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Veröffentlicht am 24.02.2019

Der Wandel - die Mauer - das Meer

Die Mauer
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„Du wirst etwas über dich selbst herausfinden. Du wirst herausfinden, wie du dich verhältst, wenn das Schlimmste passiert. Du wirst herausfinden, ob du immer noch du bist.“


Inhalt


Joseph ist ein junger ...

„Du wirst etwas über dich selbst herausfinden. Du wirst herausfinden, wie du dich verhältst, wenn das Schlimmste passiert. Du wirst herausfinden, ob du immer noch du bist.“


Inhalt


Joseph ist ein junger gesunder Brite, der wie alle seine Landsleute, egal ob männlich oder weiblich seinen Dienst auf der Mauer ableisten muss. Diese Betonmauer umgibt sein ganzes Land und dient zum Schutz vor „den Anderen“ all jenen Menschen also, die jenseits der Mauer leben und um jeden Preis versuchen, hinüberzugelangen. Für genau zwei Jahre muss jeder Verteidiger auf der Mauer sein Land beschützen, bis in den Tod hinein, oder schlimmer noch – gelingt es den Anderen die Mauer zu erklimmen, dann werden ebenso viele Verteidiger dem Meer übergeben, um dann selbst zu sehen, wie sie auf der unwirtlichen Seite des Lebens weiterexistieren können. Gefangen zwischen körperlichen Trainingseinheiten, zähen Stunden des Wartens auf Nichts, eisiger Kälte und kaum menschlichen Kontakten richtet sich Joseph in seinem gegenwärtigen Leben ein, findet sogar in seiner knappen Freizeit eine junge Frau, die er liebt und die ebenfalls ihren Dienst ableistet und beginnt schon von einem Leben „danach“ zu träumen. Doch eines Nachts kommt es zu einem Stromausfall und „den Anderen“ gelingt es eine Bresche zu schlagen und ins Landesinnere zu flüchten und für Joseph ist damit sein Leben in Großbritannien Vergangenheit. Gemeinsam mit einigen anderen Verteidigern wird er in ein Rettungsboot gesetzt und weit hinaus aufs offene Meer gebracht …


Meinung


John Lanchester, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern und führenden Intellektuellen Englands und hat mit diesem Buch gewissenmaßen den Roman der Stunde geschrieben, in Anbetracht einer politischen Entwicklung, deren Themen Migration, Klimawandel und Brexit sind. Und dennoch wirkt diese Dystopie mehr wie ein Gedankenexperiment und viel weniger als eine Anklageschrift. Denn die politischen Handlungsspielräume sind hier längst schon ausgeschöpft und eine Generation von Menschen ist herangewachsen, die nur die Zeit nach „dem Wandel“ kennt und nicht mehr die Möglichkeiten der freien Wahl.

In ihrer gegenwärtigen Situation ist jede Abweichung tödlich und jede Alternative noch schrecklicher als der Status-Quo. Auch daraus resultiert die unterschwellige Botschaft des Buches, an die dortige Elterngeneration, die für den Lebensstandard von ihren Kindern verantwortlich gemacht wird und nur wenig Liebe und Verständnis erfährt, weil sie es waren, die die Zeitrechnung in ein davor und ein danach geteilt haben.

Prinzipiell konnte mich diese Dystopie wirklich fesseln und da sie von diversen Aktionen lebt, wirkt sie stellenweise wie ein Abenteuerroman der Zukunft. Doch sie spart allzu viel Fiktion aus und stützt sich vielmehr auf die philosophischen Betrachtungsmöglichkeiten in lebensgefährlichen Situationen. Was zunächst nur eine weit entfernte Strafe zu sein scheint, wird nunmehr Wirklichkeit.

Menschen generell sind ihren Vorgesetzten ausgeliefert und darauf angewiesen um ihr Leben zu kämpfen, Rechte und Pflichten sind klar strukturiert und in der Gesellschaft ist kein Platz für schwache Charaktere, egal ob sie körperlich oder mental angegriffen sind, wer nicht die Norm der geforderten Leistung erfüllt, wird verstoßen. Und so kommt die Hoffnungslosigkeit, die Wut auf das vorhersehbare Leben, die Angst vor dem Eintreten des Allerschlimmsten und damit auch die Angst des Versagens auf die Menschen zu. Geschildert wird ein Dasein wie in einem kriegsähnlichen Zustand, nur das der Feind vielmehr im Inneren des Individuums lauert als im tatsächlichen Angriff. Wirst du töten, wenn du musst? Kannst du retten, wen du liebst? Wirst du verzweifeln, wenn dir alles genommen wird? Lohnt sich dein Leben überhaupt?


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen dystopischen Roman, der viel Atmosphäre schafft und sich auf das Menschsein an sich konzentriert. Es hat mir sehr gut gefallen, dass hier weniger die Unvorstellbarkeit der Handlung im Zentrum des Textes stand, sondern vielmehr der Umgang des Individuums mit den gestellten Anforderungen. Dadurch wurde für mich der Inhalt viel besser greifbar, insbesondere weil mir Dystopien ohne diese menschliche Komponente oftmals zu weltfremd und weit hergeholt erscheinen. Ein gelungener Unterhaltungsroman mit Mehrwert bezüglich der allseits relevanten Frage: „Was für ein Mensch willst du sein?“.

Empfehlenswert für alle Leser, die sich auf die Situation einlassen wollen und nicht auf die Hintergründe der Entwicklungen wert legen. Denn dafür gibt es den halben Punkt Abzug: Die Frage nach dem Sinn und Zweck der Gegenwart, die politischen Hintergründe im Vorfeld und die Greifbarkeit der Entscheidungen werden nur wenig beleuchtet und man findet sie auch nur schwer zwischen den Zeilen, doch dafür ist es ein fiktiver Roman und deshalb kann ich mich damit arrangieren.

Veröffentlicht am 13.12.2018

Die Seelenbräute des Propheten

Totengrund
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„Er brauchte keine Kostümierung, keinen auffälligen Glitter und Tand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu fesseln. Sein Blick allein, so durchdringend wie Röntgenstrahlen, zog unweigerlich jedes Augenpaar ...

„Er brauchte keine Kostümierung, keinen auffälligen Glitter und Tand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu fesseln. Sein Blick allein, so durchdringend wie Röntgenstrahlen, zog unweigerlich jedes Augenpaar im Saal auf sich.“


Inhalt


Nach einem Ärztekongress beschließt die Rechtsmedizinerin Maura Isles mit ihrem Jugendfreund Douglas und dessen Bekannten einen kleinen Ausflug zu unternehmen, bevor sie sich wieder in den Flieger setzt und nach Hause zurückkehrt. Doch der Wintereinbruch in Wyoming macht ihnen einen Strich durch die Rechnung, ihr Auto kommt auf der menschenleeren Straße nicht weiter und auf Grund der kalten Temperaturen müssen sie sich einen Unterschlupf suchen. Ganz in ihrer Nähe befindet sich die geschützte Siedlung Kingdom Come, in der seltsamerweise alle Häuser nicht nur gleich aussehen, sondern aus unersichtlichen Gründen leer stehen. Die Bewohner scheinen Hals über Kopf geflüchtet zu sein, nur ein erfrorener Hund ist auffindbar. Als Notunterkunft dienen die Häuser aber allemal. Erst als einer der Mitreisenden schwer verletzt wird, nachdem er mit seinem Bein unter die Schneeketten des Fahrzeugs geraten ist, und nach vielen Tagen immer noch keine Hilfe naht. Macht sich Maura notgedrungen mit Schneeschuhen auf den Weg in die nächste Stadt. Doch auch dort kommt sie nicht an, denn ein junger Mann, angepasst an ein Leben in der Wildnis, entführt sie auf ihrem Weg und behauptet er bewahre sie vor einer großen Gefahr – und tatsächlich, als Maura einige Zeit später auf die Siedlung einen Blick erhascht, sind dort alle Hütten verbrannt und ihr Entführer behauptet, das dies noch lange nicht das Ende einer groß angelegten Aktion sei …


Meinung


„Totengrund“ ist der nunmehr achte Band aus der Rizzoli-Isles-Reihe der Bestsellerautorin Tess Gerritsen und bringt, anders als sein Vorgänger, wieder richtig Leben in die Geschichte über die Rechtsmedizinerin Dr. Isles und ihre befreundete Polizistin Jane Rizzoli. Grund dafür ist das spannende Setting, welches hier gewählt wurde. Eine kleine Menschengruppe, gefangen im Schnee, angewiesen auf die Hilfe anderer, abgeschottet von der Außenwelt und in greifbarer Gefahr, selbst wenn der Leser diese zunächst mehr ahnt als tatsächlich erkennt.


Der Handlungsaufbau konzentriert sich hier auf zwei Ebenen: zum einen die Erlebnisse von Maura vor Ort, die stellenweise sehr gruselig sind, zum anderen die fieberhafte Suche der Polizei nach den Vermissten, in einem Wettlauf gegen die Zeit. Im Nacken sitzt dem Leser dabei die latente Unruhe, dass all die Ereignisse geplant waren, das im Dunkeln noch das Böse lauert und die Gefahr sich ganz in der Nähe befindet und dennoch nicht sichtbar zeigt.


Abgerundet wird die Geschichte um das Verschwinden und die Suche von einer immer detaillierter werdenden Bedrohung durch die Mitglieder einer Sekte. Genannt wird sie „Die Zusammenkunft“ und ihre Mitglieder waren die Bewohner der verkohlten Siedlung. Unter Führung ihres Propheten Jeremiah Goode scharen sich dort viele Frauen und junge Mädchen um nur wenige Männer, die sich unter ihnen ihre Seelenbraut aussuchen dürfen, oder auch gleich mehrere, wenn es sie danach gelüstet. Doch da keiner genau benennen kann, welche Verbrechen sich hinter der gut geschützten Fassade ereignet haben, gehen die Missbräuche im Inneren munter weiter. Nur Maura lernt mit ihrem jugendlichen Entführer im Schnee eine ganz andere Seite kennen, denn Julian Perkins, so sein offizieller Name, war einst ebenfalls Bewohner der Siedlung Kingdom Come …


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen temporeichen aber geheimnisvollen Thriller über die Abgründe hinter einer gut geschützten Fassade. Immer wieder besticht die Handlung durch unvorhersehbare Wendungen, so dass man als Leser das Gefühl hat, immer ganz kurz vor der Lösung zu stehen, um dann doch keine Antwort zu erhalten. Ein psychologisches Nervenspielchen zwischen den Betroffenen, den Drahtziehern im Hintergrund und den leicht verwirrten Lesern, die bald in jedem eine echte Bedrohung entdecken. Empfehlenswert ist das Buch für alle, die ein Faible für Sekten und die ganz spezielle Gruppendynamik haben und sich gern auf eine Entdeckungsreise zwischen Angst, dunkler Gefahr und latenter Bedrohung begeben. Das ideale Buch für winterliche Schmökerstunden mit Nervenkitzel

Veröffentlicht am 04.12.2018

Sterben kann ewig dauern

Die Chemie des Todes
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„Eine solche Sache holt das Schlimmste aus jedem heraus. Manham ist ein kleiner Ort. Und kleine Orte erzeugen kleine Geister. Vielleicht bin ich übermäßig pessimistisch. Aber wenn ich du wäre, wäre ich ...

„Eine solche Sache holt das Schlimmste aus jedem heraus. Manham ist ein kleiner Ort. Und kleine Orte erzeugen kleine Geister. Vielleicht bin ich übermäßig pessimistisch. Aber wenn ich du wäre, wäre ich auf der Hut.“


Inhalt


David Hunter flieht vor seinen schmerzhaften persönlichen Erinnerungen, die ihn immer wieder an den Unfalltod seiner geliebten Frau und der gemeinsamen Tochter erinnern von London in die Kleinstadt Manham. Dort möchte er an der Seite des ansässigen Allgemeinmediziners Henry Maitland Fuß fassen und ein neues Leben beginnen. Doch kurz nach seinem Erscheinen beginnt eine Mordserie, bei der es der Täter auf junge, attraktive Frauen abgesehen hat, die angeblich keine Feinde hatten. Bedächtig wählt er seine Opfer aus, und schickt ihnen kurz vor der Entführung eine kleine Warnung, indem er ihnen geschändete Tiere schenkt. Gegen seinen Willen wird David bald in die Mordermittlung involviert, nicht nur weil er die Opfer kannte, sondern vor allem wegen seiner beruflichen Qualifikation, die im Rahmen der Aufklärungsarbeit von höchster Bedeutung ist. Sein Wissen über die Verwesungsprozesse des menschlichen Körpers führen dazu, dass sich der mögliche Täterkreis weiter eingrenzt, doch von einem durchschlagenden Erfolg ist die Polizei noch weit entfernt. In der Zwischenzeit wird schon die nächste Frau entführt, und mit dieser hatte David gerade die Hoffnung auf eine neue Liebe entdeckt …


Meinung


Der britische Bestsellerautor Simon Beckett startet seine David-Hunter-Reihe mit einem bedrückenden, eher stillen und dennoch grausigen Geschehen, welches stellenweise sehr detailliert die Verwesungsvorgänge im Inneren eines menschlichen Körpers schildert, wenn dieser der Natur anheimfällt, nachdem ihm tödliche Verletzungen zugefügt wurden. Sehr umfassend und eindringlich beschreibt Beckett aber nicht nur den Tod, sondern auch die lebendigen Akteure seiner Geschichte. Der Schauplatz einer Kleinstadt bietet sich dafür hervorragend an, wachsen dort das Misstrauen und die latenten Feindschaften doch viel schneller als in großen Gemeinden, weil jeder jeden kennt und Fremde ganz genau unter die Lupe genommen werden.


Für Abwechslung sorgt die gewählte Erzählperspektive, denn obwohl David Hunter direkt an der Mordserie beteiligt ist, nimmt er weder die Rolle des Opfers, noch die des Täters ein und er ist auch nicht der leitende Polizist. Dieser Blickwinkel erlaubt ein gleichermaßen nahes, wie differenziertes Modell bezüglich der Mordserie und ihres Verlaufes. Als Leser ist man weder zu nah dran, um direkt zu erahnen, was der Täter möchte, noch sind einem die Hände gebunden, wie es manchmal aus Sicht der Beamten geschehen kann. Dadurch ergibt sich natürlich auch ein hoch dramatischer Handlungsverlauf, denn Zivilisten treffen nicht immer gute und sichere Entscheidungen, ganz besonders dann nicht, wenn die Opfer ihre besondere Aufmerksamkeit haben.


Dennoch gelingt es dem Autor alle Positionen deutlich zu charakterisieren, er fühlt sich in die aussichtlose Lage des Opfers ein, beleuchtet aber auch die verstörenden Gedankengänge des Täters und nimmt Teil am auseinanderbrechenden Gemeindeleben, bei dem der Pfarrer plötzlich zum Richter wird und die unscheinbare Hausfrau dunkle Vorahnungen hat.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen sehr stimmungsvollen, effektiven Thriller, der auf positive Art und Weise eine intensive, dunkle Geschichte erzählt, die sich immer nah an der Realität bewegt. Eine gut nachvollziehbare ausgereifte Handlung, die gleichermaßen Spannungs- wie Aufklärungsmomente hat und einen objektiven, ehrlichen Hauptprotagonisten, dem man seine Entscheidungen abkauft. Empfehlenswert für alle Leser, die gerne das Subtile mögen und fehlende Action nicht mit Spannungsarmut gleichsetzen, denn sowohl Menschen als auch ihre Interaktionen bilden den Kern der Geschichte und so sind es auch ihre Verfehlungen, die als Motivator für mörderische Aktivitäten dienen – keine Hetzjagd, keine Polizeigewalt, nur das langsame, stetige Voranschreiten einer ablaufenden Zeit …

Veröffentlicht am 20.10.2018

Engel im Elend trifft den Typ mit der Idee

Die Hungrigen und die Satten
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„Aber hier gibt es nichts. Hier gab es auch vorher nichts, und deshalb ist hier alles gleich, überall nur eine dicke Zeltschicht auf dem staubigen, verdorrten, versengten Boden. Der Blick geht über die ...

„Aber hier gibt es nichts. Hier gab es auch vorher nichts, und deshalb ist hier alles gleich, überall nur eine dicke Zeltschicht auf dem staubigen, verdorrten, versengten Boden. Der Blick geht über die Zeltdächer in die endlose Weite, ein weißgekräuseltes Planenmeer, zwischen dessen Wellen dunkle Menschen treiben, Hunderte und Hunderte …“


Inhalt


Die omnipräsente Berichterstatterin Nadeche Hackenbusch startet mit einer Live-Story der Extraklasse im deutschen Fernsehen durch. Was anfangs nur eine humanitäre Hilfsaktion über einen begrenzten Zeitraum sein sollte, bekommt durch den motivierten Flüchtling Lionel ein ganz neues, medientaugliches Format. Nadesche und Lionel sind nicht nur ein frisch verliebtes Paar, nein, sie sind wahre Mediengurus und begeistern und erschrecken die Bevölkerung mit ihrer gewagten Aktion gleichermaßen. Mit 150.000 Menschen starten sie einen Feldzug von Afrika nach Deutschland zu Fuß, marschieren mit ihrem Tross durch zahlreiche Länder und bleiben einfach nicht stehen. Was anfangs noch ein imposanter Medienrummel zu sein scheint, verkommt nach und nach zur realistischen Bedrohung. Denn in der Türkei angekommen, sind es mittlerweile 300.000 Flüchtlinge geworden und es sieht nicht so aus, als könnte irgendetwas diese Menschenmassen aufhalten. Der deutsche Innenminister braucht eine unschlagbare Waffe, um seine Landesgrenzen zu schützen, doch wer möchte schon die Verantwortung für eine tödliche Massenexekution tragen?


Meinung


Der deutsche Autor Timur Vermes, der bereits mit seinem Debütroman „Er ist wieder da“ für Furore sorgte, widmet sich in seinem aktuellen Roman einer ebenso politischen, wie aktuellen Debatte um das Problem der immer zahlreicher werdenden Flüchtlingsströme, die mit aller Gewalt nach Europa drängen und jedwede Belastung auf sich nehmen, um ein Leben in Frieden zu führen. Dabei ist dieses Werk vor allem sehr radikal, vielmals überspitzt und doch sehr beklemmend und realistisch umgesetzt. Eine innovative, humorvolle Gesellschaftskritik, bei der ganz klar wird, welche Machtkämpfe zwischen den Gewinnern und Verlierern stattfinden, auch wenn alles in geordneten Bahnen abläuft. Denn nicht nur die Aussichtslosigkeit der Bevölkerung in den Ländern ihrer Heimat wird sichtbar, sondern auch ihre Unerwünschtheit in der Fremde.


Dieses Buch hat mich wirklich begeistert, vor allem weil es so humorvoll und satirisch daherkommt und sowohl die Politik, als auch die Aasgeier der Medienbranche durch den Kakao zieht, ihre Schwächen offenlegt und sie zu den Geächteten deklariert und zum anderen, weil die Idee eines Flüchtlingszuges mit der entsprechenden Logistik und den menschlichen Anstrengungen ausgezeichnet und sehr einprägsam dargestellt wird. Man kann laut lachen, über Nadesches neues Image als Engel im Elend oder sich fasziniert dem Flüchtling Lionel zuwenden, der eigentlich nur allein nach Deutschland wollte und schließlich zum Helden einer Menschenmenge avanciert. Und was mir mindestens genauso gut gefallen hat, ist der Wechsel von einem unterhaltsamen, politischem Roman zu einem bedrückenden, fast schon beängstigendem Szenario, dem eine einzige Entscheidung keinen Einhalt mehr gebieten kann.


Auch die Protagonisten, die hier auf der Bühne stehen, bekommen ein klassisches Profil, so dass man sie bildlich vor Augen hat. Egal ob es die etwas dümmliche, gutaussehende Moderatorin ist, oder der geldgeile, skrupellose Medienboss – jeder steht nicht nur stellvertretend für eine ganze Meute an Personal, sondern gleichermaßen für sein öffentliches Image. Man scheint sie irgendwoher zu kennen, selbst wenn sie andere Namen und Gesichter haben, man fühlt sich als Leser gleichermaßen übergeordnet und eingegliedert.


Dieser Roman bleibt in Erinnerung, nicht nur weil er so anders ist als man erwartet, sondern vor allem, weil sich die Bilder, die er entwirft ins Gedächtnis fressen. Eine Verfilmung stelle ich mir hier auch sehr amüsant und attraktiv vor, sie drängt sich regelrecht auf, stehen doch die Ereignisse, die zwischenmenschlichen Agitationen und die übergeordneten Entscheidungen immer im Mittelpunkt. Beim Lesen braucht man Ruhe und auch Konzentration, weil sich der Lesefluss nicht ganz so flüssig einstellt, wie erhofft. Doch das ist kein nennenswerter Kritikpunkt, gleicht doch die Dichte der Erzählung diesen kleinen Mangel wieder aus.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen innovativen Roman, der die Deutschen und ihr derzeit aktuelles Problem der anrückenden Flüchtlingsmassen gekonnt in Szene setzt. Einprägsam und unterhaltsam, realistisch und bedrückend, aktiv und hilflos – Politiker, Journalisten, und Menschen in Not, die agieren um glaubwürdig zu bleiben, die spekulieren, um Quote zu machen und die nicht anhalten, um zu überleben. Empfehlenswert für alle Leser, die den etwas anderen Blick auf die politische Gesamtsituation werfen möchten und sich auch über das Buch hinaus mit der aufgeworfenen Debatte auseinandersetzen möchten. Den Erstlingsroman des Autors werde ich sicherlich noch lesen, nachdem ich mich hier von seiner Erzählweise überzeugen konnte.

Veröffentlicht am 13.09.2018

Die Anziehungskraft der Mächtigen

Der Junge auf dem Berg
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„Aber du bist noch jung, du bist erst sechzehn; du hast noch viele Jahre vor dir, um zu verarbeiten, dass du bei all dem mitgemacht hast. Aber red dir nie ein, du hättest von nichts gewusst.“


Inhalt


Pierrot ...

„Aber du bist noch jung, du bist erst sechzehn; du hast noch viele Jahre vor dir, um zu verarbeiten, dass du bei all dem mitgemacht hast. Aber red dir nie ein, du hättest von nichts gewusst.“


Inhalt


Pierrot Weber wächst in Frankreich auf, als Sohn eines Deutschen und einer Französin. Doch als seine Eltern nur wenige Jahre nacheinander versterben, steht der kleine Junge allein da. Zunächst kommt er in ein Waisenhaus, doch schon wenig später ergibt sich für ihn die Möglichkeit zu seiner leiblichen Tante Beatrix nach Österreich zu ziehen. Diese ist Angestellte im Berghof, einer ganz besonderen Residenz, die Adolf Hitler als Erholungsort nutzt. Pierrot darf sich fortan nur noch Peter nennen, soll seine französische Herkunft um jeden Preis verschweigen und seinen jüdischen Freund aus glücklichen Tagen möglichst bald vergessen. Alles, was dem Führer ein Dorn im Auge sein könnte, muss unbedingt vermieden werden. Und obwohl Peter das nicht versteht und sich keinen Reim darauf machen kann, macht er alles so, wie ihm befohlen wird. Schon bald findet der Junge sogar Gefallen an den schicken Uniformen, den großen Zielen des Führers und dessen engagierter Politik. Peter beobachtet, wie leicht es sich lebt, wenn man Macht ausübt, wie andere zurückweichen, wenn man harte Töne anschlägt und dass er sich doch recht gern an seinem Vorbild Adolf Hitler orientiert. Nur die Schattenseiten dieses Daseins erkennt Pierrot zu spät, die verhängnisvollen Entscheidungen, das Scheitern eines ganzen Systems, von dem der Junge nur wenig selbst erkannt und fast alles nur übernommen hat …


Meinung


Der irische Bestsellerautor John Boyne widmet sich auch in diesem Roman wieder dem Leben während des Nationalsozialismus aus der Sicht eines Kindes. Diesmal legt er Wert darauf zu zeigen, wie sich ein unschuldiges Kind in unmittelbarer Nähe zur Willkürherrschaft verändert und wohin all die Menschlichkeit verschwindet, die doch einst erlernt und gelebt wurde. Dabei setzt er auf die Naivität eines Jungen, auf seinen Wunsch nach Anerkennung und Zuwendung, auf sein Urvertrauen in die Richtigkeit erwachsener Entscheidungen – nur das ebenjener Junge den falschen Leuten vertraut und nicht durchschaut, dass jedes Lob nur auf Gehorsam basiert und jeder Fehltritt hart bestraft wird.


Ganz klar, ich bin ein großer Fan des Autors, vor allem weil seine Geschichten immer mein Herz erreichen, weil er sich grandios in die Gedankenwelt eines Kindes hineinversetzt und den Leser mitnimmt auf eine vereinfachte Form der Welt ringsherum. Der Schreibstil selbst ist denkbar einfach gehalten, in klaren überschaubaren Sätzen mit einem eindeutigen Handlungsverlauf, so dass auch jüngere Leser den Text sehr gut erschließen können.

John Boyne erschafft im ersten Teil eher eine mitleidige Stimmung des Lesers bezüglich des Hauptprotagonisten, welche aber im Folgenden immer mehr verkümmert, weil sich Peter zu einem Abbild des Hausherren entwickelt und damit viele Sympathien verliert. Sehr gelungen fand ich in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass sich Peter auf sein Wesen sehr viel einbildet und es partout nicht versteht, warum ihm alle so abweisend und kalt begegnen. Die Schuld sucht er nicht bei sich selbst und Widerworte duldet er nicht.

Auf anschauliche Art und Weise wird hier gezeigt, welche Anziehungskraft die Mächtigen haben, wie leicht und beeinflussbar das Wesen eines Kindes ist und wie schnell Bewunderung in fatale Verhaltensweisen umschlagen kann. Ein kleines Manko hat das Buch aber doch: es arbeitet als Zeitraffer, presst die vielen Jahre nachdem der Führer abgesetzt wurde und aus dem jungen Pierrot ein Mann geworden ist auf nur wenige Seiten der Erzählung. Dadurch verliert der Roman in der zweiten Hälfte etwas an Gewichtung, lässt Wichtiges aus, bleiben Lücken bestehen. Selbst das Erwachsenwerden des Protagonisten bleibt blass, er selbst scheint nach wie vor gefangen in seinem kindlichen Leben und damit liegt die Aussagekraft des Buches etwas unter Wert.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne für diesen besonderen Roman, erzählt aus kindlicher Perspektive, der ein Leben am Rande der Wirklichkeit schildert und die Frage nach Schuld und Unwissenheit aufwirft, sie aber gewissenmaßen unbeantwortet lässt. Empfehlenswert ist der Roman für alle, die sich gerne in Geschichten hineinversetzen, für jüngere Leser, die nicht unbedingt auf Bedeutungsschwere und einen logischen Aufbau Wert legen. Generell würde ich dieses Buch ins Genre Kinder-und Jugendliteratur einsortieren, als Roman hat es wenig Bestand. Dennoch hat mir auch diese Geschichte schöne Lesestunden beschert, die ich selbst meinem 5-jährigen Sohn in Ansätzen erklären konnte.