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Veröffentlicht am 02.09.2019

Im Wandschrank des Vertrauens

Alles still auf einmal
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„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob ...

„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob keiner richtig Abschied von ihm nimmt. Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte alle angeschrien, dass sie aufhören sollen, über meinen Bruder zu lügen.“


Inhalt


An der Schule des kleinen Zachary Taylor bricht von einer Sekunde zur nächsten das Chaos los, als ein bewaffneter Amokläufer die Türen der Klassenzimmer aufreißt und wahllos auf die Kinder und Lehrer feuert. Geistesgegenwärtig versteckt seine Lehrerin die Kinder und sich selbst im Wandschrank und hofft auf ein glückliches Ende der Situation. Doch nachdem die Polizei den Amokläufer stoppen konnte, zählt man dennoch 19 Todesopfer. Darunter auch Andy, den großen Bruder von Zachary, der bereits in der vierten Klasse war. Fortan bricht die heile Welt von Zachary vollkommen zusammen, denn nicht nur sein eigenes Trauma muss er überwinden, sondern er erlebt auch direkt den Zerfall seiner Familie. Während seine Mutter einen Schock erleidet und später Rachegelüste gegenüber der Familie des Täters hegt, zieht sich sein Vater immer mehr zurück und streitet unaufhörlich mit seiner Frau. Zach versteht längst nicht alles, was genau zwischen den Erwachsenen vorgefallen ist, aber keiner schenkt ihm ein offenes Ohr und spendet Kraft. In seiner Einsamkeit sucht sich Zachary ein Versteck im Wandschrank seines verstorbenen Bruders, dort durfte er früher nie hin, doch jetzt sitzt er auf dessen Schlafsack und erzählt Andy von den Dingen, die ihn wirklich bewegen …


Meinung


In ihrem Debütroman nimmt sich die junge Autorin Rhiannon Navin eines nicht alltäglichen, aber doch bedrohlichen Zustands an, zu dem sie ihr eigenes Kind nach einer entsprechenden Schulübung inspiriert hat. Der Verlag verspricht eine Geschichte wie aus Dunkelheit und Licht: traurig und dabei in jedem Augenblick voll Hoffnung. Und genau so habe ich das Gelesene auch empfunden: direkt, ungeschönt und zutiefst beeindruckend, ganz besonders, weil hier die kindliche Erzählfigur gewählt wurde, die weniger mit dem Verstand als mit dem Herzen denkt und die gerade deswegen den Verlust des großen Bruders in einem ehrlichen, aufrichtigen Licht erscheinen lässt, unabhängig davon, was man angeblich fühlen darf und soll oder auch nicht.

Ganz herausragend finde ich die Charakterisierung der Menschen aus Sicht des 6-jährigen Zacharys, der beide Elternteile irgendwie an diese Ausnahmesituation verliert und sich nichts sehnlicher wünscht als seine Mutter und den Vater so zu bekommen, wie er sie bisher als verlässlich und belastbar erlebte, kannte und liebte. Gerade weil die Autorin sehr geschickt eine Geschichte zwischen den Zeilen entwirft, wird deutlich warum Melissa und Jack nicht so weitermachen können wie bisher, eben weil ihr Leben vor dem Amoklauf auch nicht mehr aufrichtig und in beiderseitigem Einvernehmen stattfand, nur das sie diesen Umstand gegenüber ihren Söhnen gut verbergen konnten.

Wirklich traurig und bedrückend ist das Buch aber nicht, denn Zachary zeigt zwar die gesamte Gefühlspalette zwischen Angst, Trauer, Wut und Einsamkeit, aber immer wieder schöpft er auch Hoffnung, findet kurzzeitigen Trost in Kleinigkeiten und ist sich sicher, dass er seine Eltern hier unterstützen muss, denn diese sind im Angesicht des Schicksalsschlags vollkommen hilflos.

Irgendwie eine verkehrte Welt, wenn sich kleine Kinder genötigt fühlen, ihren Eltern zu helfen, die ihrerseits nicht einmal die Kraft aufbringen, ihrem jüngsten Sohn die Wahrheit zu sagen und ihn in verschiedene Dinge einzuweihen. Dieser Umstand hat mich während des Lesens enorm gefesselt, denn er zeigt, wie viel kleine Kinder wahrnehmen, wie viel ihnen zuzumuten ist und warum es in meinen Augen essentiell wichtig ist, sich auf gleicher Augenhöhe mit den Kindern zu verständigen, ihnen zuzuhören und auch schlimme Situationen im Gespräch zu verarbeiten. Sowohl Melissa als auch Jack können das nicht und deswegen sucht sich Zachary lieber den schweigsamen Wandschrank als emotionalen Rückzugsort, um dort seinem Bruder Andy nachzuspüren.


Fazit


Für diesen ungewöhnlichen, emotionalen Roman mit vielen Denkansätzen und liebevoll gezeichneten Charakteren und Situationen vergebe ich 5 Lesesterne. Tatsächlich ein unverbrauchtes Thema, ein kindlicher Ansatz, ein großes Drama und all das innerhalb eines kleinen Familienverbandes, der durch das Schicksal gebeutelt und geprüft wird. Sicherlich ein Unterhaltungsroman aber kein seichter, sondern einer, der nachdenklich stimmt und Eltern-Kind-Beziehungen aus diversen Blickwinkeln betrachtet. Gerade wenn man selbst Kinder hat, findet man hier wichtige Grundsätze, die man verinnerlicht haben muss, um Vorbildfunktion leisten zu können. Diese Geschichte berührt den Leser, sie macht ihn aufmerksam auf das wichtige im Leben und die Unverzichtbarkeit von Zuwendung und Zärtlichkeit. Absolut empfehlenswert!

Veröffentlicht am 02.09.2019

Ein Bild des Jammers und der Schuld

Brennendes Grab
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„Manche Leute halten Mord für einen sinnlosen Akt. Ich bin da anderer Meinung. Mord ist zweifellos ein brutaler Akt, grausam und unmoralisch. Ein Unrecht vor dem Auge des Gesetzes, eine Sünde im Angesicht ...

„Manche Leute halten Mord für einen sinnlosen Akt. Ich bin da anderer Meinung. Mord ist zweifellos ein brutaler Akt, grausam und unmoralisch. Ein Unrecht vor dem Auge des Gesetzes, eine Sünde im Angesicht Gottes. Für jeden anständigen Menschen ist Mord geradezu undenkbar. Aber sinnlos ist er nur selten.“


Inhalt


Chefermittlerin Kate Burkholder jagt in ihrem 10. Fall den Mörder des jungen Daniel Gingerich, er hat sein amisches Opfer unter Vortäuschung falscher Tatsachen in eine alte Scheune gelockt und ihn dort mit samt des Gebäudes angezündet. Seltsam nur das vorher die Tiere gerettet wurden und das es anscheinend überhaupt kein Motiv zu geben scheint, denn die ersten Zeugenaussagen stellen Daniel als ein geschätztes, arbeitswilliges Mitglied der amischen Gemeinde in Painters Mill/ Ohio dar, der kurz vor der Verlobung mit seiner Freundin stand und sich nie etwas zu Schulde kommen lies. Doch Kate glaubt nicht an ein willkürliches Verbrechen und gräbt tiefer in der Vergangenheit des jungen Mannes.

Durch Zufall entdeckt sie, dass Daniel höchstwahrscheinlich für den Selbstmord einer Frau, die in ihn verliebt war, mitverantwortlich ist und darüber hinaus der Vater eines Kindes, welches mittlerweile bei seiner Mutter lebt und dem Vater als „Kuckuckskind“ untergeschoben wurde. Als schließlich noch Daniels ehemaliger bester Freund von einer ganz besonderen Nacht erzählt, weiß Kate, dass der Ermordete nicht so unbescholten ist, wie zunächst geglaubt …


Meinung


Die Reihe rund um die Ermittlerin Kate Burkholder und den Verbrechen in der stark gläubigen Gemeinde der Amischen habe ich bereits im vergangenen Jahr komplett gelesen und fühlte mich fast immer bestens unterhalten. Auch der nun vorliegende 10. Fall der Ermittlerin stand deshalb ganz weit oben auf meiner Wunschliste. Ganz klar, wer den Erzählstil der Autorin mag, wird auch diesen Thriller mögen, denn man spürt nach wie vor den einerseits leichten, andererseits fesselnden Unterton, im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen. Nicht unbedingt ein brutaler, schockierender Fall über Mord und Totschlag, sondern vielmehr Unterhaltungsliteratur mit dem gewissen Etwas an Spannung.


Gerade hier nimmt die Autorin erstmals einen Fall ins Visier, den die Polizistin nur zu gut verstehen kann, da er einige Parallelen zu ihrer Jugend aufweist. Dieser Umstand macht es Kate schwer, diesen Mordfall aufzuklären, nachdem sie festgestellt hat, dass Daniel Gingerich eigentlich sein frühzeitiges Ableben in gewisser Weise selbst verschuldet hat. Immer wieder versinkt sie in Gewissensbissen und benötigt die klare, objektive Sicht ihres Freundes John Tomasetti, der eben nicht mit dem Fall und seinen Auswirkungen zu kämpfen hat.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen abwechslungsreichen, unterhaltsamen Thriller in bekannter Manier. Der Verlag feiert das Jubiläum dieser einzigartigen Erfolgsserie und „Brennendes Grab“ passt tatsächlich gut in die Kriminalreihe, setzt diese gewissermaßen nahtlos fort. Prinzipiell muss ich sagen, dass ich bei dieser Serie einen größeren Abstand zwischen den Einzelbänden ganz gut finde, weil man dann nicht so fieberhaft auf den Fortgang wartet, sich aber immer wieder positiv an das Gesamtleseerlebnis erinnert. Ich empfehle dieses Buch allen Fans von Linda Castillo aber auch Neulesern, die bisher keine Berührungspunkte mit der Autorin haben. Ein leichter, zum Schmökern einladender Kriminalfall, der zwar nichts Neues bringt aber die Story gut verpackt.

Veröffentlicht am 19.08.2019

Er findet sein Thema nicht

Die Leben der Elena Silber
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„Sie vermisste eine Heimat, von der sie – bis sie sie verlassen hatten – nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab. Sie hätte auch jetzt nicht beschreiben können, wie sie aussah, ihre Heimat. ...

„Sie vermisste eine Heimat, von der sie – bis sie sie verlassen hatten – nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab. Sie hätte auch jetzt nicht beschreiben können, wie sie aussah, ihre Heimat. Sie spürte nur die Sehnsucht.“


Inhalt


Konstantin Stein führt den Leser durch die Geschichte seiner Ahnen, die er selbst erst mit Ende 40 für sich entdeckt, nachdem ihm seine Mutter Maria auf die Idee gebracht hat, sich doch der Chronik der Elena Silber anzunehmen, seiner verstorbenen Großmutter, die eine Tochter des ermordeten russischen Revolutionärs Viktor Krasnow war. In zwei groß angelegten Erzählsträngen taucht der Leser nun zum einen in den Alltag von Konstantin ein und seine realen Erinnerungen an die Großmutter, seine Tanten und Onkel. Und im zweiten kommt Elena selbst zu Wort, die aus verschiedenen Zeiten ihres Lebens Bericht erstattet über ihren Mann, die fünf Töchter und die Suche nach einer echten Heimat zwischen der Kindheit in Russland und dem Erwachsenenleben in Deutschland an der Seite ihres Mannes Robert Silber…


Meinung


Der mehrfach ausgezeichnete deutsche Autor Alexander Osang lässt sich in diesem komplexen zeitgenössischen Roman von seiner eigenen Familiengeschichte inspirieren und entwirft das Bild eines Jahrhunderts, geprägt von diversen politischen Ereignissen, die verschiedene Menschen zu ganz unterschiedlichen Meinungen bringt und sich im Kern dem Leben innerhalb der direkten Verwandtschaft widmet.

Ursprünglich hatte ich eine klare Vorstellung an die Verarbeitung des Themas, angesiedelt zwischen Familien – und Geschichtsroman mit Einblicken in historische Ereignisse, die sich möglicherweise im Verlauf des individuellen Lebens von Elena anders anfühlten als in ihrem tatsächlichen Ausmaß. Doch eigentlich trifft die Geschichte diesen Kern überhaupt nicht, sie tangiert ihn eher peripher.

Im Zentrum steht hier eine Frau, der zeitlebens nichts geschenkt wurde, die ihre Stärke und Entschlossenheit entwickelt hat, weil die Möglichkeiten ihr keine freie Wahl ließen und die doch so distanziert und ernst wirkt, dass mir für eine Familiengeschichte einfach die Warmherzigkeit und Liebe zwischen den Angehörigen fehlt.

Während mir ihr Enkel Konstantin zunächst sehr nah und empathisch vorkam, verliert sich sein Potential mit dem Verlauf der Geschichte. Als Sohn kämpft er mit dem Verlust seines Vaters, der in einem Pflegeheim mit der Diagnose Altersdemenz festsitzt und eine dominante Mutter, die ihm vorwirft, noch immer nicht sein Thema gefunden zu haben. Nebenbei erzieht er einen jugendlichen Sohn, der bei seiner Mutter lebt, von der sich Konstantin allerdings schon geraume Zeit getrennt hat.

Im Grunde genommen lesen sich beide Erzählstränge nicht schlecht, aber sie fördern auch keine bahnbrechenden Wahrheiten zu Tage. Spätestens ab der Hälfte des Romans plätschert die Geschichte so vor sich hin, so dass ich auch hier die reichlich 600 Seiten Text als übertrieben empfinde. Eine Kürzung und Straffung des Geschehens wäre wünschenswert gewesen.

Besonders gestört hat mich im Verlauf der Geschichte die wirklich unnötige Wiederholung ein und desselben Sachverhalts mit fast gleichem Wortlaut (Konstantin findet sein Thema nicht) und darüber hinaus die irrelevanten Nebeninformationen, die anscheinend als Füllmaterial dienen, jedoch keinerlei Nutzen für den Leser darstellen. Hin und wieder blitzt dann aber wieder ein toller Satz auf, der mich zum Nachdenken anregen konnte: „Es ging immer weiter. Dafür liebte er seinen Sohn. Er würde ein anderer Mann werden, als er es war, so wie er ein anderer Mann geworden war als sein Vater. Aber etwas blieb erhalten. Nichts war umsonst. Die Saat war ausgebracht. Vielleicht ein Segen, vielleicht ein Fluch.“


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne für diesen komplexen, ausführlichen Familienroman, die ich jedoch eher auf 3 reduzieren möchte. Das größte Problem der Geschichte ist ihre nichtsagende Wirkung ohne konkrete Aussage, ohne einen roten Faden. Zu oft regiert die Willkür des Lebens, das einfache, unauslöschliche Geschehen des Alltags und das unaufhaltbare Voranschreiten der Zeit, die Erinnerungen trübt, Menschen verblassen lässt und Ungerechtigkeiten belanglos erscheinen lässt.

Dem Autor gelingt es leider nicht Vergangenheit lebendig werden zu lassen und auch nicht, einprägsame Charaktere zu schaffen. Und so bleibt dieser Roman gewissermaßen in seinen Kinderschuhen stecken und hinterlässt nur vage Eindrücke, die bald wieder verblassen werden. Sehr schade, denn der Stoff der Geschichte birgt großes Potential und möglicherweise hätte mir schon ein Wechsel der Erzählperspektive in die erste Person Singular weitergeholfen, um mich den Leben der Elena Silber näher zu fühlen.

Veröffentlicht am 08.08.2019

Worte sind Erinnerungen an seelisches Leid

Auf Erden sind wir kurz grandios
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"Die Vergangenheit war niemals eine festgelegte und ruhige Landschaft, sondern man betrachtete sie stets neu. Ob wir wollen oder nicht, wir bewegen uns in einer Spirale fort und erschaffen Neues ...

"Die Vergangenheit war niemals eine festgelegte und ruhige Landschaft, sondern man betrachtete sie stets neu. Ob wir wollen oder nicht, wir bewegen uns in einer Spirale fort und erschaffen Neues aus dem, was vergangen ist."


Inhalt


Little Dog, ein junger Mann, der zusammen mit seiner Mutter und Großmutter in die USA immigriert ist, vertraut sich und seine Gedanken einem Brief an, den er an seine Mutter richtet, obwohl diese überhaupt nicht lesen kann. Deshalb wirkt der Text vielmehr wie ein Tagebuch, in dem sich der vietnamesische Mann mit seiner Kindheit, seinen Erfahrungen mit körperlicher Gewalt und den gelebten homosexuellen Empfindungen zu seinem drogenabhängigen Freund Trevor auseinandersetzt. Sehr viel schwermütiger Inhalt, gepaart mit einer poetischen aber schnörkellosen Sprache ergibt eine Art intellektuellen Kunstroman, der sich intensiv und philosophisch mit der Frage nach der Zumutbarkeit des Lebens beschäftigt.


Meinung


„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein ungewöhnlicher, bemerkenswerter Debütroman des vietnamesischen Autors Ocean Vuong. Weniger eine zusammenhängende Geschichte, die sich chronologisch offenbart, als vielmehr „ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.“ Für meinen Geschmack existieren zu viele, zu unstrukturierte Gedankengänge in diesem Buch, so dass die Handlung immer fortschreitet, ohne tatsächlich vorwärts zu kommen. Dadurch erscheinen mir auch die dramatischen Lebensumstände von Little Dog weniger krass, egal ob es sich dabei um den Zwiespalt zwischen einer liebevollen oder gewalttätigen Mutter-Sohn-Beziehung handelt oder der Aussichtslosigkeit auf Lebensglück in Anbetracht von Armut und Außenseitertum.


Dennoch halt der Text nach, vor allem wegen der Melancholie, der philosophischen Betrachtungen und der unbeschreiblichen Last eines Lebens komprimiert auf einen Brieftext, der weder bittet noch anklagt, der nicht trauert und zögert aber auch keine Ansprüche stellt.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen Roman, der für die gesamte menschliche Gefühlspalette ein mächtiges, erdrückendes Bild entwirft, obwohl er mir stets zu distanziert blieb. Inhaltlich empfand ich ihn mühsam und bitter, während er sprachlich überzeugen konnte. Ganz klar erfüllt er nicht meinen Anspruch an ein bewegendes Leseerlebnis, weil er mir innerlich so fremd blieb und keine konkrete Form annimmt. Es fiel mir schwer, mich auf die Gedankenspiele einzulassen und das Gewicht der markanten Worte nachzuempfinden – wem das allerdings gelingt, der hält einen kleinen Schatz in den Händen.

Veröffentlicht am 07.07.2019

Ein Gefangener, der es bleiben wird

Am Tag davor
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„Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen, die Überlebenden, die Zeugen waren der Reihe nach gestorben. Nur die zerstörten Familien waren noch übrig, Witwen und Waisen, um die Frankreich nie getrauert ...

„Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen, die Überlebenden, die Zeugen waren der Reihe nach gestorben. Nur die zerstörten Familien waren noch übrig, Witwen und Waisen, um die Frankreich nie getrauert hatte. Und für diese Familien, diese Witwen und Waisen, diese vernichtende Erinnerung, für die Würde Joseph Flavents musste ich den letzten Schuldigen büßen lassen. Und selbst dafür bezahlen.“


Inhalt


Zeit seines Lebens beschäftigt sich Michel Flavent mit dem Grubenunglück von 1974, als 42 Männer auf der Zeche Saint-Amé in Liévin-Lens ums Leben gekommen sind. Sein eigener Bruder, ein Bergarbeiter in ebenjener Grube, ist nur 22 Tage nach dem Unglück an seinen schweren Verbrennungen gestorben, nicht wie seine Kumpel noch direkt unter der Erde erstickt und verschüttet, aber dennoch schonungslos mit gerade einmal 30 Jahren aus dem Leben gerissen. Michel selbst, damals ein Teenager, sehnt sich nach Rache, nach Vergeltung, nach einem Strafprozess, der die Schuldigen rächt, doch außer großer Landestrauer und wenigen markigen Worten der Politiker, reiht sich auch dieses nationale Unglück in ein einfaches Vergessen, weil man dem Schicksal nun einmal nichts entgegensetzen kann.

Nachdem ein halbes Leben später Michels geliebte Frau Cécile verstirbt, nimmt sich der mittlerweile 50-Jährige vor, den letzten Schuldigen auf eigene Faust zur Strecke zu bringen und kehrt nach so vielen Jahren in seinen Heimatort zurück. Tatsächlich gibt es den mittlerweile betagten Lucien Dravelle noch immer, er sitzt im Rollstuhl, hustet sich nach Jahren auf der Zeche die Seele aus dem Leib und wartet nur noch auf sein eigenes Ende. Michel freundet sich mit ihm an, gewinnt sein Vertrauen und stülpt ihm letztlich eine Plastiktüte über den Kopf, um mit aller Macht einen Strafprozess zu erzwingen. Denn wenn Lucien stirbt, wird Michel endlich jene Gerechtigkeit zu Teil, die er sich für seinen Bruder und dessen Kumpel sehnlichst wünscht. Doch Lucien überlebt und der beginnende Prozess bringt Wahrheiten ans Licht, die Michel nur schwer akzeptieren kann …


Meinung


Sorj Chalandon zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen französischen Schriftstellern und ist bereits mehrfach für dem Prix Goncourt nominiert wurden. Dies war mein erster Roman aus seiner Feder und es wird bestimmt nicht der letzte bleiben, denn selten erlebt man so ein vielschichtiges, tiefgründiges und emotionales Buch, welches ohne großes Tam-Tam ein dramatisches persönliches Schicksal in Worte kleidet und dabei weder auf Effekthascherei noch Mitleid abzielt. Es bleibt neutral, sachlich und doch voller Traurigkeit und Erinnerungsflut. Die wichtigen Fragen des Lebens bilden den Hintergrund zu einer Erzählung über Rache, Schuld und Angst, möglicherweise den falschen Weg gewählt zu haben.

Sehr ungewöhnlich aber im Verlauf immer besser fand ich den sachlich-neutralen Erzählton, der es mir möglich machte, für den Protagonisten Michel nicht nur Verachtung und Unverständnis zu empfinden, sondern die von Liebe durchtränkte Bruderbeziehung und ihr tragisches Ende in vollem Umfang wahrzunehmen. Inhaltlich gliedert sich das Buch in mehrere Teile, so das man zwei junge Männer kennenlernt und ihre auseinandergerissene Welt, einen durchs Leben gereiften Mann, der sich intensiv mit seinen Rachegelüsten beschäftigt und schließlich die Vollendung durch den erzwungenen Prozess, in dem Michel weder Mitleid noch Recht möchte, sondern letztlich eine gerechte Strafe. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die inneren Beweggründe, aber auch auf die Tat und den Verlauf des Strafverfahrens, welches viele Jahre später nochmals Medienpräsenz erzeugt. Und immer mehr verliert man sich in einer alles umfassenden Melancholie, einer Lebenstraurigkeit, die langsam und unaufhaltsam gewachsen ist, kämpft selbst gegen die haarsträubende Ungerechtigkeit und den bitteren Beigeschmack, den die Zeit nicht verwischen kann.


Fazit


Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und habe ein Jahreshighlight 2019 gefunden. Für mich einfach das perfekte Buch - es bietet eine spannende Handlung, glaubhafte Protagonisten, eine intensive Selbstreflexion, einen geschichtlichen Bezug und literarischen Anspruch. Aber der eigentliche Mehrwert liegt in dieser alles umfassenden Schwere, die das Schicksal, die eigenen Hoffnungen, die traurigen Wahrheiten und unveränderlichen Ereignisse der Vergangenheit in einer wunderbaren Komposition zusammensetzt, so das ich eine klare und ungemein bewegende Aussage daraus ziehen kann: „Das Leben nimmt und gibt, der Mensch ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe und muss sich damit abfinden, das Wahrheiten das Gewissen einholen und geliebte Menschen dennoch immer im Herzen bleiben, egal wie ungerecht das Schicksal auch zuschlagen mag, unabhängig davon, ob man in der Vergangenheit richtige oder falsche Entscheidungen getroffen hat.“ Einfach ein wahnsinnig gutes, stimmiges Buch!