Profilbild von herrfabel

herrfabel

Lesejury Star
offline

herrfabel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herrfabel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.06.2018

Zwischen Angst, Aufregung und einer besonderen Vater-Sohn-Beziehung

Wir sind dann wohl die Angehörigen
0

"Es war der 25.März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem ...

"Es war der 25.März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem Kopf, ohne meinen ersten Gedanken an die Lateinarbeit, die ich hätte schreiben sollen und die ich [...] verpassen würde."

Was geht in einem Kind vor, wenn es aufwacht und seine Mutter ihm erklärt, dass sein Vater entführt wurde und sie nun für eine gewisse Zeit ein "Abenteuer" bestehen müssen? Genau darum dreht es sich in dem Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen" von Johann Scheerer. Mit diesem Buch erzählt er seine Erlebnisse während der Entführung von Jan Philipp Reemtsma im März 1996. Es geht um Verlustangst, um das Herausreißen aus der Normalität und die polizeilichen Ermittlungen aus Sicht eines 13 Jährigen. "Wenn alle Forderungen erfüllt werden, wird Herr Reemtsma 48 Stunden nach Erhalt des Lösegelds von uns unverletzt freigelassen." heißt es. Doch vielleicht ist das alles auch nur ein Spiel, dass die Entführer hier spielen und sie werden ihn gar nicht frei lassen?! Vielleicht ist er ja auch schon tot. Jedenfalls muss Johann die angekündigte Lateinarbeit nicht schreiben, denn an Schule wäre momentan nicht mehr zu denken. Es ist ja auch nur eine kurze 'Auszeit', doch aus den ursprünglichen 48 Stunden, sollten ganze 33 Tage werden. Vielleicht liegt es auch einfach an der desaströsen Arbeit der Polizei, vielleicht ist es aber auch seitens der Entführer so provoziert. Und so lernen wir die Geschichte Johanns kennen, der sich zwischen dem polizeilichen Wust aus Ermittlungen, Warten und Angehörigenbetreuung wiederfindet, abgeschirmt von der Normalität.

"Ich hatte Angst vor einem weiteren Schritt ins Unbekannte, ins Unberechenbare. Ich sehnte mich nach der Normalität, die mir genommen worden war"

Wer hier nun ein sehr detailliertes, klassisches und gewaltiges Entführungs-/Kriminal-/Alles-ist-so-furchtbar-Buch erwartet, wäre mit diesem Buch eher falsch bedient. Es ist nämlich die Geschichte aus der Sicht eines Jungen, der die damaligen Vorgänge während der Entführung seines Vaters schildert. Damit ist es auch nicht so ein detailliertes Abbild, wie es Reemtsma selbst in seinem Buch beschreibt. Es ist diese Mischung aus kurzer Freude über die verpasste Arbeit, die Besuche im Musikladen und die Betreuung seitens der Polizei, die Angst, dass er seinen Vater vielleicht nicht mehr wiedersehen wird, die zu überbrückende Langeweile und das Warten auf einen neuen Anruf der Entführer... Und stets schwingt eine gewisse kindliche Distanziertheit und Unverständnis mit. Es ist nicht nur ein Bericht über eine Entführung, seitens der Familie selbst, es ist viel mehr und gerade das hat es für mich zu einer sehr interessanten Geschichte gemacht. Der einzige Nachteil: Ich habe dieses Buch innerhalb eines Sonntags komplett durchgelesen und war dann schon irgendwie enttäuscht, dass es bereits vorbei war.

Veröffentlicht am 29.04.2018

Auf den Spuren eines Psychopathen

Unter der Haut
0

"Unter der Haut" von Gunnar Kaiser ein Buch, welches mich aus Vielerlei Gründen mehr als fasziniert.

Zunächst befinden wir uns im New York der späten 60er Jahre und treffen dort auf den eher schüchternen ...

"Unter der Haut" von Gunnar Kaiser ein Buch, welches mich aus Vielerlei Gründen mehr als fasziniert.

Zunächst befinden wir uns im New York der späten 60er Jahre und treffen dort auf den eher schüchternen und unbeholfenen Literaturstudenten Jonathan Rosen. Er hat sich vorgenommen sich zu überwinden, folgt einer sehr schönen, wenn nicht sogar DER Frau in eine Bar und traut sich dann doch nicht sie anzusprechen. Aus der Nähe beobachtet er nun die Verführkünste von Josef Eisenstein und als dieser mit der Frau das Lokal verlässt, folgt er ihnen. Josef Eisenstein hat dies bereits kommen sehen, es scheint alles so, als wäre Jonathan auf einen Trick hereingefallen, doch irgendwie schafft er es Jonathan in seinen Bann zu ziehen und eine Art Schüler aus ihm zu machen. Es entsteht eine seltsame Freundschaft zwischen beiden. Auf Eisenstein lehrt ihm die Kunst des Verführens und möchte dass Jonathan ihm seine Eroberungen vorführt, während er in einer dunklen Ecke steht und beide den Geschlechtsakt vollziehen. Er möchte die Gefühle und Emotionen aufsaugen, das was ihm nicht möglich ist, auf andere Art und Weise hautnah erleben.

"Inmitten all dieser Bilder sehe ich ihn noch heute, sah ich ihn in der Nacht, sah, wie er uns zusah. Inmitten all dieser Erinnerungen meiner Sinne steht er. Steht in seinem Höhleneingang, schweigt, raucht und schaut."

Eisenstein, besitzt eine beeindruckende Sammlung nahezu antiker Werke und mit besonderen Bindungen. "Man muss mit den Büchern leben [...] sonst ist es sinnlos, sie zu besitzen.", so seine Meinung. Allerdings befindet er sich schon sehr auf der Suche nach DEM einen, vollendeten Buch, das in ihm ein wahres innerliches Feuerwerk an außergewöhnlichen Gefühlen, Eindrücken und Anbetung erweckt.
Nahezu gleichzeitig geschehen grauenhafte Morde an jungen, schönen Frauen, deren enthäutete Leichen eine nach der anderen angespült werden und die große Suche nach dem Psychopaten, dem Skinner von Williamsburg beginnt.

"Gehäutet. Von Kopf bis Fuß. Oder eher: vom Hals bis zu den Knöcheln. Seit Monaten zieht man in dieser Gegend Frauenkörper aus dem Wasser, die vollkommen enthäutet sind. [...] Das sind keine Mädchen, die aus Liebeskummer mal für ein paar Tage weglaufen. Das ist eine Mordserie..."

"Unter der Haut", ein Triptychon aus drei einzelnen Zeitabschnitten/Teilen bzw. Büchern, die am Ende ein so schön ineinandergreifenden Ganzes ergeben. Gunnar Kaiser erschafft ein sprachgewaltiges Konglomerat aus historischen Begebenheiten um den Zweiten Weltkrieg, dem New York der 60er, kombiniert in einem Roman aus Faszination, Besessenheit und Liebe. Mich selbst hat dieses Buch bereits ab der ersten Seite in den Bann gezogen und erst mit dem plötzlichen Ende wieder losgelassen. (Gut, eigentlich war ich bereits vom Klappentext als solches bereits mehr als angetan.) Der Schreibstil ist sehr angenehm und unterstützend. So wechselt Kaiser bei der Rückblende und Kindheit Eisensteins in die alte Rechtschreibung, zwischenzeitlich wechselt er die Perspektive um noch mehr Tiefe und Fokussierung zu gewinnen. Das ist Literatur auf hohem Niveau - gut konstruiert, durchdacht, mitreißend, bildhaft und formvollendet mit einem angenehmen Satzspiegel und Typografie sowie einem wirklich schön gestalteten Einband mit sinnvoller Laserstanzung des Schutzumschlags. Ein Kleinod, das ich beinahe jedem empfehlen möchte. Sehr zartbesaitete Menschen sollten dieses Buch allerdings nur von außen bewundern.

"Als ich jung war, suchte ich nach Mädchen. Meine Suche begann am frühen Morgen des Tages, an dem ich zwanzig Jahre alt wurde, und sie endete unter den Sternen der letzten Sommernacht meines Lebens."

Veröffentlicht am 09.04.2018

Und dann geschieht das Wunder

Der Zopf
0

"Wer als Kloputzer auf die Welt kommt, stirbt auch als Kloputzer. Es ist ein Erbe, ein Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen kann. Ein Karma."

Das Leben von Smita könnte in Indien nicht 'bescheidener' ...

"Wer als Kloputzer auf die Welt kommt, stirbt auch als Kloputzer. Es ist ein Erbe, ein Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen kann. Ein Karma."

Das Leben von Smita könnte in Indien nicht 'bescheidener' laufen. Als sie in die unterste Schicht bzw. Kaste geboren wurde, stand ihr Schicksal bereits fest. Sie ist "Schmutzsammler. Eine dezente Bezeichnung für eine Realität, die genau das nicht ist. Es gibt kein Wort, um zu beschreiben, was Smita macht. Sie sammelt den ganzen Tag über [...] die Scheiße der anderen auf." Gleiches möchte sie ihrer Tochter niemals antun und so beginnt ein steiniger Kampf aus diesem Leben und dem Karma zu entkommen. Neben Smita, handelt dieser Roman von Giulia aus Sizilien und Sarah aus Kanada. Konträrer könnten die Unterschiede ihrer Lebenssituationen nicht sein. Der Zopf von Laetitia Colombani ist eine sehr berührende Geschichte über ihr Leben und erzählt, wie sie ihr Schicksal nun selbst in die Hand nehmen. In Kanada, dem wohlhabenden Land, lebt Sarah. Mit ihren vierzig Jahren scheint sie bereits alles erreicht zu haben - ein toller Job als Juristin, eine eigene Familie, ein eigenes Haus ... Doch eine Schicksalswendung bringt ihr komplettes Leben ins Wanken. Auch auf Sizilien hat Giulia mit unvorhersehbaren Problemen zu kämpfen. Es geht um die Firma, ihre Zukunft und die der Familie und der Angestellten.
So verschieden das Leben der drei Frauen auch sein mag, eint sie, der Drang nach einer besseren Zukunft, im Kampf um ihre Existenz.
"Alles ist ruhig. Sie sinkt auf ihr Bett und lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie denkt noch an die Frau, die sie gewesen ist, die sie gestern noch war..."

Es ist nicht nur die Tatsache, dass die dargestellten Kontraste der einzelnen Lebenssituationen diese Geschichte so faszinierend machen, sondern auch die Geschichte der Frauen selbst. Dieser Roman zeugt nicht nur von Kraft und Stärke; er hat mir auf ganz anderer Ebene gezeigt, wie gut es uns Menschen in der westlichen Welt eigentlich geht und welche gesellschaftlichen Probleme und Ansichten in anderen Teilen der Welt herrschen. Ohne bereits die ganze Geschichte erzählen zu wollen ... Dieses Buch hat mich bewegt, mir mal wieder bewusst gemacht, wie ersetzbar ein Mensch sein kann und dass eine Wendung des Schicksals oftmals gar nicht so verkehrt ist. Es ist ein Buch für Kämpfer(innen), für Mutige und Menschen, die an sich und die Zukunft glauben. Die Mischung aus Emotionen und Hoffnung macht aus diesem Roman etwas ganz Besonderes und Schönes.

"Manchmal ist die Vorstellung wohltuend, dass alles ein Ende hat, dass jeder Qual, so groß sie auch sein mag, irgendwann aufhört, vielleicht morgen."

Veröffentlicht am 24.03.2018

Ein Traum von Aussichtslosigkeit und Hoffnung

Stadt der Feen und Wünsche
0

"Dann steht für Minuten der Stille im Raum. Jedes Mal, wenn ich hier bin, möchte ich irgendwie bleiben, aber trotzdem gehe ich immer. Wenn ich bliebe, würde ich die Sehnsucht vermissen, glaube ich."

Berlin ...

"Dann steht für Minuten der Stille im Raum. Jedes Mal, wenn ich hier bin, möchte ich irgendwie bleiben, aber trotzdem gehe ich immer. Wenn ich bliebe, würde ich die Sehnsucht vermissen, glaube ich."

Berlin kann man mit vielen Augen betrachten, nicht jedem gefällt's, nicht jeder fühlt sich 'am Puls der Welt' so wohl. Ein Ort der Schnelllebigkeit und des Verdrängens. Dort wo jeder ein Ziel haben und mit der Zeit gehen sollte oder sonst einfach in dem Vorbeirasen der Stadt verloren zu gehen scheint. Die "Stadt der Feen und Wünsche" von Leander Steinkopf ist eine Version. Drei Tage lang begleiten wir den pessimistisch, misanthropischen Einen, der sich über alles und nichts Gedanken macht. Wir beobachten mit ihm die Stadt voller Möglichkeiten und gehen dabei verloren. Ein Ausschnitt der Gegenwart, eine Darstellung von Gegensätzen und des aneinander vorbei Lebens.

"Rot steht das Licht am Himmel, dann rosa, dann lila, dann blau. Die Stadt verfärbt sich wie ein Bluterguss. Und ich fühle mich plötzlich einsam, da ich nicht weiß, wen ich anrufen würde, um mir den Weltuntergang nicht allein anschauen zu müssen, wer bereit wäre zu kommen."

Obwohl es 'nur' eine kurze Erzählung ist, hat "Stadt der Feen und Wünsche" eine wahnsinnige Tiefe und Ausdrucksstärke, die sich so manch anderer Roman als Vorbild nehmen könnte. Für mich ist dieses Buch eine poetisch, melancholische Liebeserklärung an Berlin, eine Auseinandersetzung mit dem Jetzt und ein Ausschnitt aus dem nüchternen, pessimistischen Leben und Gedanken des Protagonisten ohne Namen. Es ist die Mischung aus Momentaufnahme und feinsinniger Wortwahl, die dieses Buch so lesenswert machen. Ein Buch, welches man einfach mehrfach lesen muss, um immer wieder Neues zu entdecken und zu hinterfragen. Ich kann es kaum in Worte fassen, denn Steinkopf schafft es recht viel Spielraum und Platz für eigene Wertungen zwischen den Zeilen zu lassen und doch ist "Stadt der Feen und Wünsche" so kompakt, so trostlos und voller Hoffnung.

"Es gibt einen Tiefpunkt allen Denkens. Von dem kann man sich nicht mehr entfernen. Es ist offensichtlich, dass ich hier nicht mehr hingehöre, aber ich habe noch eine Stempelbonuskarte, die ist fast voll, und kurz vor Ende gibt man nicht auf."

Veröffentlicht am 08.03.2018

"Wir sind in jeder Stunde tausend verschiedene Menschen."

Memory Wall
0

"Alma steht barfuß und ohne Perücke mit einer Taschenlampe im oberen Schlafzimmer. [...] Vor einem Moment noch, da ist sich Alma sicher, hat sie etwas Wichtiges getan. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ...

"Alma steht barfuß und ohne Perücke mit einer Taschenlampe im oberen Schlafzimmer. [...] Vor einem Moment noch, da ist sich Alma sicher, hat sie etwas Wichtiges getan. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ging. Aber sie kann sich nicht erinnern, was es war."

In dieser Anthony Doerrs Novelle lernen wir die Geschichte von Alma kennen. Alma hat Demenz. Man kann es auch gar nicht schön reden, doch es ist trotz der fortschreitenden medizinischen Möglichkeiten nicht aufzuhalten. Ärzte können aufgrund von 4 Ports, die in Almas Kopf verankert sind, Erinnerungen 'ernten', auf Kassetten speichern. So können diese Fragmente oder Puzzleteile immer mal wieder abgespielt und zurück ins Gedächtnis gerufen werden. Früher hatte Alma täglich an der Wand gearbeitet. Eine Wand mit dutzenden von Erinnerungen in Form von Kassetten, Bildern und gekritzelten Notizen. In dessen Innerstes ein Bild ihres Mannes Harold. Eine Herzattacke riss ihn während der Suche nach Fossilien aus ihrem Leben. Und so ist Alma ganz auf sich allein gestellt. Naja, nicht ganz, ihr Haushälter Pheko, ein Einbrecher und Luvo leisten ihr hin und wieder Gesellschaft. Doch als sie in ein Heim abgeschoben und das Haus verkauft werden soll, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und die Suche nach der einen entscheidenden Erinnerung...

"Jede Kassette an Almas Wand wird zu einem kleinen Feuer in der Dunkelheit. Luvo bewegt sich zwischen ihnen hin und her und erkundet nach und nach das Labyrinth ihrer Geschichte."

Dieses Buch hat mich auf eine sehr tiefgründige Art und Weise bewegt. Es sind die Bilder, die Anthony Doerr (und der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence) hier hervorruft. Die Vergänglichkeit und das Zurücklassen von Erinnerungen und Andenken, die für andere eher Krempel darstellen und ohne die zugehörige Person nutzlos erscheinen. Es ist das Bild, dass wir ohne Erinnerung eigentlich nichts wären, als eine nutzlose Hülle unserer selbst. Schon allein das im Einstieg abgedruckte Zitat von Luis Bunuel schließt die Klammer um dieses Buch und öffnet die Gedankenwelt. Der Spiegel spricht von einem Zauber, den das obsessive Erzählen erzeugt - für mich ist es mehr als das. Eine mitreißend, traurig, schöne Geschichte sowie ein Gedankenanstoß der Endlichkeit und das Erkennen des ungeahnten Glücks.

"Nichts bleibt [...] Dass etwas versteinert, ist ein Wunder. Die Chancen stehen eins zu fünfzig Millionen. Der Rest von uns? Wir verschwinden im Gras, in Käfern, in Würmern. In Lichtstreifen."