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Veröffentlicht am 06.03.2020

Alt werden heißt verlieren lernen

Dankbarkeiten
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„Es lässt sich nichts mehr teilen. Und jeder ihrer Versuche fällt in einen bodenlosen Brunnen, aus dem nie mehr etwas geborgen werden kann. Sie sucht in meinem Blick nach einen Indiz, einem Schlüssel, ...

„Es lässt sich nichts mehr teilen. Und jeder ihrer Versuche fällt in einen bodenlosen Brunnen, aus dem nie mehr etwas geborgen werden kann. Sie sucht in meinem Blick nach einen Indiz, einem Schlüssel, einen Umweg zum Ziel. Doch mein Blick bietet keine Hilfe, keine Umleitung. Die Straße ist gesperrt. Der Faden des Austauschs mit den anderen reißt. Das Schweigen siegt. Und nichts hält sie mehr zurück.“

Inhalt

Mischka Seld lebt nun in fortgeschrittenen Lebensjahren in einem Pflegeheim, da sie nicht mehr in der Lage ist allein klarzukommen, ihr Gedächtnis oder vielmehr die Sprache selbst kommt ihr abhanden. Zunächst sind es nur einzelne Wörter, bald fehlen ihr die Sätze, zum Schluss kann sie ihre Gedanken nicht mehr in Worte fassen. Das Alter mit seinen unerbittlichen Folgen hat sich eingenistet und zersetzt langsam aber stetig all das, was die junge Mischka, die selbstständige, energische Frau mit dem großen Herzen ausgemacht hat. An ihrer Seite gibt es nur noch zwei Menschen: zum einen Marie, eine junge Frau, die in ihrer Kindheit oft bei Mischka Zuflucht gesucht hat, wenn ihre eigene Mutter wieder einmal tagelang nicht da war, die damals und heute wie die Tochter der Betroffenen agiert und die sich nun schweren Herzens von dieser Frau verabschieden muss, die ihr immer eine Stütze war und zum anderen den Logopäden Jérome, der sich auf den Spracherhalt alter Menschen spezialisiert hat und mit ihnen kleine Übungen gegen das Vergessen unternimmt. Diese beiden treten als die Erzähler einer Geschichte auf, die den Lebensabend einer Frau miterleben und sich selbst dadurch in einem anderen Licht wahrnehmen. Und so entwickelt sich ein zartes Geflecht aus menschlicher Zuneigung, bei dem eine Person verliert und zwei andere gewinnen.

Meinung

Bereits im vergangenen Jahr war ich vom Roman „Loyalitäten“ der französischen Autorin Delphine de Vigan restlos begeistert, so dass ich sehr hoffnungsfroh und motiviert in diese Lektüre gestartet bin, immer in Erwartung einer ähnlich tiefsinnigen Handlung. Und ganz klar, auch „Dankbarkeiten“ trifft mitten in mein Leserherz und beleuchtet den Lebensabschnitt des Alters auf ungeschönte aber nicht restlos pessimistische Art und Weise. Vielmehr zielt diese kleine Erzählung auf die Notwendigkeit menschlicher Beziehungen ab, den gemeinsamen Austausch zwischen den verschiedenen Generationen und den unbedingten Hinweis, sich möglichst früh darüber Gedanken zu machen, wer oder was man im Alter sein möchte und welche Spuren auch dann noch sichtbar sein werden, wenn man nicht mehr lebt.

Sprachlich besticht das Buch mit einem klaren, aussagekräftigen Text, in dem generelle Sachverhalte ebenso wie Emotionen Platz finden. Gerade durch die beiden jüngeren Erzähler entsteht eine gewisse Perspektivenvielfalt, die nicht nur Mischkas Leben in den Mittelpunkt rückt, sondern auch Aspekte aus den Lebenswegen von Marie und Jérome. Die Leere, die entsteht, wenn alle Wörter verschwinden wird ganz besonders durch die wörtliche Rede sichtbar, bei der die alte Frau zunächst noch bestmöglich versucht sich zu artikulieren, schließlich nur noch Wortsilben bildet und letztlich aufgibt, anderen irgendetwas mitteilen zu wollen.

So wirkt der Grundtenor des Romans sehr traurig, was er letztlich auch ist aber niemals so bedrückend und schwermütig, dass es nicht auszuhalten wäre. Die Autorin schafft es immer genau im richtigen Moment von der Einzelsituation in allgemeine Aussagen zu wechseln oder umgekehrt das Schicksal Vieler auf ein Menschenleben zu reduzieren. Durch diesen Schachzug wirkt der Roman authentisch, greifbar und im richtigen Maße ausgleichend, so dass es geradezu zwingend notwendig erscheint, eigene Erfahrungen und Meinungen auf die Waage zu legen und mit dem Inhalt des Buches abzugleichen. Vor allem die generalistischen Aussagen über das Alter haben mich sehr nachdenklich gestimmt, weil man dem nur schwer etwas hinzufügen kann: „Alt werden heißt verlieren lernen. Das verlieren, was einem geschenkt wurde, was man gewonnen, was man verdient, wofür man gekämpft und woran man geglaubt hat, man würde es für immer behalten. Sich neu anpassen. Sich neu organisieren. Ohne zurechtkommen. Darüber hinweggehen. Nichts mehr zu verlieren haben.“

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für mein erstes Highlight 2020, einen Roman über das Leben selbst, das Alter im Besonderen und die Kraft der Einflussnahme nahestehender Menschen auf das Seelenheil anderer. Sicherlich fällt dieser Roman schon inhaltlich genau in mein Beuteschema, denn Bücher über den emotionalen Verlust diverser Dinge und Menschen lese ich ausgesprochen gerne, doch davon unabhängig schafft er es auch zärtlich zu berichten, warmherzig zu erzählen und letztlich eine gewisse Hoffnung zu beleben, über Spuren, die Menschen hinterlassen. Ich empfehle das Buch all jenen Lesern, die Traurigkeit gepaart mit Menschlichkeit mögen, die gerne mitfühlen und erleben, wie sich Protagonisten entwickeln und über sich hinauswachsen und die andererseits genügend Realitätssinn schätzen, um einzusehen das die Existenz zwar endlich, das Leben aber nicht umsonst ist.

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Veröffentlicht am 28.02.2020

Zwischen Liebe und Distanz

Ein wenig Glaube
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„Für ein Elternpaar gibt es keinen größeren Hoffnungsträger als das eigene Kind. Die Hoffnung in das eigene Kind zu verlieren – das ist so, als verlöre man den Glauben an die Welt. Und Lyle war ...

„Für ein Elternpaar gibt es keinen größeren Hoffnungsträger als das eigene Kind. Die Hoffnung in das eigene Kind zu verlieren – das ist so, als verlöre man den Glauben an die Welt. Und Lyle war trotz allem auch jetzt noch nicht gewillt, Shiloh einfach so aufzugeben.“

Inhalt

Das Ehepaar Hovde aus Wisconsin schaut auf ein langes, glückliches Eheleben zurück, welches sogar den Verlust des einzigen leiblichen Sohnes im Kleinkindalter verkraftet hat. Ihre Adoptivtochter Shiloh haben sie mit all der Liebe und dem Verständnis erzogen, wie sie es schon immer vorhatten. Doch obwohl die Tochter-Elternbeziehung nicht immer einfach war, lebt Shiloh nun mit ihrem 5-jährigen Sohn Isaac wieder zu Hause. Allerdings ist sie auf der Suche nach einem eigenen Heim für sich, ihr Kind und den neuen Mann an ihrer Seite. Als Lyle und Peg, den zukünftigen Mann ihrer Tochter kennenlernen, sind sie mehr als skeptisch, denn Steven ist Priester einer kleinen Glaubensgemeinschaft, die ihre Gottesdienste in einem alten Kino abhält. Der charismatische Mann hat Shiloh vollkommen für sich eingenommen und beansprucht auch den kleinen Isaac, der angeblich über Heilskräfte verfügt, die schwerkranke Menschen wieder gesunden lassen kann. Lyle und seine Frau, selbst Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinschaft, bezweifeln die Grundsätze der neuen Glaubensgemeinschaft und behalten ihren Enkel sehr genau im Blick. Doch die Zwietracht zwischen Isaacs Mutter und ihren Eltern wird immer größer, es scheint keine gütliche Einigung zu geben, so dass der Enkel immer seltener bei seinen Großeltern sein darf. Erst als eines Tages ein Mitglied der Sekte bei den Hovdes anruft, um ihnen verzweifelt mitzuteilen, dass sie ihren Enkel schnellstmöglich abholen müssen, um ein Unglück zu verhindern, scheint sich das Blatt zu wenden …

Meinung

Ein Familienroman der die Kluft zwischen dem Zusammenhalt untereinander und dem Glauben an einen Gott thematisiert, klang für mich nach einer äußerst intensiven, zweischneidigen Geschichte, auf deren Verlauf ich sehr gespannt war. Und da ich den amerikanischen Autor und seine Art zu Erzählen gern kennenlernen wollte, habe ich voller Vorfreude zu diesem Buch gegriffen.

Die gewählte Erzählperspektive aus Sicht des Familienoberhauptes, der mehrere Rollen erfüllt, sowohl als Ehemann, als auch als Vater und nicht zuletzt als Großvater, empfand ich sehr stark. Dadurch entsteht zwischen dem Leser und Lyle Hovde ein inniges, verständnisvolles Bündnis, bei dem man stark auf die Seite des Mannes gezogen wird, der seine Tochter vor ihrem persönlichen Unglück bewahren möchte. Das große Plus der Erzählung liegt auf dieser starken Vaterrolle, die genauestens beschrieben wird und deren Möglichkeiten und Grenzen immer wieder in den Vordergrund rücken. Besonders schön fand ich die fast idyllische Beziehung zwischen den Eheleuten, die damals wie heute immer am gleichen Strang gezogen haben. Aber auch ihr Unvermögen, trotz der liebevollen Kindheit, die sie ihrer Shiloh geschenkt haben, jene von eigenen Fehlentscheidungen abzuhalten und sie als Erwachsene zu beschützen. Dieser Aspekt, dass Eltern die Kinder irgendwann ziehen lassen müssen, um sie nicht zu verlieren ist hier äußerst empathisch, ehrlich und voller Lebensweisheiten herausgearbeitet wurden. Demnach ist es tatsächlich ein ganz toller Familienroman mit viel Gefühl.

Was mir jedoch über die gut 300 Seiten des Buches zu kurz kommt, ist der Konflikt zwischen dem Glauben an sich und der Zugehörigkeit zur Familie. Das mag zum einen daran liegen, das Shiloh keine eigene Stimme bekommt und nie ihre Ansicht über die Thematik äußern kann, zum anderen fokussiert sich der Text zu sehr auf Lyles Leben außerhalb seiner Familie, auf Freundschaften und Gesprächspartner, die mit dem Kern der Geschichte recht wenig gemeinsam haben. Deshalb gibt es auch nur wenig Reibungspunkte und alles wirkt sehr harmonisch, obwohl es gerade im letzten Teil dramatisch wird. Diese Dramatik verschwindet jedoch immer wieder zwischen guten Gesprächen, hoffnungsvollen Abenden und schönen Tagen auf der Apfelplantage eines befreundeten Ehepaares. Dieses „weichzeichnen“ des Konflikts Liebe versus Glauben konnte mich in der Summe nicht überzeugen und ich hätte mir mehr Biss in der Umsetzung und einen starken Antigonisten gewünscht, der nicht irgendwo zwischen den Seiten verschwindet.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen stimmungsvollen, harmonischen Familienroman, der sich mit der Elternrolle und ihren Möglichkeiten intensiv auseinandersetzt. Es ist eine schöne, stimmungsvolle Erzählung gespickt mit einer guten Portion Alltagsphilosophie und erzählt mit großmütigem Herzen. Und wer auf eine kraftspendende Geschichte hofft, in der nicht jede Entscheidung die richtige war, wird hier bestens unterhalten. Allerdings bleibt das Kernthema hinter meinen Erwartungen zurück, denn die Diskrepanz zwischen dem Glauben an eine höhere Macht und den gutgemeinten Ratschlägen der Familie wird hier zu wenig detailliert beleuchtet. Also mehr ein Wohlfühlbuch als eine dramatisch-intensive Lebensgeschichte.

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Veröffentlicht am 18.02.2020

Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte

Klara vergessen
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„Diese Natur hingegen feierte das stetige Erwachen eines Lebens, das immer anders und doch unveränderlich war. Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst.“

Inhalt

Juri ...

„Diese Natur hingegen feierte das stetige Erwachen eines Lebens, das immer anders und doch unveränderlich war. Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst.“

Inhalt

Juri Bondarew kehrt nach vielen Jahren in seine Heimat Russland zurück, um ein letztes Mal am Sterbebett seines Vaters zu stehen. Seiner Familie hat er schon in jungen Jahren den Rücken gekehrt, denn dort fand er weder Liebe noch Anerkennung. Sein Vater Rubin war Kapitän eines Fischtrawlers und bedachte ihn mit Strenge, Züchtigungen, später nur noch mit Verachtung und seine Mutter Reva hat all das hingenommen, ohne sich jemals schützend vor ihren Sohn zustellen.

Mittlerweile ist Juri erfolgreicher Ornithologe in Amerika, der sich seiner Vergangenheit nicht stellen möchte, weil er äußerst genau um ihre wunden Punkte weiß. Doch Rubin steht in seinen letzten Stunden ohnehin nicht der Sinn nach Versöhnung, vielmehr möchte er Juri für die Aufarbeitung der Familiengeschichte sensibilisieren, in deren Zentrum dessen Großmutter Klara stand. Jene Frau, die als erfolgreiche Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Geologie tätig war und in einer gewaltsamen Nacht- und Nebelaktion spurlos verschwand …

Meinung

Die französische Autorin Isabelle Autissier konnte mich bereits mit ihrem Roman „Herz auf Eis“ absolut begeistern, so dass ich „Klara vergessen“ mit einer entsprechend hohen Erwartungshaltung begonnen habe. Diesmal schildert sie aus drei Perspektiven heraus die Geschichte der russischen Familie Bondarew, die sich im totalitären System Stalins ebenso behaupten musste, wie in der Neuzeit. Damit ist ihr ein umfassender, beeindruckender Generationenroman gelungen, der einerseits die Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auf das Leben Einzelner zeigt und andererseits die Versöhnung mit einer dramatisch, bedauernswerten Vergangenheit im Rahmen einer persönlichen Spurensuche.

Die Erzählung besticht durch Vielfältigkeit, die sowohl politische als auch individuelle Entwicklungen in einen stimmigen Kontext setzt und sich letztlich mit dem Seelenfrieden und der Vergebung vergangener Entscheidungen beschäftigt. Darüber hinaus erzeugt sie durch einzigartige Naturbeschreibungen ein eisiges, unwirtliches Bild einer menschenverachtenden Umgebung, in der die Natur die Oberhand über Leben und Tod behält.

Fazit

Ich vergebe 4,5 sehr gute Lesesterne für diesen informativen, fesselnden Roman mit einem stimmungsvollen Hintergrund, der besonders für die russische Nachkriegsgeschichte begeistern kann und zudem authentisch, persönlich und betroffen wirkt, weil Emotionen oder deren Fehlen spürbar werden. Dennoch reicht meine Begeisterung nicht ganz an die ihres Vorgängerromans heran, was vielleicht am Gesamtkontext und der Stimmung selbst liegen mag, denn obwohl beide Bücher schriftstellerisch und sprachlich brilliant sind, bleibt hier nicht so viel Interpretationsspielraum, nachdem man die Lektüre beendet hat. Ein sehr empfehlenswertes Buch, dem ich gerne meine Lesezeit geschenkt habe und welches mehr bietet als bloße Unterhaltungswerte.

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Veröffentlicht am 08.02.2020

Eine Leerstelle, die neu gefüllt werden muss

Nach Mattias
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„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel ...

„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel mehr als das.“

Inhalt

So beschreibt der niederländische Autor Peter Zantingh seinen Text im Nachwort, der sich mit dem Leben der Bekannten, Freunde und Familie des jung verstorbenen Mattias beschäftigt, welche nach dessen Tod allein zurechtkommen müssen. Zunächst wäre da Amber, Mattias Freundin, die gerade an seinem Todestag im Streit mit ihm auseinandergegangen ist, oder Quentin sein Freund, mit dem er eigentlich in nächster Zeit eine Art Musikcafé eröffnen wollte. Und es folgen noch viele andere, die kurze, lange, intime oder oberflächliche Geschichten über den Verstorbenen erzählen, weil sie sein Leben in irgendeiner Weise berührt haben. Dadurch entsteht ein buntes Kaleidoskop an Einzelerzählungen, die sich ganz klar an der Zukunft orientieren, denn irgendwie muss das Leben nach Mattias weitergehen und das, was ihn ausmachte ist ohnehin tief im Herzen verankert, so dass sein Wirken zu Lebzeiten als Anlass genommen wird, die Zeit ohne ihn ein bisschen zu seiner Freude zu gestalten, vielleicht sogar nach seinem Willen.

Meinung

Am besten haben mir die Erinnerungen an Mattias gefallen, die alle Beteiligten aufleben lassen und die in ihrer Gesamtheit den Verstorbenen wieder lebendig machen, zumindest für den Leser. Es hat jeder ein etwas verschobenes Bild, oder besser gesagt, genau das, was Mattias demjenigen gegenüber preisgegeben hat. So trauert die Mutter um den Sohn, mit dem sie intensiv dessen Kindheit teilte, nicht jedoch sein Erwachsenenleben und die Freundin hadert mit seinen hochmotivierten Plänen und Luftgespinsten, die er nur selten verwirklichen konnte. Während der Freund merkt, dass ohne Mattias die Luft raus ist und der Motivator fehlt. Das alles ist empathisch, realistisch und lebensnah beschrieben.

Dennoch kann dieses Buch nicht ganz mein Herz erreichen, weil es mir für die Thematik zu leichtfüßig geschrieben ist und die Trauer der Hinterbliebenen nur einen ganz geringen Anteil ausmacht. Ich hätte mir gerne mehr Schwermut und auch einen intensiveren Blick in die Vergangenheit gewünscht. Dabei muss ich sagen, dass mir das Interview am Ende des Buches durchaus Verständnis gebracht hat, denn Peter Zantingh beschreibt sehr gut, worum es ihm bei seiner schriftstellerischen Arbeit ging. Er fragt sich z.B. welche Leerräume entstehen in Raum und Zeit, wenn man verstorben ist und wer oder was wird diese wieder füllen. Und genau dieses Bild hat er auch entworfen, es ist der Blick in die Zukunft mehrere Menschen, die wieder aufstehen, weitermachen und ihr Leben „nach Mattias“ gestalten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen lebensbejahenden Roman nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Ein Blick in die nahe und ferne Zukunft, in Folge eines persönlichen Schicksalsschlags, der ganz plötzlich das Leben in eine andere Bahn gelenkt hat. Es ist kein echter Text über Trauer und Verlust in seiner reinen Form, es ist kein schweres, belastendes Buch über einen geliebten Menschen und dem Abschied von ihm. Dadurch trifft es nicht ganz meine Erwartungshaltung, doch im Nachhinein ist es nur ein anderer Blickwinkel, der hier eingenommen wird und wenn man sich der Perspektive des Autors anschließt ist es ein wunderbares, hoffnungsfrohes Buch, welches zeigt, wie wichtig vielschichtige Beziehungsgeflechte zwischen Menschen sind und das die Lücke, die ein Einzelner hinterlässt zwar geschlossen werden kann, doch die Erinnerung an ihn bleibt lebendig.

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Veröffentlicht am 28.01.2020

Das meiste bleibt unerwähnt aber unvergessen

Sweet Sorrow
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„Und damals kam mir der Gedanke, dass die größte Lüge, die die Alten über die Jungen erzählen, ist, dass die Jugend frei von Ängsten, Sorgen und Befürchtungen ist. Verdammt, kann sich denn wirklich ...

„Und damals kam mir der Gedanke, dass die größte Lüge, die die Alten über die Jungen erzählen, ist, dass die Jugend frei von Ängsten, Sorgen und Befürchtungen ist. Verdammt, kann sich denn wirklich keiner mehr erinnern, wie das war?“

Inhalt

Charlie Lewis erzählt rückblickend nicht nur die Geschichte seiner ersten großen Liebe, sondern lädt den Leser ein, in seine Zeit als Teenager, die für ihn die gesamte Gefühlspalette bereithielt. Angefangen bei seinen immer schlechter werdenden schulischen Leistungen, hin zu einem von Sorgen angereicherten häuslichen Dilemma, nachdem sich seine Eltern getrennt haben und er allein beim depressiven Vater bleiben muss, während seine Schwester mit der Mutter wegzieht. Über einen recht eigenwilligen Freundeskreis, der nur wenig Perspektiven bietet, bis hin zu seiner großen Herausforderung namens Fran, die ihn sofort in ihren Bann zieht und ihm durch das gemeinsame Mitwirken an einer Theaterinszenierung immer näherkommt. Nun ist Charlie erwachsen und steht kurz vor seiner Hochzeit, da bietet sich eine Gelegenheit, die Theatergruppe von damals noch einmal wiederzusehen, nach 15 Jahren, die ganz entscheidend für alle Beteiligten waren und Charlies Neugier ist geweckt, was wohl aus den Menschen von damals geworden ist und ob sie alle ihren Weg gefunden haben …

Meinung

Vor einigen Jahren habe ich bereits „Zwei an einem Tag“ von David Nicholls gelesen, ein Roman über die Liebe, der mich begeistern konnte und mir tolle Lesemomente beschert hat, deshalb war ich auf die aktuelle Story rund um den Teenager Charlie und seine erste große Liebe sehr gespannt. Aber so ganz kann diese Erzählung nicht an meine ersten positiven Leseerfahrungen anschließen. Möglicherweise bin ich mit der falschen Erwartungshaltung in die Lektüre gestartet, die für mich ganz eindeutig eine Liebesgeschichte sein sollte, die den einen Sommer, der alles verändert in Worte kleiden sollte. Doch dieses Buch ist viel mehr als nur die Betrachtung eines verliebten Jungen auf seine Jugendliebe, es ist die Geschichte seines Erwachsenwerdens, mit sämtlichen Eckpunkten, die für junge Menschen relevant sind und sich als wichtig erweisen.

Wenn man sich darauf einlassen kann, dass es ein Coming-of-Age Roman, mit vielen Bausteinen ist, bei dem die Liebe zwar eine Rolle spielt, aber nicht die alles entscheidende, dann hat man an der Lektüre sicherlich viel Freude. Der Autor hat einen wunderbar sympathischen, humorvollen Schreibstil, der nicht nur oberflächlich an der Gefühlswelt seiner Protagonisten kratzt, sondern deren Gedankengänge nachvollziehbar werden lässt. Viele Passagen des Textes werden durch die wörtliche Rede ausgeschmückt, erlebbar in intensiven Dialogen, die nur hin und wieder unterbrochen werden. Dadurch entstehen Bilder vor dem inneren Auge und die handelnden Personen bekommen ein Gesicht und eine Rolle, nicht nur im Theaterstück „Romeo und Julia“, welches sie inszenieren, sondern auch im Leben.

Dennoch bin ich mit dem Gesamteindruck der Geschichte nicht ganz warm geworden, was einerseits daran liegen mag, dass ich mir viel mehr Innerlichkeit zwischen Charlie und Fran gewünscht hätte, die nach ihrem Zusammenkommen, doch nur sehr kurz ein Liebespaar waren. Und zum anderen an den Längen, die sich immer wieder einschleichen, sei es durch Szenen beim Theater oder Eindrücke aus Charlies Leben, die sich weit von einer Liebesgeschichte entfernen. Mir hätte das Buch besser gefallen, wenn es nicht ein Mix aus all diesen kleinen Erlebnissen gewesen wäre, sondern sich zielgerichtet auf etwas konzentriert hätte.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen Roman über das Erwachsenwerden begleitet durch zahlreiche Menschen, die alle ihren Anteil an der Entwicklung des Protagonisten hatten. Einfühlsam und realistisch spiegelt sich die Zeit der Jugend mit all ihren Ängsten und Problemen wider und offenbart gleichermaßen einen gewissen Weitblick, wenn man die Vergangenheit aus der Perspektive eines Erwachsenen betrachtet. Das Ende des Romans stimmt versöhnlich - dass jede Zeit im Leben ihre Überraschungen bereithält, ihre Herausforderungen stellt und ihre Spuren hinterlässt. Nur für eine Liebesgeschichte, die ich mir erhofft hatte, fehlte mir eindeutig die entsprechende Interaktion zwischen den Beteiligten.

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