Jimmy und Tristan sind seit ungefähr einem Jahr beste Freunde - eigentlich schon seit dem Tag an dem Tristan in Jimmys Schule kam, sein Tischnachbar wurde und Jimmy es sich zur Aufgabe machte Tristan Ibrahimi zu helfen. Und während Tristan sehr eindrucksvoll vom Krieg, der Flucht durch Europa und seiner Familie erzählt, ist es gerade Jimmy der von eben jenen Verhältnissen träumt. In seiner Familie ist alles schon lange nicht mehr okay und die Pleite, wie das Verschwinden seines Vaters nagen sehr an ihm. Einzig seine heißgeliebte Flipposammlung ist sein Heiligtum mit dem er Stunden begeistert verbringen könnte und das er ausbauen und mit seinem besten Freund teilen will. Er träumt von einer Art Club, doch dann kommt alles anders. Als Tristans Familie plötzlich die Abschiebung droht, versuchen die Kinder krampfhaft einem Ausweg zu finden. Eine Heldengeschichte, wie in Deutschland, wo ein Asylsuchender einen terroristischen Anschlag auf einen Zug vereitelt hat und daraufhin ein Asylangebot bekam, muss her und dann geht alles ganz schnell... "Viel mehr könne Tristan am Telefon darüber nicht sagen. Er habe sich einen Plan überlegt, sie würden ihn morgen ausführen, sie bräuchten Jimmy dafür, deshalb wäre es praktisch, wenn er bei ihnen übernachten könne?"

Uff. kein leichtes Thema und doch wirkt es beinahe mühelos, wie Spit von einer Sammelleidenschaft, über Freundschaft hin zu einer eventuellen Heldengeschichte kommt. Dieser Roman hat nicht die gewohnte Tiefe und doch ist es eine mitreißende Geschichte, die die Leser
innen so einen Nachmittag und gedanklich noch viel länger beschäftigt, von traumatischen Ereignissen erzählt und die Bedeutung von Dingen für Menschen unterschiedlicher Lebensrealitäten sichtbar, wenn nicht sogar spürbar macht. Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, finde den Hintergrund wahnsinnig spannend und diesen, doch heute sehr fehlenden, Gemeinschaftsgedanken sehr schön, die große Begeisterung hingegen blieb leider so ein bisschen aus, ich glaube, ich bei da lieber den dickeren Wälzern.

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Veröffentlicht am 29.05.2024

"Tremor" - intensive Gedankengänge einer anderen Lebensrealität

Tremor
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Das Wort Tremor steht für eine Bewegungsstörung, ein unwillkürliches Zittern in den Extremitäten; der Muskulatur. "Tremore unterscheiden sich nach betroffener Körperpartie, Frequenz, Stärke, Ursache und ...

Das Wort Tremor steht für eine Bewegungsstörung, ein unwillkürliches Zittern in den Extremitäten; der Muskulatur. "Tremore unterscheiden sich nach betroffener Körperpartie, Frequenz, Stärke, Ursache und Vorkommen." (siehe Wikipedia) - Ein irgendwie passendes Bild, wenn ich an Teju Coles gleichnamigen Roman "Tremor" [aus dem Englischen von Anna Jäger] denke. In diesem Buch lernen wir Leserinnen zunächst Tunde kennen. Er wuchs in Lagos, Nigeria auf, ging mit siebzehn Jahren in die USA und hält heute Vorträge und lehrt Fotografie an einer amerikanischen Universität. Er nimmt uns mit über den Campus, führt uns in Institutionen und ins Museum, beschreibt seinen Blick auf die Welt, die Kunst und Kultur. Und er nimmt uns mit nach Lagos.

Vielleicht könnte man nun im Entferntesten von einer akademischen Aufstiegsgeschichte sprechen in der Bildung für Tunde einen sehr hohen Stellenwert bekam, wäre da nicht seine Herkunft und die Risse, die sich immer wieder auftun und bis heute sein und das Leben vieler Schwarzer prägen. Kolonialismus, Gewalt, Verlust, Rassismus und Vorurteile... sind Themen, die sich in so viele Dinge der bestehenden, weiß-geprägten Welt eingeschrieben haben, sich hier und da nur in "Frequenz, Stärke, Ursache und Vorkommen" unterscheiden und so immer wieder die unterschiedlichsten Lebensrealitäten bezeugen, ob man es will oder nicht. Ein Blick auf Kunst, Kultur, Geschichtliches und dessen Bedeutung genügt, um zu verstehen, dass dort viel mehr 'erzählt' wird, als nur die EINE Geschichte. Und dass dort noch viel mehr Fragen lauern, als jene, über die wir uns bislang Gedanken machten...



"Wie lebt man, ohne andere zu besitzen? Wem gehört diese Welt? Weiße Menschen haben uns beigebracht, dass die Welt mittels Religion und Kriegsführung beherrscht werden kann, dass sie zum Zweck des Vergnügens und der Forschung gesammelt werden kann, dass sie durch Reisen in Besitz genommen werden kann - dass Besitz dem zusteht, der ihn sich nimmt und verteidigt. Wie lebt man, ohne das Leben der anderen zu kannibalisieren, ohne sie zu Maskottchen, Faszinosa, bloßen Begrifflichkeiten in der Logik zu einer dominanten Kultur zu reduzieren?"



Was nun, bei diesen wenigen Zeilen, schon deutlich wird, ist dass es sich bei "Tremor" um keine leichte, eingängige Lektüre handelt. Cole schreibt einerseits über eine Lebensgeschichte, andererseits durchbricht er diese Erzählung immer wieder mit zahlreichen Gedanken und Themen, die es schwer machen eine eindeutige und chronologische Handlung zu finden. Für mich ist es so auch eher eine Art Ergänzung zu anderen Romanen wie "Weiße Flecken" von Lene Albrecht oder "Issa" von Mirrianne Mahn, die zwar auch an einigen Stellen nur Fragmente enthalten, aber durch ihre Handlung und Geschichte eine viel emotionalere Bindung zu den Leser
innen ermöglichen. "Tremor" ist mehr so eine kluge, intensive Auseinandersetzung mit zahlreichen Themen von Kolonialismus, Rassismus, Korruption, Bildung, deren Einfluss auf die Fotografie, die Kunst und das kulturelle Erbe, bis hin zu Gedanken und Beschreibungen über die Situation in Nigeria - außerhalb, wie innerhalb. Mensch(sein). Mal sind es mehr tiefgründige Gedanken, Gedankenverkettungen, mal mehr Beschreibungen des Gesehenen, Geschehenen oder der Versuch einer Erklärung für die jeweiligen Lebensverhältnisse. Und ich glaube, das mag ich an diesem Buch besonders... das Aufbrechen bekannter Perspektiven, wenn auch Schwarze Stimmen immer mehr Gehör finden und vieles fast schon logisch erscheint, so ist es immer wieder bereichernd noch einmal von einer anderen Lebensrealität, einen anderen Bezug oder mehr Wissen über xy zu erfahren oder wann hat man sich schon mal Gedanken über Hotels gemacht? oder ob ein Land überhaupt für die Herstellung von Produkten gemacht ist? Cole präsentiert dabei, wenn es um Fotografie oder Kunst geht oder um die Bennin-Statuen oder das Gemälde "Sklavenschiff (Sklavenhändler werden Tote und Sterbende über Bord - ein Taifun zieht auf) , keine vorgefertigte Lösung eines Bessergebildeten für den Umgang eben jener Überlieferungen, er zeigt Gedanken auf, hilft als Außenstehender Gegebenheiten besser einzuschätzen und zeigt zeitgleich unseren unempathischen Umgang mit all den mitschwingenden Themen der geschichtlichen Prägung.



"Jeder Mensch erschließt sich die Welt aus einem persönlichen Blickwinkel, was dieses Wissen nicht schmälert. Jeder Mensch begreift das Leben auf der Grundlage kleiner persönlicher Ereignisse. Die eigene, unmittelbare Erfahrung ist das, was zählt. Nur wenn wir uns auf das stützen, was wir wissen und was wir erlebt haben, können wir uns in größere Zusammenhänge begeben."



...und gerade dabei hilft dieses Buch und diese kluge, intellektuelle Auseinandersetzung ungemein. Da es dennoch ein etwas spezielleres Buch ist und zeitweise intensiv und anstrengend, nur eine vorsichtige Empfehlung.

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