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Veröffentlicht am 12.05.2022

Mein zweiter Versuch einer "Zusammenkunft"

Zusammenkunft
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Vor einer Weile habe ich schon einmal Natasha Browns "Assembly" begonnen zu lesen, aber irgendwie packte mich dieser Roman so gar nicht. Zu sehr störte mich das Fragmentarische, die Sprünge zwischen einzelnen ...

Vor einer Weile habe ich schon einmal Natasha Browns "Assembly" begonnen zu lesen, aber irgendwie packte mich dieser Roman so gar nicht. Zu sehr störte mich das Fragmentarische, die Sprünge zwischen einzelnen Themen und Szenen und ich verlor schnell das Interesse. Und das eigentlich gar nicht mal aufgrund des Inhalts, denn Natasha Brown zeigt hier sehr eindrucksvoll, welchen Herausforderungen sich PoC in der heutigen Zeit stellen müssen, wie sie stets beäugt, befragt, rassistisch angegangen werden. Aber ich konnte einfach keine Nähe zur Protagonistin aufbauen und vieles plätscherte dann nur dahin, verwirrte mich und meine Englischkenntnisse stießen an ihre Grenzen (zumindest dachte ich das). Daher war ich nun auch ganz froh, dass . "Assembly" vor einer Weile auf Deutsch in der Übersetzung von Jackie Thomae erschienen ist und so wollte ich "Zusammenkunft" eine erneute Chance geben, und mich dem Leben der Protagonistin nähern. Diese nimmt die Leserinnen mit in ihren Alltag, zwischen Arbeit, Familie, Aufopferung, Aufstieg und tief verankertem Fallen. Die toxische Vergangenheit, Rassismus, Anfeindungen, Abwertungen holen viele PoC und auch sie ständig ein. Und dann sehen sie sich, neben all ihren anderen Problemen, ständig damit konfrontiert. Es ist ein Roman zwischen Aufklärung und bekanntem Schubladendenken, der deutlich die Unterschiede zwischen Klassen, Arbeit, Werten, Geschlechtern, Herkunft und Besitz darstellt. Und das, obwohl wir Menschen ja alle immer so tolerant und weltoffen sind. Das ist teilweise schon sehr bedrückend und erschreckend.
Was heißt es dazuzugehören und gefühlt doch nicht dazugehören, nie so akzeptiert zu sein wie 'die anderen'... man mag es sich gar nicht so genau vorstellen und doch erleben das tagtäglich viel zu viele Menschen in der Welt und eben auch die Protagonistin in England.

"Ich habe mein Leben immer nach dem Prinzip gelebt, dass ich, wann immer mir ein Problem begegnet, dann arbeiten muss, eine Handlung zu finden, um es zu überwinden; oder Platz dafür zu schaffen; oder einen Weg außen herum zu schlagen; oder sogar den Boden darunter abzutragen. So wurde ich aufs Leben vorbereitet. So bereiten wir uns selbst vor, das bringen wir unseren Kindern bei, um an diesen Ort heranzugehen, an dem Hindernis auf Hindernis folgt. Arbeite doppelt so hart. Sei doppelt so gut. Und immer, pass dich an."

Dieses Buch ist voll von Augenöffnern, erschreckenden Aussagen oder auch Begegnungen. Also dafür schätze ich diesen Roman wirklich sehr und ich habe mal wieder die Lage der PoC in dieser weißgeprägten Welt kennenlernen müssen, verstanden, aktiv durchdacht und hoffe nun sensibler an eben jene Themen heranzutreten. Es ist ein erschreckender Spiegel und doch wünschte ich mir für einen Roman, dass alles zusammenhängender, packender und wahrscheinlich auch durchrüttelnder erzählt werden würde. Ich hadere, es ist keine wirkliche Leseempfehlung von mir und doch würde ich sagen, dass es ein wichtiges Buch ist, dass man als Weiße
r mal gelesen haben sollte. Doch, doch.

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Veröffentlicht am 02.05.2022

Eine flüchtige Begegnung mit tiefgreifenden Folgen...

Das Vorkommnis
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Manchmal können Begegnungen eine ganze Reihe an Handlungen, Gedanken, wenn nicht sogar Veränderungen herbeiführen. Dabei ist es fast egal, ob man sich mit jemanden verabredet hat, sich eher zufällig über ...

Manchmal können Begegnungen eine ganze Reihe an Handlungen, Gedanken, wenn nicht sogar Veränderungen herbeiführen. Dabei ist es fast egal, ob man sich mit jemanden verabredet hat, sich eher zufällig über den Weg läuft oder sich mit Unvorhersehbarem auseinandersetzen muss, alles zieht seine Kreise und führt zu einem kleinen Wandel in uns und häufig kehren wir gedanklich immer wieder zu diesem Ausgangspunkt zurück - sei es aufgrund von Wut, Aufregung, Euphorie, Unverständnis...
Das ist dann ungefähr auch das, was der Autorin Julia Schoch passiert ist. Auf einer Lesung in Lübeck (zumindest deutet sehr viel darauf hin, dass es sich um diese Stadt handelt) machte sie die Bekanntschaft mit einer Frau, die zu ihr nach einer Lesung, fast schon nebenbei, sagte: "Wir haben übrigens denselben Vater." Einerseits im Schockzustand, andererseits emotional aufgewühlt fiel sie der fremden Frau sofort um den Hals. Was weiter geschehen ist, oder was weiter zwischen den beiden Frauen besprochen wurde, erfahren wir nicht, nur, dass dieses Ereignis noch sehr lange die Gedankenwelt der Autorin im Griff haben wird und dass dieses Aufeinandertreffen Ausgangspunkt für den ersten Roman ihrer dreiteiligen Biographie einer Frau sein wird. "Das Vorkommnis" von Julia Schoch behandelt nun die Gedankenwelt einer Frau, die sich plötzlich mit einer Halbschwester auseinandersetzen muss und sich mit Fragen konfrontiert sieht, die viel weiter reichen und sich tief aufs eigene familiäre Gefüge, die Vergangenheit und das sich nun irgendwie veränderte Leben beziehen.

"Was meinen Fall anging, so hatte ich keine Todesnachricht erhalten. Bei mir handelte es sich um Zuwachs, nicht um einen schrecklichen Verlust. Trotzdem war es eine Art Verschiebung. Etwas an dem gewohnten Bild stimmte nicht mehr."

Als Leserin begleitet man die Autorin nun durch ihren Alltag, sie versucht das Geschehene zu vergessen, aber das Treffen mit der Unbekannten lässt sie einfach nicht mehr los und stellt alles infrage. Selbst wie genau sich das Treffen ereignete, warum sie der Fremden sofort glaubte, ihr um den Hals fiel, weiß sie nicht mehr so richtig. Wie ist das eigentlich mit der Erinnerung? Was ist mit ihrer Familie geschehen? Und muss man die Frau nun auch über den Zustand des Vaters informieren? Welche Beziehung haben sie nun eigentlich zueinander? Der Gedankenstrudel treibt sie immer weiter und führt sie zeitgleich immer wieder zum Treffen zurück; zum Vorkommnis. Und so beschäftigt sie sich auch mit der Wahrheit, der Ehe, Mutterschaft, philosophiert über das Leben, Familiengeheimnisse, Adoption. Zwischenzeitlich reicht es sogar so weit, dass sie denkt: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Das ist nur die Geschichte meiner Verwirrung." Und das führt alles irgendwie dazu, dass sie die Frau noch einmal sehen muss, sie treffen muss, um zu verstehen, um sie in ihrem 'neuen' Leben aufzunehmen, zu reflektieren und irgendwie auch wieder zur Ruhe zu finden.
"Damals wünschte ich, ich würde einen Roman über all das schreiben. In einen Roman konnte ein Satz stehen wie: Die Wochen vergingen, der Sommer kam, und X vergaß die Begegnung mit der Frau im Dezember. Ich sehnte mich nach einem Stoff, dem ich mich spielerisch nähern konnte. Ich wollte mich ein wenig austoben, mehr nicht."

Und irgendwie ist ihr das Spielerische mit diesem Buch auch gelungen, allerdings mehr auf persönlicher und gedanklicher Ebene als erwartet. Und auch wenn für mich der Ausgangspunkt dieser Biographie und die daraus resultierenden Gedanken äußerst interessant und nachvollziehbar waren, so hatte ich auch einige Probleme damit. Julia Schoch nimmt ihre Leser
innen mit in ihre Vergangenheit, erzählt von wirren, beinahe schon Hineinsteigerungen und findet schlussendlich wieder dahin zurück, wo alles begann. Das Zusammentreffen ist quasi die Klammer ihrer Erinnerung und Lebensrückblicke, die innerhalb dieses Romans mit Zweifel an einigen Einschätzungen konfrontiert werden und alles erneut infrage stellen. Gerade das Vertrauensgefüge zum Vater scheint zu bröckeln, die Liebe zu Mann und Kindern, sowie der Blick auf die Welt bzw. ihre Erinnerung steht im Fokus ihrer Betrachtungen. Daraus entstand eine sehr reflektierte Auseinandersetzung mit sich und der Welt und eben jenen Folgen des Zusammentreffens, das sie auch noch Jahre später beschäftigt.
Dennoch muss ich sagen, dass gerade die Abfolge vom Zusammentreffen, gedanklichen Folgen, Rückblick, Beziehung hin zu weiteren Gedanken über das Zusammentreffen, für mich am Ende dann doch recht konstruiert schienen. Auch die Übergänge fand ich nicht gerade schön, aber das ist dann womöglich auch eine Geschmacksfrage. Fragen... da haben wir es wieder. Fragen, philosophische Auseinandersetzungen und Deutungen des eigenen Handels mag ich sehr, aber irgendwie habe ich in diesem ersten Teil keine wirkliche Antwort auf irgendwas gefunden, ich könnte nicht mal sagen, dass mir vieles in Erinnerung geblieben ist, aber die Frage wie man selbst auf so etwas reagieren würde, was an Julia Schochs Gedanken nun überzogen, was ähnlich ist, das hat mich recht lange beschäftigt. Ich bin mal gespannt, ob und wann mir der nächste Teil in die Hände fällt und ob ich weiteres lesen möchte, denn einerseits interessiert es mich nun sehr, wie die Autorin weiter vorgehen wird mit ihrer Biografie einer Frau, andererseits denke ich, dass mir grade diese autofiktionale, schon eher sachliche Auseinandersetzung mit dem lebensverändernden Ereignis (irgendwie auch ein sehr beliebtes 'Ding' in der Literatur) doch auch gereicht hat.


"Dann aber wurde mir klar, dass ich schon vieles nicht mehr wusste, ja an bestimmte Dinge hatte ich mich schon am nächsten Tag kaum mehr erinnert. [...] Andere, scheinbar unwesentliche Details hingegen sind mir bis heute sehr genau im Gedächtnis. [...] Vor allem scheint sich erst jetzt, mit dem Abstand von Jahren, in großer Klarheit zu zeigen, wie Dinge, die in den Monaten und Jahren danach passiert sind, miteinander zusammenzuhängen. [...] Es waren Monate und Jahre, in denen sich alles zu verändern schien, meine Sicht auf die Welt, die Liebe, auf meinen Mann und meine Kinder."

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Wenn das Leben plötzlich ein anderes ist... "Erschütterung" von Percival Everett

Erschütterung
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Roman | Wenn das Leben plötzlich ein anderes ist... "Erschütterung" von Percival Everett

Dem Gefühl, was es heißt, das eigene Kind an eine ausbrechende Krankheit zu verlieren, es plötzlich aufgrund eines ...

Roman | Wenn das Leben plötzlich ein anderes ist... "Erschütterung" von Percival Everett

Dem Gefühl, was es heißt, das eigene Kind an eine ausbrechende Krankheit zu verlieren, es plötzlich aufgrund eines genetischen Fehlers in den Tod begleiten, und als Elternteil irgendwie weitermachen zu müssen, geht Percival Everett in seinem Roman "Erschütterung" nach. Und das ist es dann auch im wahrsten Sinne des Wortes, eine Erschütterung, die die Protagonisten aufs Tiefste trifft, sich verlieren und erneut zusammenfinden lässt.

"Wie bringt man seiner Tochter bei, dass sie nicht nur jung sterben, sondern sich auf dem Weg zu ihrem Ende im Grunde auflösen wird? Sagt ein Vater das seiner Tochter? Ich sah Meg an. Ich fragte mich, ob sie imstande sein würde, ihrer Tochter, meiner Tochter, unserer Tochter das zu sagen."

Zach Wells, Geologe und Paläobiologe, sowie Professor an der Universität ist nicht gerade der empathischste Mensch der Welt, die Beziehung zu seiner Frau Meg scheint schon so ein bisschen eingeschlafen zu sein und auch im Kontakt zu seinen Mitprofessorinnen und Studentinnen ist er nicht immer ganz so einfach, eher ruppig. Zach ist durch und durch Wissenschaftler, begeistert sich viel mehr für Daten, Fossilien und Gesteinsformationen als fürs Zwischenmenschliche. Einzig seine zwölfjährige Tochter Sarah ist so ein Lichtblick in seinem Leben mit der er unglaublich gerne Zeit verbringt, sie in die Natur begleitet oder seine Schachleidenschaft teilt. Doch eines Tages gibt es böse Vorzeichen. Sarah kann nur eingeschränkt sehen, ihr Auge/Gehirn blendet (manchmal) gewisse Bereiche einfach aus. Es folgen einige Besuche beim Optiker und Augenarzt, aber auch die bringen nur wenig Klarheit, sie werden weitergeschickt, bis dann die Diagnose Batten-Syndrom - eine unheilbare genetische Mutation, die zur Demenz führt und dann unweigerlich auch zum Tod - im Raum schwebt. Für Meg und Zach bricht eine Welt zusammen und sie sehen sich mit einer neuen, schlagartig einbrechenden und sich dramatisch verschlimmernden Herausforderung konfrontiert. Wie kann man die Erkrankung der eigenen Tochter, das Vergessen und die mehr und mehr den Alltag beeinflussenden Anfälle ertragen? Zach versucht allem zu entfliehen, mehr Zeit auf dem Campus zu verbringen, die Schuld bei anderen zu suchen und einen Ausgleich zu all dem zu finden. Ein mysteriöser Hilferuf führt ihn in die Wüste New Mexicos, fordert ihn und Komfortzone erneut heraus, während sich seine Frau zuhause um Sarah kümmern muss. Er beraubt sie der Möglichkeit zur Flucht, eine Flucht, die er anderen irgendwie ermöglichen möchte...

"Falls Sie es vergessen haben, ich heiße Zach Wells. Es wäre nicht so seltsam oder furchtbar schlimm, wenn Sie es vergessen hätten. Schließlich wird auch meine liebe Tochter mich, mein Gesicht, meine Stimme vergessen. Das ist unvermeidlich. Das bedeutet, ich kann es nicht verhindern. Es bedeutet, dass niemand es verhindern kann. Gott könnte es vermutlich [...] aber Er hat natürlich Besseres zu tun..."

Dieses Buch hat sehr viel mit mir gemacht. Zuerst hat es mich durch diese emotionale Kälte, die fachlichen Abschnitte über Geologie und Natur sehr zur Weißglut gebracht. Ich konnte ihn nicht verstehen, konnte auch die Darstellung als sexuell anziehenden, bewundernswerten Professor nicht ganz nachvollziehen, aber Zach selbst wahrscheinlich auch überhaupt nicht. Er weiß nicht wirklich wie ihm geschieht, und was Rachel und Co an ihm so anziehend finden. Dennoch ist es wieder dieses typische Bild eines Professors, den die Frauen anschmachten, während er selbst große Krisen zuhause zu meistern hat. Doch im weiteren Verlauf und mit der Diagnose taut dieser Roman und die Erzählung unglaublich auf. Zach erwacht aus der Erstarrung, lässt Emotionen erahnen und man erkennt wie wichtig ihm seine Tochter ist. Man fiebert und leidet als Leser*in bis zu den letzten Zeilen mit dem furchtbaren Schicksal der Familie mit und weiß, dass es nicht besser werden wird. Das allein hätte mir schon voll und ganz als Thema des Buchs gereicht, aber Everett hat für seinen Protagonisten für ein bisschen mehr Action und über seinen Schatten hinaus Wachsendes gesorgt. Ohne nun zu viel vorweg zu nehmen, war mir das an einigen Stellen tatsächlich zu viel, andersrum ermöglicht es eben auch zwischendurch Luft zu holen, mit Zach auf andere Gedanken zu kommen und den nicht immer logischen Irrwegen des Lebens zu folgen. Und irgendwie hat ihn das wahrscheinlich auch wieder näher an seine Familie gebracht. Es ist ein kluger, psychologisch feinsinniger (und wahrscheinlich auch aufgrund dieser unnötigen Action zwischendurch ein eher männlicher) Roman, der mich gerade ab dem zweiten Drittel sehr gepackt hat, mich teilweise gefordert hat und dann auch berührt hat. Und irgendwie fand ich dann selbst diese Sache mit den Fossilien und Steinen schon wieder sehr rührend und niedlich.

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Wenn die Vergangenheit ruft... "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider

Der Erinnerungsfälscher
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In Abbas Khiders neusten Roman "Der Erinnerungsfälscher" erzählt er sehr locker und leicht von den Wirren der deutschen Bürokratie, des deutschen Asylverfahrens, vom Kampf mit den Behörden und irgendwie ...

In Abbas Khiders neusten Roman "Der Erinnerungsfälscher" erzählt er sehr locker und leicht von den Wirren der deutschen Bürokratie, des deutschen Asylverfahrens, vom Kampf mit den Behörden und irgendwie auch dem, was man hierzulande von Migranten erwartet oder zu wissen glaubt. Und Khider blickt zurück auf das Leben seines Protagonisten Said Al-Wahid, der durch die Nachricht seines Bruders zur sofortigen Reise in sein Heimatland aufgerufen wird. Saids Mutter liegt derzeit in einem Bagdader Krankenhaus im Sterben, die Zeit drängt, doch da gibt es noch so einige Probleme mit dem Reisepass und seinem Asylantrag.

"Saids Leben in Deutschland neigte sich, so schien es, dem Ende zu. Sechs Jahre verloren schlagartig ihre Bedeutung. [...] Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten."

Ich wünschte, dieser Roman hätte mir mehr gegeben oder besser gesagt einen bleibenderen Eindruck hinterlassen, denn gerade durch Khiders vorherige Romane und das allgemeine, durch die Medien geprägte Bewusstsein über Migration, Asylprobleme und Co, ist es mehr eine kleine, leicht zugängliche Geschichte, die einen Einblick in das komplexe Gefüge aus Bürokratie, Flucht, (Un)Menschlichkeit und Heimat bietet, aber auch nicht wirklich mehr erzählt. Und das ist irgendwie sehr schade, denn der Hintergrund ist schon sehr tragisch. Said hat früh seinen Vater verloren, dieser wurde hingerichtet als er acht Jahre alt war. Er hat alles zuhause aufgegeben, sich über zahlreiche Hürden nach Berlin gekämpft, sehr umständlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sich hier eine neue Heimat aufgebaut, eine eigene Familie gegründet und ist nun gefordert zu seinen Wurzeln zurückzukehren und sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, aber gleichzeitig erkennt Said eben auch, dass kaum noch (echte) Erinnerungen vorhanden sind. Und das wäre in ausführlich wahrscheinlich ein sehr mitreißender Roman gewesen, der gerne an die 300 Seiten hätte haben können und viel über das Schicksal der Geflüchteten verraten hätte. So ist es aber eher ein Rückblick in die Vergangenheit, alles Erkämpfte ist schon da und es werden Möglichkeiten gesucht eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen und das dann auch in einem eher weniger berührenden Schnellverfahren.
Daher empfehle ich diesen Roman eher jenen, die noch nichts über Flucht, Migration oder Einbürgerung in Deutschland gelesen haben, denn "Der Erinnerungsfälscher" ist wirklich ein nettes, schnell zu lesendes 'Einsteigerbuch' in die Thematik, es hat einige wirklich schöne, tiefgründige Gedanken, aber sonst... lieber anderes.

"Er ist nie mit seiner kleinen Familie heimgereist und nun liegt seine Mutter im Sterben. Als Said wegging, war das Land ein Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der Hoffnungslosigkeit geworden."

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Veröffentlicht am 08.03.2022

"Ende in Sicht" oder auch nicht? Von Rönnes sehr unterhaltsamer Roman am Rande einer Depression.

Ende in Sicht
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Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man ...

Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man sich da weiter quälen? Man könnte doch auch in Würde das Leben ausschleichen lassen und entsprechende Hilfe in Anspruch nehmen. In Deutschland ist Sterbehilfe nach wie vor eine Grauzone und strafbar, doch in der Schweiz gibt es unter gewissen Umständen auch hierfür Möglichkeiten. Und genau das hat sich die 69 jährige Hella Büttner in Ronja von Rönnes neusten Roman "Ende in Sicht" auch gedacht. Ihre Karriere als Schlagersängerin Hella Licht hat bereits vor Jahren einige Tiefpunkte hinnehmen müssen, es gab mehrere Schlagzeilen und nun wird sie nur noch selten für kleine Auftritte gebucht, aber wirklich kennen, tun sie die wenigsten. Auch ihr Privatleben hat seinen Glanz verloren, sodass sie beschloss dem ein Ende zu setzen. Sie hat sich durch einen Trick einen Termin in einem Schweizer Krankenhaus (ja, man muss es schon eher so sagen) ergaunert und macht sich nun mit ihrem alten, vollgemöhlten Passat auf den Weg.

"Hella war durchaus bewusst, dass eine Leitplanke definitiv keine sichere >Du kommst aus dem Gefängnis frei<-Karte war. Und im Gegensatz zu Leitplanken versprach die Schweiz einen deutlich glamouröseren Abgang." Und "Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren."

Doch wie das Leben so spielt, kommt alles anders. Und auch der Roman beginnt ganz anders als nun erwartet, denn zuerst lernen wir die 15 Jährige Juli kennen, die auf einer Autobahnbrücke steht und mit dem Gedanken spielt, zu springen. Juli leidet an Depressionen und hat schon lange genug von der Welt. Eigentlich sollte sie jetzt gerade mit ihren Mitschülern in einem Bus nach Prag sitzen, aber mit so einer vorgeschobenen akuten Halsentzündung geht das natürlich nicht. Auch ihren Vater hat sie ausgetrickst und so steht sie nun auf der Brücke und starrt auf die befahrene Autobahn unter ihr. Doch dann geht alles ganz schnell, zuerst fällt Juli das kleine, gestreifte Schneckenhaus, mit dem sie die ganze Zeit gespielt hat, aus den Händen und dann landet sie mitten auf der Fahrbahn - nicht tot, aber mit einigen Blessuren. Gerade in diesem Moment fährt auch Hella die Straße entlang, sieht Juli und hält an. Sie will ihr helfen bzw. eigentlich auch nicht, denn helfen und sich um andere zu kümmern war noch nie ihr Ding gewesen, aber es kommt wie es kommen sollte, ihr Handy ist tot und so bringt Hella die Jugendliche in ein Krankenhaus in der Nähe. Doch damit nicht genug... das Schicksal hat sie beide an ihrem Tiefpunkt zusammengeführt. Juli sucht sich zwar immer wieder neue Wege um weiter zu kommen, weiter weg von zuhause und vor allem weg von dieser senilen Alten, doch Hella macht es ihr dann nicht so einfach.

"Lange bevor ihr eine müde Schulpsychologin die Diagnose verkündete, wusste Juli, was Depressionen sind. Mental Health war in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig, irgendwie war ja jeder heutzutage mal depressiv und dagegen gab es Apps, Tabletten und ganz, ganz viel Verständnis. Dies war das 21. Jahrhundert, und noch nie hatte sich Juli [...] für ihre Diagnose geschämt."

Normalerweise sind Bücher über Depressionen und Tod ja nicht gerade die leichteste Kost. Oftmals sind sie sehr überrollend, anstrengend oder von tiefgreifenden, unzähligen Gedanken und umständlichsten Erklärungen durchzogen. Nicht hier, denn Ronja von Rönne nähert sich dem Thema mit einer schicksalhaften Begegnung und zeichnet eher ein 'Drumherum'-Bild mit viel Witz, flapsigen Kommentaren, einer wilden 'Erlebnisfahrt' und zweier sehr unterschiedlichen Ansichten und Lebenssituationen. Von der Grundidee könnte man dieses Buch wahrscheinlich mit Lucy Frickes "Töchter" vergleichen - eine ähnliche Fahrt, ein ähnliches Ziel und doch kommt am Ende alles ganz anders und die Protagonistinnen erleben noch sehr viel mehr, als diese letzte Autofahrt. Nur der Schreibstil unterscheidet sich enorm, beinahe ist dieses Buch mehr eine Art Nebenbeiunterhaltung.
"Ende in Sicht" ist eine unterhaltsame Geschichte, rund um sehr ernste Themen - Depression, Krankheit, Therapien und begleitetes Sterben. Dennoch muss man sagen, dass von Rönne sich bis zum Ende recht oberflächlich an diesen Themen abarbeitet, was vielleicht aber auch ganz gut ist, denn so drängt sie den Leser
innen weder eine Schablone auf, noch gibt sie Tipps, wie man als Betroffener oder Angehöriger damit umgehen soll. Sie zeigt mehr, wie es ist und was es heißt depressiv zu sein und/oder genug von der Welt zu haben und trotz vieler skurriler, toller, aufregender Momente sich an nichts erfreuen zu können und immer wieder in einem Loch zu sitzen. Gerade ihre Protagonistin Juli ist sich dem bewusst, wird von der tüddeligen Seniorin mit komischen Vorurteilen beladen, aber bleibt bis zum Ende hin auch in ihrer 'Rolle'. Es gibt keine Wunderheilung. Juli macht sich über ihr Gemüt zwar Gedanken, eckt mit Hella einige Male an, aber damit hat es sich dann auch... und gerade diesen Anstoß/diese Herangehensweise finde ich toll, denn Depressionen kann man nicht so einfach erklären - sie sind sehr vielfältig und haben unterschiedlichste Ursachen.

"Sie wusste sehr wohl, wie Schriftsteller, Künstler, Tik-Toker und Wikipedia Depressionen beschrieben: als würde das Leben plötzlich >an Farbe verlieren< und der Alltag >immer grauer< werden. Doch für sie war es viel schlimmer. Es war bunt und leuchtete in allen Farben, nichts war grau [...] Aber wenn Juli dann abends im Bett lag [...], waren all diese Farben gleichermaßen schal und deprimierend."

Ronja von Rönne schafft es scheinbar mühelos, sehr unterhaltsam und mit einer Menge Charme zwei komplett unterschiedliche, in ihren Welten 'gefangene' Menschen aufeinanderprallen zu lassen und ernste Themen aufzugreifen, ohne zu verurteilen oder zu bewerten. Insgesamt ist es zwar eine sehr wilde Fahrt, voller skurriler Momente und Einfälle, die man nun toll oder für sehr weit hergeholt halten kann, aber es ist eben ein sehr junges, "unangemessen komisches" und verrücktes Buch. Das Hörbuch wurde von Ronja von Rönne selbst eingelesen - normalerweise finde ich das immer etwas schwierig, da nicht jede Stimme unbedingt für ein Hörbuch geeignet ist, aber hier gibt RvR ihrem Text noch einmal eine gewisse Ruhe, aber auch Schwere, ein wenig Denkspielraum und ich fand es sehr toll gelesen... so ist es dann insgesamt auch ein kleines, kurzes Lese- und Hörvergnügen, das Einzige was mich nun vielleicht gestört hat, war der Epilog, denn für mich war die Geschichte bereits mit einem offeneren Ende abgeschlossen und dann kam da eben zack noch eine Wendung, ein Happy End und ein komisches Ende. Hach, weiß nicht, aber ja so glückliche Enden in Sichtweite sind vielleicht auch ganz schön.

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