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Veröffentlicht am 08.03.2022

"Ende in Sicht" oder auch nicht? Von Rönnes sehr unterhaltsamer Roman am Rande einer Depression.

Ende in Sicht
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Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man ...

Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man sich da weiter quälen? Man könnte doch auch in Würde das Leben ausschleichen lassen und entsprechende Hilfe in Anspruch nehmen. In Deutschland ist Sterbehilfe nach wie vor eine Grauzone und strafbar, doch in der Schweiz gibt es unter gewissen Umständen auch hierfür Möglichkeiten. Und genau das hat sich die 69 jährige Hella Büttner in Ronja von Rönnes neusten Roman "Ende in Sicht" auch gedacht. Ihre Karriere als Schlagersängerin Hella Licht hat bereits vor Jahren einige Tiefpunkte hinnehmen müssen, es gab mehrere Schlagzeilen und nun wird sie nur noch selten für kleine Auftritte gebucht, aber wirklich kennen, tun sie die wenigsten. Auch ihr Privatleben hat seinen Glanz verloren, sodass sie beschloss dem ein Ende zu setzen. Sie hat sich durch einen Trick einen Termin in einem Schweizer Krankenhaus (ja, man muss es schon eher so sagen) ergaunert und macht sich nun mit ihrem alten, vollgemöhlten Passat auf den Weg.

"Hella war durchaus bewusst, dass eine Leitplanke definitiv keine sichere >Du kommst aus dem Gefängnis frei<-Karte war. Und im Gegensatz zu Leitplanken versprach die Schweiz einen deutlich glamouröseren Abgang." Und "Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren."

Doch wie das Leben so spielt, kommt alles anders. Und auch der Roman beginnt ganz anders als nun erwartet, denn zuerst lernen wir die 15 Jährige Juli kennen, die auf einer Autobahnbrücke steht und mit dem Gedanken spielt, zu springen. Juli leidet an Depressionen und hat schon lange genug von der Welt. Eigentlich sollte sie jetzt gerade mit ihren Mitschülern in einem Bus nach Prag sitzen, aber mit so einer vorgeschobenen akuten Halsentzündung geht das natürlich nicht. Auch ihren Vater hat sie ausgetrickst und so steht sie nun auf der Brücke und starrt auf die befahrene Autobahn unter ihr. Doch dann geht alles ganz schnell, zuerst fällt Juli das kleine, gestreifte Schneckenhaus, mit dem sie die ganze Zeit gespielt hat, aus den Händen und dann landet sie mitten auf der Fahrbahn - nicht tot, aber mit einigen Blessuren. Gerade in diesem Moment fährt auch Hella die Straße entlang, sieht Juli und hält an. Sie will ihr helfen bzw. eigentlich auch nicht, denn helfen und sich um andere zu kümmern war noch nie ihr Ding gewesen, aber es kommt wie es kommen sollte, ihr Handy ist tot und so bringt Hella die Jugendliche in ein Krankenhaus in der Nähe. Doch damit nicht genug... das Schicksal hat sie beide an ihrem Tiefpunkt zusammengeführt. Juli sucht sich zwar immer wieder neue Wege um weiter zu kommen, weiter weg von zuhause und vor allem weg von dieser senilen Alten, doch Hella macht es ihr dann nicht so einfach.

"Lange bevor ihr eine müde Schulpsychologin die Diagnose verkündete, wusste Juli, was Depressionen sind. Mental Health war in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig, irgendwie war ja jeder heutzutage mal depressiv und dagegen gab es Apps, Tabletten und ganz, ganz viel Verständnis. Dies war das 21. Jahrhundert, und noch nie hatte sich Juli [...] für ihre Diagnose geschämt."

Normalerweise sind Bücher über Depressionen und Tod ja nicht gerade die leichteste Kost. Oftmals sind sie sehr überrollend, anstrengend oder von tiefgreifenden, unzähligen Gedanken und umständlichsten Erklärungen durchzogen. Nicht hier, denn Ronja von Rönne nähert sich dem Thema mit einer schicksalhaften Begegnung und zeichnet eher ein 'Drumherum'-Bild mit viel Witz, flapsigen Kommentaren, einer wilden 'Erlebnisfahrt' und zweier sehr unterschiedlichen Ansichten und Lebenssituationen. Von der Grundidee könnte man dieses Buch wahrscheinlich mit Lucy Frickes "Töchter" vergleichen - eine ähnliche Fahrt, ein ähnliches Ziel und doch kommt am Ende alles ganz anders und die Protagonistinnen erleben noch sehr viel mehr, als diese letzte Autofahrt. Nur der Schreibstil unterscheidet sich enorm, beinahe ist dieses Buch mehr eine Art Nebenbeiunterhaltung.
"Ende in Sicht" ist eine unterhaltsame Geschichte, rund um sehr ernste Themen - Depression, Krankheit, Therapien und begleitetes Sterben. Dennoch muss man sagen, dass von Rönne sich bis zum Ende recht oberflächlich an diesen Themen abarbeitet, was vielleicht aber auch ganz gut ist, denn so drängt sie den Leser
innen weder eine Schablone auf, noch gibt sie Tipps, wie man als Betroffener oder Angehöriger damit umgehen soll. Sie zeigt mehr, wie es ist und was es heißt depressiv zu sein und/oder genug von der Welt zu haben und trotz vieler skurriler, toller, aufregender Momente sich an nichts erfreuen zu können und immer wieder in einem Loch zu sitzen. Gerade ihre Protagonistin Juli ist sich dem bewusst, wird von der tüddeligen Seniorin mit komischen Vorurteilen beladen, aber bleibt bis zum Ende hin auch in ihrer 'Rolle'. Es gibt keine Wunderheilung. Juli macht sich über ihr Gemüt zwar Gedanken, eckt mit Hella einige Male an, aber damit hat es sich dann auch... und gerade diesen Anstoß/diese Herangehensweise finde ich toll, denn Depressionen kann man nicht so einfach erklären - sie sind sehr vielfältig und haben unterschiedlichste Ursachen.

"Sie wusste sehr wohl, wie Schriftsteller, Künstler, Tik-Toker und Wikipedia Depressionen beschrieben: als würde das Leben plötzlich >an Farbe verlieren< und der Alltag >immer grauer< werden. Doch für sie war es viel schlimmer. Es war bunt und leuchtete in allen Farben, nichts war grau [...] Aber wenn Juli dann abends im Bett lag [...], waren all diese Farben gleichermaßen schal und deprimierend."

Ronja von Rönne schafft es scheinbar mühelos, sehr unterhaltsam und mit einer Menge Charme zwei komplett unterschiedliche, in ihren Welten 'gefangene' Menschen aufeinanderprallen zu lassen und ernste Themen aufzugreifen, ohne zu verurteilen oder zu bewerten. Insgesamt ist es zwar eine sehr wilde Fahrt, voller skurriler Momente und Einfälle, die man nun toll oder für sehr weit hergeholt halten kann, aber es ist eben ein sehr junges, "unangemessen komisches" und verrücktes Buch. Das Hörbuch wurde von Ronja von Rönne selbst eingelesen - normalerweise finde ich das immer etwas schwierig, da nicht jede Stimme unbedingt für ein Hörbuch geeignet ist, aber hier gibt RvR ihrem Text noch einmal eine gewisse Ruhe, aber auch Schwere, ein wenig Denkspielraum und ich fand es sehr toll gelesen... so ist es dann insgesamt auch ein kleines, kurzes Lese- und Hörvergnügen, das Einzige was mich nun vielleicht gestört hat, war der Epilog, denn für mich war die Geschichte bereits mit einem offeneren Ende abgeschlossen und dann kam da eben zack noch eine Wendung, ein Happy End und ein komisches Ende. Hach, weiß nicht, aber ja so glückliche Enden in Sichtweite sind vielleicht auch ganz schön.

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Veröffentlicht am 08.03.2022

ein beeindruckendes Schauspiel aus Flammen, Kunst und dem erdrückenden Selbst

Die Feuer
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Während in Australien die Temperaturen unaufhörlich steigen und die Buschbrände in den Bergen immer weiter vorrücken, scheint im Theater in Melbourne noch kühle Normalität zu herrschen. Zahlreich sind ...

Während in Australien die Temperaturen unaufhörlich steigen und die Buschbrände in den Bergen immer weiter vorrücken, scheint im Theater in Melbourne noch kühle Normalität zu herrschen. Zahlreich sind die Menschen gekommen um die Aufführung von Samuel Becketts Stück "Glückliche Tage" anzuschauen. Winnie, "[d]ie Frau ist in einer grellen, eindeutig brutalen und schroffen Landschaft gefangen, doch ihre einzige Angst ist es, ihr Mann könnte sie nicht sehen." - Sie sehen, wie sie langsam von einem stetig wachsenden Erdhügel verschluckt wird und Tag ein, Tag aus ihre Habseligkeiten in einem Beutel ordnet, während Willie seit einiger Zeit wieder im Freien ist und sich scheinbar nicht einen Hauch an ihrer misslichen Lage stört. Doch Winnie sorgt sich, nicht mal um sich selbst, sondern um ihn und häuft immer weitere Sorgen an.
Wahrscheinlich könnte man sich mit dieser Szene nun ewig auseinandersetzen, dabei ist es nicht mal die 'Hauptfigur' in Claire Thomas Roman "Die Feuer", es ist mehr das Skelett , das den Geschichten und Gedanken dreier Frauen Halt gibt und sie miteinander vereint. Margot, die Literaturprofessorin, hadert schon lange mit ihrer Ehe mit dem dementen John, der immer wieder wild um sich schlägt. Ivy, erlebt immer wieder ihr Trauma vom plötzlichen Kindstod ihres Erstgeborenen. Und die zweiundzwanzigjährige Summer, die Schauspielschülerin und Platzanweiserin im Theater, kämpft mit ihrer Angststörung und den Gedanken über ihre Herkunft, die Umwelt und ihre Freundin, die sich den aufbausenden Feuer entgegenstellt. Sie alle scheinen, so wie Winnie, irgendwie festzustecken in ihren Sorgen und Gedanken, Ängsten und in ihren zugeteilten Rollen innerhalb ihrer Beziehungen und der Gesellschaft. Doch die Pause des Stücks, in der die drei Frauen aufeinander treffen und das anknüpfende, unausweichliche Schicksal Winnies im zweiten Akt setzen so einiges in Bewegung.

"Auf der Bühne versucht Winnie jetzt, die Grenzen ihrer Realität zu erfassen. Was sie von der Außenwelt wahrnimmt und was von ihrem Innenleben.
Ich höre natürlich Schreie. Aber sie sind wohl in meinem Kopf."

Um so mehr ich über diesen Roman, die einzelnen Geschichten der Frauen, die gesellschaftlich vorgegebene Rolle der Frau und das stetig voranschreitende und sich immer wieder ins Gedächtnis rufende Theaterstück nachdenke, umso begeisterter bin ich von diesem Buch. Claire Thomas schafft es in der Übersetzung von Eva Bonné mühelos die Grenzen zwischen Schauspielkunst, gesellschaftlichen Herausforderungen der heutigen Zeit und den intimsten Gedanken, zugleich die tief verankerten Ängste und Sorgen ihrer Protagonistinnen aufzuhebeln. Und das literarisch so fein, kreativ und welteneröffenend...wow. Ich mag die Darstellung der Beziehungen und Begegnungen auf vielerlei Ebenen, sowie deren Einfluss auf jeden selbst wahnsinnig gern. Der nach außen hin aufrecht erhaltene Schein, die Rollen in die jeder im Laufe seinesihres Lebens geschlüpft ist, die bröckelnde Fassade und das ständige eigene Hinterfragen. Ich mag die sich ergänzenden Einblicke in diese ganz verschiedenen Leben und Gedankenwelten. Das Spiel zwischen Frau und Mann - auf der Bühne und ganz privat. Und ich mag das sich schnell manifestierende Gefühl mit den Protagonistinnen zusammen im Publikum zu sitzen, von den Menschen drum rum genervt zu sein, sich ständig unangenehm beobachtet zu fühlen und zeitgleich andere zu beobachten, und diesem absurden Stück zu folgen, Elemente wahrzunehmen, abzudriften, wieder aufzuwachen und präsent zu sein.

"Winnies Hügel wird sich nicht bewegen, selbst wenn das richtige Gerät im richtigen Winkel mit dem richtigen Druck und für die richtige Dauer angesetzt würde. Niemand wird sie retten oder freilegen. Sie steckt in der Erde fest, und je früher wir alle das einsehen, desto besser. Genau."

Aufgeteilt ist dieser Roman grob in drei Teile - zwei Akte mit je wechselnden Ausschnitten aus der Gedanken und Szenenbeschreibungen der drei Frauen und einer Pause, die einem Textbuch eines Theaterstücks gleicht und dem Ganzen nicht nur eine Auflockerung, sondern auch eine neue Wendung gibt.
Alles in allem kann ich sagen, dieses Buch hat was mit mir gemacht. Die Geschichte hat mich emotional zwar nicht überrollt, aber schon nach wenigen Seiten war ich so gebannt, so fasziniert und begeistert, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollte. Und auch noch im Nachhinein hänge ich ihm hinterher, denke über sehr viele Gegebenheiten nach, über die Menschheit, das Offensichtliche und doch Unsichtbare und irgendwie frage ich mich die ganze Zeit, wie hätte diese Geschichte wohl aus der Perspektive ihrer Partner*innen gewirkt? Was würden sie machen? Wie sich erklären? Würden sie das Leid und die Sorgen ihrer Geliebten wirklich nicht wahrnehmen? Und wie sähe ihr Weltbild aus? Wobei... will man das dann wirklich wissen?
Für mich ist "Die Feuer" jedenfalls ein großes Highlight, an das ich sicherlich noch sehr lange denken werde und für dessen Tiefe und Offenheit ich sehr dankbar bin.

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Veröffentlicht am 08.03.2022

"Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße", wobei...

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Was macht einen Menschen zu einem Helden? Mut? Kraft? Überzeugungsfähigkeit? Unendlicher Einsatzwillen für andere? Eine überraschend große, gute Tat? Gerade in diesen wilden Zeiten könnten wir wahrscheinlich ...

Was macht einen Menschen zu einem Helden? Mut? Kraft? Überzeugungsfähigkeit? Unendlicher Einsatzwillen für andere? Eine überraschend große, gute Tat? Gerade in diesen wilden Zeiten könnten wir wahrscheinlich so einige davon gebrauchen. Und rückblickend? So wirkliche Helden, gab es da überhaupt welche oder sind es meistens nur fragwürdige Zuschreibungen? Eine Ärztin könnte eine Heldin sein oder ein Polizist? Wie ist es mit der Regierung, die die Menschen eint? Oder der Erfinder des Lichts? Wer erhebt eigentlich jemanden zu einem Helden oder einer Heldin? Irgendwie ist es dann ja doch immer sehr subjektiv und nur selten passiert etwas so erstaunliches, dass weltweit von einer Person berichtet wird, die dieses oder jenes getan hat und hunderte Menschen rettete. Und manchmal hat eine Handlung ja auch so ganz unbewusst, große Folgen...

"Dann dieser Hartung, ein wortkarger, bescheidener Typ, ein einfacher Mann aus dem Volk, der völlig uneigennützig seine Existenz riskiert hatte, für die Freiheit der anderen." "Es war eine der größten und spektakulärsten Fluchten in der Geschichte der DDR. Bisher kannte niemand die Akteure und die Hintergründe. Jetzt habe ich den Mann gefunden, der alles geplant und durchgeführt hat."

In "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" von Maxim Leo kämpft sich anlässlich des 30jährigen Jubiläums des Mauerfalls ein Journalist durch die Archive der Stasi. Irgendwo muss doch noch eine unverbrauchte Geschichte, wenn nicht sogar eine echte Heldentat, zu finden sein. Bingo! Bei seiner Suche stößt er auf Michael Hartung, der vor 45 Jahren am Bahnhof Friedrichstraße mittels eines gewaltsam abgebrochenen Bolzens eine Weiche blockierte und damit eine S-Bahn in den Westen schickte. Laut Akten soll er so am 12. Juli 1983 127 Menschen zur Flucht verholfen haben. Hartung landete daraufhin als Strippenzieher und Hauptverdächtiger im Gefängnis, wurde psychisch gefoltert und anschließend in ein kleines sächsisches Dorf an der Spree versetzt. Dieses für die Regierung höchst peinliche Unterfangen sollte damals unter allen Umständen vertuscht werden. Hartung ist ein Held! Eindeutig. Doch da hat der Journalist ihn noch nicht getroffen. Hartung, nun Besitzer einer Videothek, ist eher ein ruhiger Geselle, trinkt gerne das ein oder andere Bier, vergräbt sich in seinem Laden und schaut gerne Filme, Zeit hat er ja, denn es verirrt sich nur selten jemand in sein kleines Reich. Und noch nie ist in seinem Leben alles glatt gelaufen, alles scheiterte früher oder später und nun sitzt er hier, unscheinbar hinter seinem Tresen, bis die Presse sich auf ihn stürzt, er zahlreiche Titel ziert, weitere Kooperationen, Interviews und Anfragen bei ihm eintrudeln und er von heute auf morgen der Held einer ganzen Nation wird. Selbst die Regierung wird auf ihn aufmerksam. Hartung ein Held. Doch was ist, wenn das alles nur ein großer Zufall gewesen ist?

"Du bist auf der Titelseite, Papa! Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße. Warum hast du mir nie davon erzählt? Ich meine, diese ganzen Menschen, die du hinausgeschmuggelt hast. [...] Sei nicht so bescheiden, Papa. Das steht übrigens auch in dem Artikel, dass du so still und zurückhaltend bist. Aber vermutlich konntest du deinen Plan auch nur deshalb so lange geheim halten, oder? [...] Das hat mich am meisten beeindruckt [...] Ich dachte immer, du wärst ganz anders."


Nach seinen sehr persönlichen und auf die eigene Familiengeschichte blickenden Romane hatte ich mich schon lange auf das nächste Buch Leos gefreut, doch mit "Der Held von Bahnhof Friedrichstraße" konnte er mich wirklich nicht begeistern. Die Grundidee der Geschichte, dass ein Mensch eher zufällig ein Held wird und durch eine unscheinbare Tat etwas in Bewegung setzt, hunderte Menschen rettet oder in diesem Fall eben zur Flucht verhilft, fand ich sehr toll und spannend. Und da Leo selbst in der DDR aufgewachsen ist, habe ich hier wieder so einen ähnlich berührenden und mitreißenden Roman erwartet, aber genau das ist es nicht. Ehrlich gesagt finde ich diesen Roman sogar sehr bescheiden, denn was hier deutlich und ausführlichst beschrieben wird, sind die Vorurteile, die gegenüber den Menschen aus der ehemaligen DDR und den 'neuen' Bundesländern vorhanden sind. Aussagen wie "Ihr Ostler seid nie zufrieden [...] erst interessiert man sich zu wenig für euch, dann ist es auch gleich wieder zu viel. Erst jammert ihr über das fehlende Geld, dann soll es aber auch nicht zu wichtig werden", "Nur Scherereien mit den Ossis...", "Seit 30 Jahren lebten sie nun zusammen in diesem Land, aber wenn es drauf ankam, dann standen die Ossis eher zu Putin als zur westlichen Wertegemeinschaft.", weitere Gedanken, einer Mitarbeiterin des Bundes, dass das alte Europa, ohne die ganzen Oststaaten besser gewesen wäre, oder Meinungen wie "...wenn sie schon ihr Land verloren hatten, wollten sie wenigstens ihren Streuselkuchen behalten." finde ich höchst kritisch und dazu noch dieser als sehr faul, trottelig dargestellte, sich in Lügen verstrickende und in seinem eigenen Mitleid versinkende Protagonist... puh. Auch die Zuschreibungen, dass russlanddeutsche kriminell sind, Geldwäsche betreiben und Spaß an Reiterspielen mit tätowierten Blondinen haben, finde ich so klischeehafte, wenn nicht sogar in dieser Fülle an Aussagen klischeeverstärkend. Und am Ende (so, als sei das alles noch nicht genug) fragt man sich dann wirklich, welche Aussage, außer eben jener, dass Ostdeutsche faul, naiv, irgendwie auch ehrlich und sehr wehleidig sind, dieser Roman haben soll. Es passiert viel, ein bisschen Liebe, ein bisschen Bedrohung, Lüge, ein großer Zufall auf mehreren Ebenen und ein Journalist, der eine große 'Story' entdeckt. Das alles sehr locker, leicht lesbar und wahrscheinlich auch zum Teil unterhaltsam aneinandergereiht, aber das war es dann irgendwie auch. Ich bin von diesem Roman irgendwie sehr enttäuscht und fühle mich sogar ein Stück weit angegriffen.
Dieses Mal also keine explizite Empfehlung von mir... lest lieber den Roman "Wo wir zuhause sind", in dem Leo von seiner Familiengeschichte, der Flucht und Zerstreuung während der NS-Zeit berichtet, aber auch sehr intensiv die einzelnen Erfahrungen seiner Verwandten nacherzählt.

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Veröffentlicht am 24.01.2022

eine wahnsinnig bewegende Geschichte - mein Highlight 2021

Shuggie Bain
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Wenn man mich nach meinen Lieblingsbüchern des letzten Jahres fragen würde, wäre "Shuggie Bain" von Douglas Stuart (in der Übersetzung von Sophie Zeitz) eins der ersten, die mir da in den Sinn kommen. ...

Wenn man mich nach meinen Lieblingsbüchern des letzten Jahres fragen würde, wäre "Shuggie Bain" von Douglas Stuart (in der Übersetzung von Sophie Zeitz) eins der ersten, die mir da in den Sinn kommen. Dieses Buch enthält so eine besondere, wahnsinnig intensive und tragische Geschichte und hat mich gedanklich wirklich sehr lange beschäftigt. Teils von der Härte seiner eigenen Vergangenheit inspiriert, hat Douglas Stuart einen Debütroman geschrieben, in der er das tragische Schicksal einer Familie aufgreift, die im Laufe der Zeit durch die Alkoholsucht der Mutter nahezu in den Ruin getrieben wird. Agnes wurde von den Männern in ihrem Leben verlassen, gebrochen und in die Abhängigkeit getrieben. Ihr Sohn Shuggie erzählt hier von seinem Leben, seinen tragischen Erlebnissen; er erzählt vom einstigen Stolz der Mutter, ihrem Umzug der Familie von Glasgow in eine abgehängte Arbeitersiedlung nach Pithead, dem weiteren Absturz und dessen Folgen.

"Wenn Shuggie sie jetzt trinken sah, wusste er, dass sie es nicht tat, um sich zu amüsieren. Sie trank, um sich zu vergessen, weil sie keinen anderen Weg kannte, um den Schmerz und die Einsamkeit loszuwerden."

Wahrscheinlich wiederhole ich mich nun zum zigsten Male, aber diese Geschichte um Shuggie und seine Geschwister, seine Mutter Agnes, ihr langsamer sozialer Abstieg, seine rührende Naivität und die eigenen Probleme mit sich und seinem Umfeld, sowie diese tiefe Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn, die Hilflosigkeit und diese emotionale Schilderung lässt einfach niemanden kalt. Es ist ein Roman, der die Leser:innen in seinem Ganzen und auf unterschiedlichsten Ebenen fordert, berührt und sie bedröppelt, aber auch fassungslos zurücklässt. Diese gnadenlose Porträt einer Familie, in dem der Sohn bis zum Schluss für seine Mutter kämpft und irgendwann doch einsehen muss, dass er nichts mehr für sie tun kann, ist einfach krass. Doch das Schlimmste an dieser Geschichte ist nicht mal das Ende und auch nicht 'der Weg' dort hin, es ist das verdammte, gute Jahr - ein Jahr hat es seine Mutter geschafft trocken zu bleiben und es war wahrscheinlich die schönste Zeit in Shuggies jungem Leben, aber dann... nun ja.

"Shuggie wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nicht so tun, als wäre es okay, mit Mädchenspielzeug zu spielen oder die schmutzigen Teile von Jungs in der Oberschule anzufassen. Er wollte nicht wie das Limonadenmädchen sein. Er wollte nicht wie Agnes sein. Er wollte normal sein."

Eine große, bewegende Geschichte und eine noch größere Leseempfehlung von mir!

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Veröffentlicht am 17.01.2022

Die Geschichten der unendlich vielen Davids – Hanya Yanagiharas “Zum Paradies”

Zum Paradies
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Ich kann zum Glück sagen, dass ich an dieses Buch recht unvoreingenommen herantreten konnte, schließlich kenne ich bis auf meine Erwartungshaltung gegenüber den Vorgängerromanen noch nichts von der Autorin ...

Ich kann zum Glück sagen, dass ich an dieses Buch recht unvoreingenommen herantreten konnte, schließlich kenne ich bis auf meine Erwartungshaltung gegenüber den Vorgängerromanen noch nichts von der Autorin und bin daher auch weniger enttäuscht, denn was sich auf dem Weg zum Paradies für ein Schauspiel bot… Oha. Die erste Geschichte rund um die Liebe eines jungen Mannes, fand ich ja anfangs noch ganz nett. Ich stieß mich zwar hier und da an so zeitlichen Gegebenheiten (zumindest kann ich mir es nicht vorstellen, dass damals in Freistaaten die Ehe zwischen zwei Männern akzeptiert wurde und so häufig vorkam), aber das war noch okay, bis sich der wohlhabende David dann plötzlich in den mittellosen Musiklehrer verliebte, es natürlich gleich das große Glück werden sollte, nur die Familie sich dagegenstellt und ihm dann sein Erbe entziehen will. Klischeekitsch hoch zehn… kann man mögen, will man aber eigentlich nicht. In der zweiten Geschichte geht es dann um einen reichen, älteren Mann und einen jungen Hawaiianer, einen Freund, eine Aids-Leidensgeschichte und ein Geheimnis. Ja… lass ich so stehen, das habe ich Großteils überflogen, denn das Mimimi, dieses tiefe Leiden, dieses erneute Reich-Arm-Ding, das war mir alles zu viel, zu nervig, zu nichtssagend. Und dann gibt es da natürlich noch die große, neue Welt mit einer Gesellschaft, die durch die ständigen Pandemien sehr gespalten wurde, eine Ehe zwischen einer Frau und einem homosexuellen Mann, eine weitere homosexuelle Liebe, die sich auch wieder weiteren Herausforderungen stellen muss und viel Pandemie- und Verschwörungskram – so als bräuchte man gerade in dieser Zeit noch mehr davon. Im Vergleich ist dies wahrscheinlich die stärkste Geschichte und doch war ich zunehmend genervter. Die zwei Handlungsstränge, die sich im Laufe der Zeit aufeinander zu bewegen und am Ende sehr vieles erklären sollen… Das war dann auch der einzige Grund warum ich überhaupt dran geblieben bin und doch habe ich In diesem Abschnitt ganze 200 Seiten übersprungen und hatte nicht das Gefühl irgendetwas verpasst zu haben und das abschließende Ende? Nun ja.
Keine der Protagonistinnen (ja, es gibt auch zwei Protagonistinnen und noch so ein paar weitere Randfiguren) hat mich berührt, in seine/ihre Gedankenwelt eintauchen lassen, alles blieb sehr klischeehaft und oberflächlich oder echte Emotionen wurden vom Gejammere übertüncht, interessante Dinge sehr kurz gehalten und dass die Protagonistinnen in jeder Geschichte die gleichen Namen trugen, sorgte für ein großes Verwirrspiel. Und so bleibt am Ende dann auch einzig die Idee des Stadthauses, die wiederkehrenden Motive in verschiedensten Ausprägungen, offene Enden über die man ewig diskutieren könnte und die schon sehr tolle historische Atmosphäre im ersten Teil als ‘schöne Elemente’ übrig. Vom angepriesenen “Der neue Roman von Hanya Yanaghara ist eine Aufforderung, eine Zumutung, ein Meisterwerk menschlicher Gefühle.” leider keine Spur, wobei doch, eine Zumutung ist es dann schon… leider.
Ob ich nun die Vorgängerromane demnächst noch lesen werde oder sie weiterhin vor mir herschiebe, bis ich dieses hier alles vergessen habe… ich weiß es nicht, aber eins steht fest Zum Paradies möchte ich nicht.

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