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Veröffentlicht am 30.05.2021

eine außergewöhnliche Geschichte über einen Jungen, die Natur und das unvorhersehbare Schicksal eines gesamten Dorfes

Das Flüstern der Bienen
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Wir machen eine kleine Zeitreise. Es geht zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit, die durch viele Umbrüche und große Herausforderungen geprägt wurde. In dem kleinen mexikanischen Ort Linares ...

Wir machen eine kleine Zeitreise. Es geht zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Eine Zeit, die durch viele Umbrüche und große Herausforderungen geprägt wurde. In dem kleinen mexikanischen Ort Linares spielte sich zu dieser Zeit eine sehr magische Geschichte ab. An einem Oktobermorgen im Jahre 1910 findet die alte Nana Reja unter einer Brücke ein abgelegtes Kind, doch niemand sonst hatte es schreien hören. Stets von einem Bienenschwarm umhüllt und von einer Missbildung der Oberlippe entstellt, sorgt der kleine Simonopio zunächst für eine Menge Unruhe und Unheilprophezeiungen bei den Dorfbewohnern. Dennoch nehmen Nana Reja und die etwas wohlhabendere Familie Morales, die bereits seit Generationen Zuckerrohrfelder bewirtschaften, das Kind und eben auch die ihn begleitenden Bienen bei sich auf. Gegen aller Erwartungen wächst der Junge ganz normal heran, aber bis auf einige unverständliche Laute wird er nie wirklich sprechen können. Im Laufe der Jahre entwickelt eine ganz besondere Gabe und was das Verständnis der Natur anbelangt, wird ihm nie jemand etwas vormachen. Es scheint als würden er und seine Bienen eine unzertrennliche Symbiose eingehen, so als würden sie ihn führen und stets allem einen Schritt voraus seien. Er vertraut ihnen, rennt ihnen hinterher und erkundet die Umgebung, manchmal sogar tagelang. Und er erahnt eben auch das Unheil, das durch den Bürgerkrieg und später durch die spanische Grippe naht und wird die Familie dadurch nicht nur einmal vor Schlimmeren bewahren. Aber es gibt auch etwas, vor dem sich Simonopio fürchtet. Seine Lieblingsgeschichte ist eine von Vater Franciscos Fabeln und dieser gab ihm folgenden Rat: "Eine Fabel zeichnet sich dadurch aus, dass die Tiere menschliche Eigenschaften haben, gute und schlechte. Wer die Fabel kennt, kann sich entscheiden, ob er die Gazelle oder die Maus sein will. Aber du, Simonopio, bist ganz gewiss der Löwe. Du musst dich nur vor dem Kojoten hüten." Und ja, dieser Tag, an dem sich Kojote und Löwe begegnen werden, wird kommen. Nicht heute, aber die Gefahr lauert stets im Verborgenen und ob dann seine Intuition und die Bienen immer rechtzeitig davor bewahren können oder er die Familie und die Bewohner der Hacienda ins Verderben stürzt, wird sich im Laufe der Zeit und eben dieser Geschichte zeigen.

"Die Bienen waren geduldig mit ihm gewesen: Jahrelang hatten sie darauf gewartet, dass er bereit wäre, die Reise mit ihnen zu vollenden. Am Ende des Weges wartete etwas Wichtiges auf ihn, etwas, was sie ihm schon immer hatten mitteilen wollen, etwas, was sie ihm zu verstehen geben wollten.
Bald würde er es sehen."

Sofía Segovias Roman "Das Flüstern der Bienen" ist für mich eine der größten Überraschungen in diesem Frühjahr. Zwar hatte ich bereits nach dem Lesen des Klappentextes eine spannende, etwas übersinnlich angehauchte Schicksals-Geschichte erwartet, aber dieser Roman bietet einfach so viel mehr und beinhaltet eine so bewegende 'Brüder'-Geschichte, dass ich nur begeistert davon sprechen kann. Dieses Buch ist eine Art Familien-/Generationenroman, der in den Anfängen des 20. Jahrhunderts in Mexiko spielt und ein spannendes Abbild des Lebens und der Gesellschaftsschichten während der spanischen Grippe, der Landreform in Mexiko und einer sich stets weiterentwickelnden Welt mit all ihren Herausforderungen, technologischen Fortschritten und Anforderungen darstellt. Es ist aber auch ein Spannungsroman, ein Krimi und ein Stück weit Traumaverarbeitung oder vielleicht auch eher ein Drama, das sich in der Familiengeschichte der Morales abgespielt hat. Jedenfalls hat sich dieses Buch, sei es aufgrund seiner thematischen Vielschichtigkeit und Verflechtungen oder doch aufgrund dieses ganz besonderen Jungen und Findelkinds Simonopio, nach und nach zu einer meiner liebsten Geschichten in diesem Jahr entwickelt.

Zu Anfang war ich allerdings noch etwas skeptisch und brauchte einige Seiten um mich in dem Erzählstil einzufinden. Eher ruhig und unaufgeregt erzählt Sofia Segovia diese Geschichte aus verschiedenen Perspektiven bzw. die einzelnen Kapitel folgen jeweils einem anderen Blickwinkel. Sie springt dabei von einem allgemeinen Erzähler, der mal aus Sicht der Mutter, des Vaters oder des Bruders… die Situation schildert, zu dem Ich-Erzähler Francisco, dem Sohn der Morales, der auf sein Leben zurückblickt. Dadurch kommt es insgesamt zu einer sehr vielstimmigen und von diversen Emotionen und Ansichten begleiteten Erzählung, die die Leserinnen sehr intensiv mit den einzelnen Protagonisten verbindet. Seite für Seite lernt man dabei das Geheimnis um Simonopio und seine Bienen, sowie die familiäre Beziehung zwischen den Morales und ihren Angestellten und Freunden kennen und schätzen. Sofia Segovia verflicht dabei sehr faszinierend dieses 'familiäre Band' mit zahlreichen historischen und technischen Fakten und Gegebenheiten. Inspiriert von einer realen Geschichte eines Dorfes in Mexiko, nimmt sie ihre Leserinnen mit in eine ganz andere Zeit und diese stolpern dann quasi ganz nebenbei von einer aufwühlenden Geschichte in die nächste. Und das macht dann vielleicht auch den Reiz dieses Buches aus. Es ist ein Stück weit genreübergreifend und eine Mischung aus historischem Roman, Familienroman, Spannungsroman und doch irgendwie zeitweise auch ein Krimi. In Mexiko/Lateinamerika war dieses Buch ein Publikumsliebling und monatelang in den Bestsellerlisten vertreten und das meiner Meinung nach zurecht. Während andere Romane nämlich sehr schnell ins Kitschige, leicht Unterhaltsame oder Vorhersehbare kippen, punktet dieses Buch bis zum Schluss durch seine Wendungen, Umbrüche und neuen Herausforderungen und hält dabei stets einen gewissen literarischen Grad aufrecht. Ich glaube mehr möchte ich an dieser Stelle auch nicht verraten, für mich war es jedenfalls ein großes Lesevergnügen und obwohl ich gerne einen Bogen um dicke Bücher mache, dieses hätte ruhig noch etwas dicker sein können.

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Veröffentlicht am 19.04.2021

Mord oder Suizid? Der erste Fall für Katja Sand in "Trauma - kein Entkommen"

Trauma – Kein Entkommen
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Ich habe mich auf Spurensuche nach etwas Nervenkitzel begeben und bin bei der als Trilogie angelegten Thrillerreihe Trauma von Christoph Wortberg gelandet. Und eigentlich sollte man nun meinen, dass ein ...

Ich habe mich auf Spurensuche nach etwas Nervenkitzel begeben und bin bei der als Trilogie angelegten Thrillerreihe Trauma von Christoph Wortberg gelandet. Und eigentlich sollte man nun meinen, dass ein ausgebildeter Schauspieler und jahrelanger Tatort-Drehbuchautor sicherlich einen großartigen dramaturgischen Aufbau, einen spannenden Fall und tolle Szenenwechsel, sowie eine Reihe geheimnisvoller Tatverdächtige parat hat, aber irgendwie war "Trauma - kein Entkommen", so der Titel des ersten Teils, dann mehr eine Art Traumatherapie der Ermittlerin, statt ein wirklich hochbrisanter, spannender Thriller.

"Das Kind starrte auf den Gürtel in der Hand des Vaters. Der Gürtel sagte: Was machst du hier, du kleines Stück Scheiße? Warum bist du nicht im Bett? Und was soll dieser verdammte Fleck zwischen deinen Beinen? Kannst du deine Pisse nicht zurückhalten, du verdammte Missgeburt?"

Alles beginnt zunächst mit einem, wie ich finde, sehr starken Prolog. Das Leiden eines kleinen Jungen wird in den Fokus gerückt. Sein gewalttätiger Vater, der nicht nur gegenüber seiner Frau handgreiflich wird, geht mit dem Gürtel auf seinen dreijährigen Sohn los, als dieser stumm, an der Treppe stehend, das Treiben zwischen beiden beobachtet. Der Junge flüchtet vor Angst, in der Hand sein geliebtes Stofftier, in den Schuppen und verkriecht sich unter dem Tisch. Natürlich viel zu offensichtlich, sodass der Vater sich an ihm vergehen kann. Allerdings nicht handgreiflich, wie man nun vermuten würde, sondern psychisch einschüchternd. Er zündet den Stoffhasen an und zwingt seinen Sohn zuzuschauen. Cut. Wir lernen nun die Ermittlerin Katja Sand kennen, die sich gerade in das Liebesleben ihrer Tochter einmischt und ihre Tochter vor dem neuen Freund, wenn nicht sogar vor der ganzen Welt schützen will. Kurze Zeit später wird sie mit ihrem Assistenten Rudi Dorfmüller an einen Baggersee gerufen. Ein Mann wurde tot aufgefunden, alles sieht nach Selbstmord aus, aber irgendwas lässt Katja Sand daran zweifeln. Und ihre Theorie scheint richtig zu sein, ihre Ermittlungen steuern sie in einen von der Bundesmarine vertuschten Skandal. Und als dann einige Tage später noch ein weiterer, ehemaliger Marineanwärter tot in einem Kühlschrank aufgefunden wird, scheint alles klar zu sein, doch eindeutige Hinweise fehlen... so lange, bis ihr eigenes Trauma ihre Beziehung zu ihrer Tochter gefährdet und sie selbst in das Visier des Täters gerät.

"Er lässt ein Feuerzeug aufflammen, hält es an die Motorhaube. Das vergossene Benzin fängt sofort Feuer. Die Hitze der Flammen schlägt Katja voller Wucht ins Gesicht. Ich werde verbrennen, denkt sie, ich werde mein Kind nicht mehr sehen und meine Mutter auch nicht."


Ich weiß nicht, hoffentlich habe ich jetzt nicht schon zu viel verraten, denn so wirklich viel passiert in diesem, ersten Band ja nicht gerade. Der Fokus liegt hier eindeutig mehr auf der Charakterentwicklung und das Leben der Ermittlerin Katja Sand. Und auch wenn ich diesen behind-the-scenes-Blick sehr mochte, er diesen Thriller sehr menschlich macht, war es mir insgesamt einfach zu viel. Der Plot bewegt sich recht weit entfernt von den eigentlichen Tatorten und irgendwie konnte bis auf den kurzen Rest, dieses Buch kaum mit Spannung punkten. Die stärkeren, bedrückenden Einschübe und die traumatischen Erlebnisse des Kindes waren die eigentlichen Höhepunkte dieses Thrillers, aber die Auflösung und ihren Bezug zu den Fällen dann doch recht lange vorhersehbar. Ich hätte mir auch mehr Abwechslung, wie weitere Einschübe aus den Leben der einzelnen Betroffenen gewünscht. Vielleicht hätte gerade das, diesen Fall deutlich spannender und nicht so durchschaubar gemacht. Auch das letzte Kapitel, das bereits auf den nächsten Teil anspielen soll, fand ich beinahe schon lieblos ran gesetzt und die eigentliche Auflösung ging kaum in die Tiefe, sondern wurde binnen einzelner Seiten abgearbeitet und fertig. Es ist ein interessantes Buch über die Auswirkungen von Traumata bzw. Erlebnissen in den verschiedenen Stadien des Lebens, aber es ist eben mehr eine persönliche Entwicklungsstudie mit zwei Mordfällen und kein Thriller bzw. das was man vom Titel "Trauma - kein Entkommen" und der Positionierung erwarten würde. So schwanke ich dann auch zwischen einer enttäuschten zwei-Sterne-Bewertung für den Plot und einer doch recht faszinierenden Sicht auf Mutter-Tochter-Konstellation. Und ob ich den bereits im August erscheinenden zweiten Teil lesen mag... ach, ich weiß nicht.

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Veröffentlicht am 31.03.2021

Die Geschichte eines unvergesslichen Sommers

Der große Sommer
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Eigentlich hatte der 16 jährige Friedrich sich seinen Sommer ganz anders vorgestellt. Doch aus dem geplanten Urlaub mit der Familie wird es nichts, dafür sind seine Noten in der Schule einfach zu schlecht. ...

Eigentlich hatte der 16 jährige Friedrich sich seinen Sommer ganz anders vorgestellt. Doch aus dem geplanten Urlaub mit der Familie wird es nichts, dafür sind seine Noten in der Schule einfach zu schlecht. Und nun sitzt er bei seinem strengen Großvater und soll die vollen sechs Wochen für die Mathe und Latein-Nachprüfung nach den Sommerferien lernen. Jackpot. Aber da gibt es ja zum Glück noch seinen Kumpel Johann, seine Schwester Alma, die gerade ein Praktikum in einem Altenheim absolviert und Beate, das Mädchen, das er neulich im Schwimmbad kennenlernte und die ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Er unternimmt so einiges um ihr näher zu kommen, streift durch die Stadt, verabredet sich mit ihr und seinen Freunden und erlebt einen unvergesslichen Sommer voller Nähe, Liebe, Zusammenhalt bis plötzlich durch ein Unglück alles wegzubrechen droht.



"Wie geschah so etwas? Was bedeutete es denn eigentlich, wenn man sich verliebte? Vielleicht war Verliebtheit ein wenig so wie der Tod. Danach war nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Alles andere verlor an Bedeutung und alles, alles wurde plötzlich in Bezug gesetzt zu einem Menschen, den man kurz vorher noch gar nicht gekannt hatte."



Ach, diese Jugend. Diese vielen Erinnerungen, die beim Lesen hochkommen und an die schönen, unbeschwerten Zeiten von früher erinnern. Dieser Roman erzählt von so vielen ersten Malen, von den Überraschungen des Lebens und der Liebe und das so locker, leicht, dass es eindeutig ein großartiges Buch für die wärmere Zeit ist. Ich habe mich von Anfang bis zum Ende super unterhalten gefühlt, doch jetzt so im Nachhinein frage ich mich, ob es das ist, was ein gutes Sommerbuch für mich ausmacht? Gute, lockere Unterhaltung mit vielen Themen des Lebens, Liebe, Freundschaft, Drama und Vergnügen bietet Arenz mit "Der große Sommer" voll und ganz, aber so wirklich begeistern kann er mich mit dieser Geschichte rund um Frieders Sommer mit seinen Freunden trotzdem nicht. Zumindest war es mir im Zwischenteil viel zu verrückt und abstrus, ein Großvater, der als Arzt der Bakteriologie im Labor arbeitet und ehrwürdig doktorlike einen Abstrich von einem Tiger im Zoo nimmt und natürlich dürfen sein Enkel und seine neue Freundin ihn spontan begleiten und hautnah neben dem Tier sitzen. Und natürlich gibt es plötzlich ein großes Drama, Schusseligkeiten, jugendliche Eskapaden, Liebeskummer, dies, das, jenes und dann wieder Friede, Freude, Eierkuchen.

Arenz vermittelt trotz aller Vorkommnisse die Leichtigkeit des Lebens, zumindest, wenn man so tolle Großeltern besitzt, die sich um alles kümmern, aber sonst bleibt doch recht wenig übrig. Des Weiteren haben mir meine eigenen Gedanken oft das Bein gestellt, denn bei Aussagen wie "Sie klang ein bisschen atemlos und das fand ich unglaublich erotisch." oder "Sie war ganz heiß." habe ich häufig an den Autor und nicht an Frieder, der es eigentlich dachte, gedacht und das hat mich dann ehrlich gesagt immer wieder verstört, zumal Beate auch noch ein Mädchen ist und es sich bei ihnen scheinbar um die erste große Liebe handelt. Und so komme ich dann am Ende auch eher zu einer durchschnittlichen Bewertung. Ich hoffe nun, dass mich andere Erzählungen nochmal etwas mehr und realistischer in Sommerfreude versetzen und begeistern können, aber der Sommer fängt ja auch erst an und dafür war es schon mehr als okay.

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Veröffentlicht am 21.03.2021

Rachel Joyces neuer Roman über eine ganz besondere Freundschaft

Miss Bensons Reise
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Manche Autoren und Autorinnen begleiten mich schon recht lange und es gibt tatsächlich nur wenige, von denen ich auch jedes Buch lese, aber Rachel Joyce gehört mit ihrer Art Geschichten zu erzählen und ...

Manche Autoren und Autorinnen begleiten mich schon recht lange und es gibt tatsächlich nur wenige, von denen ich auch jedes Buch lese, aber Rachel Joyce gehört mit ihrer Art Geschichten zu erzählen und ihrer Liebe zu ihren Figuren und der Leidenschaft für verrückte bis halb utopische Träume und Wünsche, dann doch zu eine meiner liebsten. Ihr neuer Roman "Miss Bensons Reise" hat mich anfangs etwas an ihr erstes Buch "Die unwahrscheinliche Pilgereise des Harold Fry" erinnert. Auch wenn beide Romane grundlegend andere Ausgangspositionen besitzen, so handeln sie doch beide von einer überraschenden Reise, die aufgrund eines Ereignisses in der Vergangenheit und einem kleinen Wink mit dem Zaunpfahl ausgelöst wird. Doch während Harold Fry seiner alten Liebe Queenie einen letzten Dienst erweisen möchte, sie im Hospiz besuchen will und einmal quer durch England irrt, begibt sich Margery Benson ans andere Ende der Welt, um einen kleinen goldenen Käfer zu suchen.

Alles beginnt zunächst mit einem tragischen Ereignis in Margerys Kindheit. Als ihren Vater die Nachricht ereilt, dass seine vier Söhne im Krieg gefallen sind, kommt es zu einer Kurzschlussreaktion und er erschießt sich auf der Terrasse. Die zehnjährige Margery, die währenddessen mit einem Käferbuch beschäftigt ist und auf die Rückkehr ihres Vaters wartet, begreift nicht sofort was geschehen ist, doch die Erinnerung an diese Situation und an ihren Vater, der ihr kurz zuvor im Buch voller "Unglaublicher Geschöpfe" den goldenen Käfer von Neukaledonien zeigte, wird sie noch ihr ganzes Leben lang verfolgen.

London, 1950. ( 36 Jahre später) Margery führt ein sehr einsames Leben. Sie ist Lehrerin für Hauswirtschaft geworden und erklärt ihren Schülerinnen gerade wie man in Kriegszeiten einen Kuchen backt, als ein lustiger Zettel durch die Reihen gereicht wird. Eine Karikatur von ihr macht Margery deutlich wie festgefahren ihr Leben eigentlich ist und was sie bis dato erreicht bzw. nicht erreicht hat. Sie ist eine Witzfigur, mehr nicht. Hals über Kopf schmeißt sie alles hin und kratzt ihre Ersparnisse zusammen. Sie will nun endlich über ihren Schatten springen, sich ihrer Leidenschaft widmen und diesen ominösen goldenen Käfer für sich und ihren Vater finden. Doch alleine wäre diese Reise wahrscheinlich unmöglich und so sucht sie mit Hilfe der Zeitung nach einer passenden Reisebegleitung. Die Auswahl ist mager und so tritt, zu Margerys eigenen Überraschung, Enid Petty in ihr Leben. Die eher geschwätzige Sexbombe, mit ihrem pinken Kostüm und den blondierten Haaren ist nicht gerade die einfachste Person und das komplette Gegenteil von Margery, aber das Schicksal hat es so gewollt und die beiden gemeinsam auf diese abenteuerliche Reise geschickt. Und was als eine Art Katastrophe beginnt, wird schnell zur engsten Freundschaft in Margerys Leben. Doch was sie noch nicht ahnt, auch Enid hat ein dunkles Geheimnis und einen noch größeren Traum. Für beide beginnt ein Abenteuer, das sie irgendwie zu anderen Menschen machen wird und in Situationen katapultiert, mit denen sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätten.

Was für Ritt! Dieser Roman ist wirklich ein großes Stück Unterhaltungsliteratur, wenn nicht sogar eher eine Art Komödie in Buchform. Dieses ungleiche Duo mit all ihren Problemen, verschiedenen Ansichten, kleinen und größeren Streitereien ist häufig so eine Art "Dick und Doof" und obwohl sie ständig auseinanderdriften, merken sie doch schnell, dass sie beide für sich und diese Reise einfach das Beste sind, was ihnen je hätte passieren können. Die Charaktere legen im Laufe dieser Geschichte eine unglaubliche Wandlung hin, gerade die immer in sich zurückgezogene, korrekte und strukturierte Margery taut auf und lernt das Leben von einer ganz anderen Seite kennen. Und Enid? Sie hat stets so ein paar ganz besondere, wenn nicht sogar abstruse oder dramatische Überraschungen parat. Dieses Buch lebt so unglaublich von diesen beiden herzzerreißenden Protagonistinnen und ihrer Geschichte hinter dieser Käfersuche. Auch die Menschen um sie herum fordern die beiden ständig aufs Neue heraus und so wird es dann für den Leser/die Leserin ganz gewiss auch nie langweilig.
In Rachel Joyces Romanen tauchen stets so ganz besondere Charaktere auf, die bis ins letzte, kleinste Detail so wunderbar verschroben und liebevoll zugleich sind. Und irgendwie schafft sie es gerade dadurch mich stets zu begeistern und von allen anderen Gedanken abzulenken. Man geht mit ihr und ihren Charakteren auf Reisen, bangt und hofft, dass am Ende alles wieder gut werden wird. Manchmal gehen Wünsche in Erfüllung und manchmal machen sie so ganz unerwartet eine große Biegung. Es ist so ein bisschen wie das Leben... häufig voller verrückter Zufälle und selbst in den schwierigsten Zeiten noch voller Möglichkeiten, oftmals fehlt nur das passende Gegenstück und alles wird mit ihm so ein kleines bisschen leichter. Mit "Miss Bensons Reise" kommt Rachel Joyce für mich zwar nicht an "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" und das passende Gegenstück "Das Geheimnis der Queenie Hennessy - Der nie abgeschickte Brief an Harold Fry" heran, aber es ist ein toller, unterhaltsamer Roman über Freundschaft, Träume, Freiheit und ein großes Stückchen Mut.

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Veröffentlicht am 21.03.2021

Und täglich grüßt das Patriarchat - Cho Nam-Joo über das frustrierende Leben einer Frau (in Korea)

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Ein Buch, das seit seinem Erscheinen für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, zahlreich gelobt und als brisanter "Glücksfall", "feministisches Meisterwerk" und wichtiges "Buch über Frauenbilder" gefeiert ...

Ein Buch, das seit seinem Erscheinen für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, zahlreich gelobt und als brisanter "Glücksfall", "feministisches Meisterwerk" und wichtiges "Buch über Frauenbilder" gefeiert wird, ist der koreanische Roman "Kim Jiyoung, geboren 1982" von Cho Nam-Joo. Und gerade aufgrund des gewaltigen Echos hat dieses Buch dann auch mein Interesse geweckt.

Cho Nam-Joo schildert in ihrem Roman exemplarisch das alltägliche Leben einer Frau in Korea bzw. berichtet eigentlich von den vorherrschenden Problemen zwischen den Geschlechtern auf der ganzen Welt. Ihre Protagonistin Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt. Sie leidet an einer psychischen Störung, deren Ursache tief in ihrem Leben und der vorherrschenden Gesellschaftsstruktur verankert ist. Nüchtern und distanziert berichtet nun Jiyoungs Psychiater vom Leben seiner Patientin. Kim Jiyoung wurde am 1.April 1982 in einer Klinik in Soul geboren. Als Mädchen, in einem Land, in dem man sich lieber männliche Nachkommen wünscht und nur diesen eine Sonderbehandlung zukommen lässt, musste sie stets ihren Weg finden. Sie musste sich beugen, sich gerade von den männlichen Figuren in ihrem Leben vorschreiben lassen, wie man sich zu verhalten hat. Und so erzählt er dann auch von ihrem Leben, ihren Erinnerungen an die Schulzeit, von Grundschullehrern und den strengen Uniformen für Mädchen, von ihrem tagtäglichen Kampf um Anerkennung und Gleichbehandlung auf der Arbeit und der versteckten Kamera auf der Damentoilette, den Bildern im Internet, dem Unverständnis, ihrem Familienleben und den Auseinandersetzungen vor der Geburt ihres eigenen Kindes. Er berichtet von den allgemeinen Erwartungen, von dem Leben einer Frau voller Frustration, Wut und Ungerechtigkeit und das dann so real, dass jede Leser*in sehr schnell und schmerzhaft bewusst wird, dass er beinahe von jeder Frau auf der Welt sprechen könnte.

"Ich habe doch dein Geld nicht geklaut. Ich habe ein Kind geboren, unter Schmerzen, und wäre beinahe daran gestorben. Ich habe auf mein Leben, meine Träume, meine Zukunft, ja mein ganzes Selbst verzichtet, um das Kind zu erziehen. Und dann bin ich plötzlich Ungeziefer. Was soll ich denn jetzt machen?"

Auch wenn diese Geschichte sehr eindrücklich zeigt, unter welchen schwierigen Voraussetzungen Frauen in den östlichen Ländern, aber auch weltweit, aufwachsen, leben und mit welchen Problemen sie alltäglich zu kämpfen haben, hat dieser Roman nur sehr wenig in mir ausgelöst. Gerade die ersten Abschnitte über die Kindheit der Mädchen in Korea, die Bevorzugung der Brüder und dieser Druck, der auf den Frauen lastet, einen Sohn zur Welt zu bringen, fand ich noch sehr erstaunlich und bedrückend. Auch wenn es, sofern man sich schon Mal mit dem östlichen Raum und den ärmeren Großfamilien dort beschäftigt hat, nichts Neues ist, so haben die Bilder in dieser komprimierten Form eine gewisse Wucht. Im weiteren Verlauf werden die Geschehnisse und Ansichten weltlicher. Die Benachteiligung im Job, die Gedanken, die die Geburt eines Kindes mit sich bringen oder die herablassenden Bemerkungen und Absichten des männlichen Geschlechts, Sexismus sind auch hierzulande keine Seltenheit. Leider habe ich gerade in diesen Abschnitten das Interesse an der Geschichte etwas verloren - Vielleicht weil der Roman nicht mitreißend genug ist, die berichtende Erzählweise generell recht unemotional, kühl und distanziert daherkommt, sodass ich überhaupt keine Nähe zur Protagonistin aufbauen konnte, oder weil es dann eben doch 'nur diese Standardprobleme' sind. Und eigentlich ist es dann schon wieder erschreckend, dass man selbst durch die andauernden Berichterstattungen und Diskussionen, ohne dass endlich mal eine Verbesserung der Situation und eine Gleichstellung erreicht wird, die geschilderten Ereignisse schon mehr als alltäglich wahrnimmt und irgendwie, da man selbst davon weniger betroffen ist, teils auch ermüdet. Aber es fehlt mir in diesem Roman auch einfach die Perspektive, eine starke Frauenfigur, die sich gegen das vorherrschende System stellt und die Erwartungshaltung der männlichen Figuren durchbricht. Kim Jiyoungs Mutter versucht zwar zaghaft ihren beiden Töchtern auch etwas Geld zur Seite zu legen und ihnen ihr Studium bzw. ein anständiges Leben zu ermöglichen und ihre Schwester bringt zumindest hier und da auch andere Vorstellungen mit ein, aber sonst? Kim Jiyoung beugt sich ständig, hält sich zurück, leidet und bleibt von Anfang bis zum Ende hin eine Betroffene.

"Hat ein Gesetz oder ein System Einfluss auf die Wertvorstellungen eines Menschen? Oder richten sich die Gesetze und Institutionen nach den Werten der Menschen?" sind zwei der wenigen Fragen, die ich für mich am Ende aus diesem Buch mitnehme. Irgendwie hätte ich mir mehr Lösungsansätze gewünscht. In meinen Augen sollten Romane per se viel mehr Vorbilder liefern, zeigen, dass es anders geht und die Frau eben nicht ständig zum Opfer degradieren. Und gerade mit dem letzten Absatz, in dem es dann auch nochmal heißt "Selbst die fähigste Mitarbeiterin kann der Praxis in vielerlei Hinsicht zur Last fallen, wenn sie das Problem der Kinderbetreuung nicht zufriedenstellend lösen kann. Ich werde also darauf achten müssen, eine unverheiratete Frau einzustellen." nimmt der Psychiater bzw. die Autorin noch einmal jegliche Perspektive und schubst ihre Protagonistin zurück in dieses elende Patriarchat. Und das soll es dann gewesen sein? Für Korea mag bereits das ein sehr krasses Buch sein und Cho Nam-Joo endlich mal eine Autorin, die die vorherrschenden Probleme und den Frust, die Wut, die Aufgabe und Unterordnung der Frau öffentlich anspricht, aber für unsere Breiten? Ich weiß nicht, aber unter einen "klugen und wichtigen" Weltbestseller hatte ich mir dann einfach viel mehr und vor allem wesentlich wegweisendere Bilder vorgestellt.

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