Kleines Buch mit großer Wirkung - "Auszeit" von Hannah Lühmann
AuszeitWenn die Gedanken wieder überhand nehmen, das Leben einen fest im Griff hat, teilweise gar überfordert und irgendwie alles festgefahren scheint, wäre eine Auszeit gar nicht mal so verkehrt. Einen kleinen ...
Wenn die Gedanken wieder überhand nehmen, das Leben einen fest im Griff hat, teilweise gar überfordert und irgendwie alles festgefahren scheint, wäre eine Auszeit gar nicht mal so verkehrt. Einen kleinen Urlaub, in dem man endlich wieder abschalten, das Leben genießen und man mal wieder Zeit finden kann um sich zu ordnen, zu reflektieren, um zu gucken wo einen das Leben hintreibt oder wo sich Möglichkeiten auftun.
Auch Henriette braucht in Hannah Lühmanns Roman "Auszeit" eben jene Pause vom Leben. An ihrer Dissertation über den Werwolf und dessen Kulturgeschichte sitzt sie bereits seit Ewigkeiten ohne nennenswerte Fortschritte zu machen. Das Leben hat sie irgendwie fest im Griff. Henriette trauert. Sie trauert um ihr Kind, wahrscheinlich wäre es eine Tochter gewesen, so wie sie es sich wünschen würde, aber bereits der erste Satz dieses Romans lässt schlimmes erwarten. "Der Tag, an dem ich in die Klinik fuhr, um mein Kind abzutreiben, war ein Dienstag, es war noch Frühling." Und dann nimmt alles so seinen Lauf oder eben nicht, bis
Paula die Reißleine zieht und ihre Freundin Henriette zu einer kleinen Auszeit im östlichen Bayern überredet. Ein bisschen meditieren, viel Wald, Luft und vor allem eins, Freiheit, vielleicht auch etwas Klarheit. Endlich Zeit fokussiert an ihrer Arbeit zu schreiben, endlich wieder etwas anderes sehen und auf andere Gedanken kommen, endlich, ja, was eigentlich?
"Es ist, denke ich, als hätte die Stadt meine Seele zerquetscht, als hätte ich einmal zu oft das graue Szenario gesehen, das sich mir jeden Morgen bietet, wenn ich die graffitibesprühte Tür meines Wohnhauses hinter mir schließe. Die Zigarettenpackungen, die Hundescheiße, der Beton. Früher war es mir egal, wo ich lebe, heute sind alle Klischees über das Leben in der Stadt wahr geworden und nehmen mir die Luft zum Atmen. Ich bin nicht alt, ich habe noch Zeit. Ich brauche nur Luft, Luft und Abstand..."
Natürlich passieren auch hier nun eher unerwartete Dinge. Dieser Roman ist nämlich nicht nur von ein kleiner Ausflug in Richtung Freundschaft, denn irgendwie bewegt gerade diese gemeinsame Zeit, von der wir lesen können, Henriettes Leben in eine ganz andere Richtung. Henriette muss sich mit den großen Fragen des Lebens, nach der Zukunft und ihrem Jetzt auseinandersetzen, sich neu finden und motivieren und ihre Freundin gibt ihr dabei Raum und fungiert gleichzeitig als eine ungeheure Stütze und Wegbegleiterin. In diesem Buch geht es aber auch um die Fragen nach dem, was einen erfüllt und glücklich macht, ob es richtig ist ein Kind in die Welt zu setzen oder eben nicht, wie es sich anfühlt stets auf der Suche nach dem richtigen Weg zu sein und dabei doch auch vieles falsch zu machen. Es ist aber auch irgendwie eine Geschichte über die verschiedenen Wirkungen des Menschen, dem Gedachten und dem Wirklichen, dem Tröstenden, Ängstlichen und dem Angreifenden. Der Werwolf, eine Art Sinnbild für so vieles. Die Verwandlung, die zwei Seiten des Menschen, die Gefühlswelt, das Ringen und die Auseinandersetzung und vielleicht auch ein Stück weit der Kipppunkt, sowie die Entscheidung.
Gerade nach den letzten Zeilen habe ich mich lange gefragt, was Hannah Lühmann mir mit dieser Geschichte sagen mag. Eine Auszeit. Im östlichen Bayern. Zwei Freundinnen. Zwei ganz unterschiedliche Lebenswelten, von denen die der Henriette stets am präsentesten ist. Ich kann nicht einmal sagen, dass mir diese Protagonistin wirklich sympathisch ist, vielleicht weil sie auch so egoistisch wirkt. Ein Ich-Mensch, der sich immer weiter in sich selbst verzweigt und dadurch nicht vorwärts kommt. Eben das genaue Gegenteil von Paula und irgendwie sind es dann auch ihre Worte und ihre Entscheidung, am Ende, die mich berührten und zum Nachdenken gebracht haben. Eigentlich nicht nur am Ende, immer wieder. Und irgendwie fand ich es dann auch an ihr ganz spannend zu sehen, wie sie mit ihrer Freundin und dem Leben umgeht.
Teilweise sehr schmerzhaft, manchmal auch eher gedankenverloren nähert sich derdie Leserin Henriettes Problemen und Ängste, der Frage nach dem Kind und ihrer Aufgabe. Sehr bemerkenswert finde ich dabei diese Aufbruchsstimmung, in all dieser Ruhe, und den plötzlich neu gefassten Drang etwas im Leben verändern zu wollen, gar zu müssen.
"Ich spüre eine große Aufregung in mir, ich bin, das denke ich ernsthaft, wild entschlossen, mein Leben zu ändern, ein Bild zu werden, etwas zu werden. Irgendetwas. Es ist nicht zu spät, es ist alles eine Frage der Geschwindigkeit, ich muss mich einfach zusammenreißen und beschleunigen, vielleicht muss ich mich wirklich mehr bewegen, mehr erden, mehr Yoga machen,..."
"Auszeit" ist für mich so ein kleiner winkender Zaunpfahl. Eine Geschichte, die davon zeugt, dass es nie zu spät ist, sein Leben neu zu hinterfragen, Sachen anzugehen oder zu ändern, selbst wenn das ganze Leben auf dieser Vorstellung beruht. Es ist aber auch so ein Buch, das während des Lesens so leicht und dünn erscheint, aber im Nachgang wahnsinnig viel Mühe und Gedanken kostet. Schon ewig habe ich nicht mehr so lange über ein Buch, dessen Bedeutung und die einzelnen Funktionen der Protagonisten nachdenken müssen. Und irgendwie bin ich nun auch schon einige Wochen später, nicht wirklich schlauer geworden. Ich reime mir Dinge zusammen, finde Paula nach wie vor großartig und diese akzeptierende Ruhe, sowie das Ungesagte, dieses nicht ganz zu Ende erzählte und doch zu Ende erzählte... Und so wird dann aus diesem gerade einmal 173-seitigen Roman etwas riesiges, was man irgendwie noch sehr lange mit sich rumschleppt und das finde ich wahnsinnig faszinierend. Vielleicht ist es das optimale Geschenk, für jeden, derdie gerade im Leben feststeckt, nach Antworten sucht, sich in Gedanken verrannt hat oder eben auf diesen berüchtigten Wink mit dem Zaunpfahl wartet. Der Mensch ist zu vielem fähig, er muss sich manchmal nur auf etwas neues einlassen um seinen Weg zu erkennen.