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Veröffentlicht am 16.06.2019

Grausamkeit verjährt nie

Rachesommer
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„Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es diesmal nicht auf die übliche Tour hinbekommen würde. Nicht bei ihm. Ihr Plan würde nicht funktionieren.“


Inhalt


Walter Pulaski untersucht diverse Todesfälle, die ...

„Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es diesmal nicht auf die übliche Tour hinbekommen würde. Nicht bei ihm. Ihr Plan würde nicht funktionieren.“


Inhalt


Walter Pulaski untersucht diverse Todesfälle, die als Selbstmord getarnt sind. Dabei handelt es sich um junge, psychisch gestörte Menschen, die oft schon jahrelang Patienten in Spezialklinken sind und denen man die Neigung zu einem Freitod durchaus zutrauen würde. Doch die aktuellen Fälle sind anders, denn eben jene Opfer, kannten sich alle und haben trotz ihrer geistigen Störung ein gemeinsames Kapitel in der Vergangenheit, welches sie nun mit mörderischer Konsequenz einzuholen droht. Und auch die Wiener Anwältin Evelyn Meyers ermittelt inkognito an einer seltsamen Serien von Unfällen, bei der gut situierte Männer um die 60 Jahre auf rätselhafte Art und Weise verunglücken. Als Evelyn Parallelen zwischen den Opfern entdeckt, die sie auf ein Kreuzfahrtschiff führen, welches vor 10 Jahren exklusive Törns entlang der Küsten unternommen hat, ahnt sie, dass diese Luxusreisen der Grund für die Todesfälle sind. Sie macht sich auf den Weg nach Norddeutschland um ihrer Spur nachzugehen und trifft dort auf Walter Pulaski, der anscheinend den selben Fall aus der anderen Richtung aufrollt …


Meinung


Schon lange wollte ich ein Buch des deutschen Krimiautors Andreas Gruber kennenlernen, denn die Klappentexte seiner Thriller klingen äußerst vielversprechend und lassen auf spannende Lesestunden hoffen.

Begonnen habe ich nun mit dem ersten Band aus der Walter-Pulaski-Reihe, der mich auf Anhieb überzeugen konnte, weil er ein kurzweiliges, gut durchdachtes Szenario aufzeigt, bei dem es nicht bloß um Mord und Totschlag geht sondern auch um die engagierte Ermittlungsarbeit zweier nicht ganz regelkonformer Ermittler, die sich hier in ihrem Privatleben für Fälle einsetzten, die offiziell gar nicht auf dem Tisch liegen.

Die Kombination zwischen einem Polizisten, der sich mit einer Anwältin auf eine mysteriöse Mordreihe einlässt, um längst vergangene Verbrechen aufzuklären ist mir sehr sympathisch. Beide Hauptprotagonisten treten als starke Charaktere auf, die selbst keine leichte Vergangenheit hatten und nun umso verbissener an der Aufklärung anderer Fälle dran sind. Gerade durch die wechselnden Erzählperspektiven, die ich um den gleichen Hintergrund drehen, konzentriert sich die Geschichte auf einen klaren Punkt - denn einer endgültigen Aufklärung kommen die beiden erst näher, nachdem sie sich getroffen haben und ihre Karten offen auf den Tisch legen.

Aber auch die Frage nach dem Täter und den Opfern ist geschickt gelöst, denn so einfach wie man zunächst denkt, ist es wirklich nicht. Auch die Rache als alleiniges Motiv funktioniert nicht auf die herkömmliche Art, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich um schwer gestörte, psychisch kranke Menschen handelt, die unter Persönlichkeitsstörungen leiden und nie ein „normales“ Leben geführt haben.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen abwechslungsreichen, spannenden Thriller, der mittels vieler kleiner Ermittlungserfolge einen dramatischen Höhepunkt erreicht, dem man regelrecht entgegenfiebert. Besonders gelungen empfinde ich die Charakterisierung der Protagonisten, aus deren Privatleben man genau die richtige Menge an Informationen erhält, um sich ein Bild zu machen, aber nie zu viel, um das Interesse an den Morden zu verlieren. Vom Aufbau und dem Plot der Geschichte bin ich überzeugt, ebenso wie von der Glaubwürdigkeit der Ereignisse. Sehr gern lese ich weitere Kriminalromane aus der Feder des Autors, um noch mehr zu erfahren – zum Glück gibt es da schon einiges Lesefutter, was auf mich wartet. Ich empfehle die Reihe all denjenigen, die gerne deutsche Thriller konsumieren und sich mit den Hintergründen einer laufenden Ermittlung beschäftigen.

Veröffentlicht am 10.06.2019

Ein Leben am Abgrund, an dessen Ende nichts wartet

All das zu verlieren
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„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz ...

„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz allem halten. Sicher genügte es, die Augen zu verschließen.“


Inhalt


Für Adéle ist jeder Tag ein Spießrutenlauf, sie funktioniert mehr schlecht als recht in ihrem ganz normalen Alltag, zwischen ihrer Arbeit als Journalistin und der Rolle als Frau und Mutter. Doch insgeheim sehnt sie sich nach Extremerfahrungen, sie möchte körperliche Grenzen spüren, sich verlieren und ihr Dasein als Spießbürgerin abstreifen, ohne Rücksicht auf Verluste. Über die Jahre hinweg hat sie sich ein gut funktionierendes Doppelleben aufgebaut: sie trifft sich mit wildfremden Männern zum Sex, baggert ihre Kollegen an, findet ständig Möglichkeiten für ein schnelles sexuelles Abenteuer und kehrt im Anschluss wieder zurück in ihren routinierten Tagesablauf. Immer wieder möchte sie mit dieser Zwangshandlung aufhören, weil sie sich sehr bewusst ist, was sie dafür aufs Spiel setzt, doch sie ist eine Getriebene, ihren Obsessionen ausgeliefert und unfähig einen Schlussstrich zu ziehen. Erst als ihr Mann Richard durch bloßen Zufall das Ausmaß ihres Betruges aufdeckt und sie damit konfrontiert, gelingt es Adéle eine kurzfristige Entscheidung zu Gunsten der Familie zu treffen. Trotzdem steht sie kurze Zeit später erneut vor diesem Abgrund, an dessen Ende nichts wartet.


Meinung


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, zum einen weil die Handlung sehr ungewöhnlich klingt, zum anderen weil mich die Autorin mit ihrem Werk „Dann schlaf auch du“ bereits von ihrer schriftstellerischen Arbeit überzeugen konnte. Und auch „All das zu verlieren“ hat sich definitiv gelohnt, denn obwohl es die Thematik Betrug innerhalb einer Partnerschaft anschneidet, ist es doch in erster Linie das Porträt einer gestörten Seele, ein Hilfeschrei, eine Auseinandersetzung mit Ängsten und Zwängen und sehr bald taucht man als Leser tief in das Seelenleben der Protagonistin ein.


Sprachlich trifft dieser Roman genau meinen Geschmack, es ist eine gelungene Mischung zwischen Erzählung, Selbstbildnis und objektiver Betrachtung. Gerade der leicht distanzierte Schreibstil aus der dritten Person Singular heraus, macht es mir sehr einfach, eine Grenze zwischen der Adéle im Buch und persönlichen Erfahrungen zu ziehen. Denn obwohl die Protagonistin äußert unangenehm auftritt, ich keinerlei gemeinsame Schnittpunkte oder Denkweisen ermitteln konnte, war es mir ein echtes Bedürfnis, diese Frau über die gut 200 Seiten der Geschichte zu ergründen und ihren Kern ausfindig zu machen. Gerade ihr innerer Zwiespalt zwischen der Sicherheit eines geregelten Lebens an der Seite von Mann und Kind und ihre geheimen Wünsche, die ihr trotz kurzer Erquickung keinerlei Halt schenken, haben mich sehr in ihren Bann gezogen.


Auch die Gliederung der Lektüre, die sich temporär auf eine Zeit vor der Entdeckung konzentriert, in der Adéle die Erzählrolle einnimmt und einer Zeit nach der Entdeckung, in der Richard, der gehörnte Ehemann zu Wort kommt, empfand ich sehr passend. Was zunächst wie eine große Paarkatastrophe anmutet entwickelt sich im Folgenden zum wahren Fiasko gleich mehrerer Leben. Denn das Wissen um die Obsessionen seiner Frau, höhlt Richard innerlich vollkommen aus, lässt ihn einen Ekel gegenüber der geliebten Person entwickeln und einen Kontrollzwang über all ihre Handlungen. Tatsächlich bringt ihm weder ein Umzug, noch ein Neuanfang jene Frau zurück, in die er all seine Liebe gesetzt hat, mit der er alt werden wollte und die er mehr schätzt als alles andere. Und so beginnt der Schrecken ohne Ende, nachdem es einfach nicht gelingen will, ein Ende mit Schrecken zu akzeptieren.


Fazit


Dieser Roman ist ganz nah dran an einem Lieblingsbuch, deshalb vergebe ich 4,5 Lesesterne. Er wirkt auf mich faszinierend, lädt mich ein, eigene Gedankengänge aufzunehmen in der Hoffnung, dem Wesen der Adéle näher zu kommen. Gleichzeitig ist es eine unbequeme, fordernde Lektüre, die sich wunderbar mit inneren Zwängen und dramatischen Abhängigkeiten auseinandersetzt. Trotz der Melancholie und Traurigkeit, die jenem Paar widerfährt, die viele Seiten des Buches regelrecht durchströmt, konnte ich nicht umhin ein eigenes Urteil über die beiden zu fällen und dieses ist jenseits jeder depressiven Phase angesiedelt.

Nur der Ausgang der Geschichte konnte mich nicht ganz überzeugen, da hätte ich mir wiederrum mehr Dramatik gewünscht, gerne auch einen großen Knall, der in allerlei Richtungen hätte gehen können. Leider verläuft diese spektakuläre Erzählung irgendwie im Nichts und mit ihr verblassen die Menschen, die so unfähig sind Entscheidungen zu treffen und Konsequenzen zu tragen. Die nächsten Bücher der Autorin kommen ganz gewiss auf meine Wunschliste, denn sie vermag es ausgezeichnet, die menschliche Natur und diverse Seelenqualen einzufangen und in lesenswerte Texte zu verpacken.

Veröffentlicht am 26.05.2019

Tödliche Geheimnisse der Gezeiten

Totenfang
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„Der menschliche Körper, selbst zu über sechzig Prozent aus Wasser bestehend, ist nicht von sich aus schwimmfähig. Er treibt nur so lange an der Wasseroberfläche, wie Luft in den Lungen vorhanden ist. ...

„Der menschliche Körper, selbst zu über sechzig Prozent aus Wasser bestehend, ist nicht von sich aus schwimmfähig. Er treibt nur so lange an der Wasseroberfläche, wie Luft in den Lungen vorhanden ist. Sobald sie den Körper verlässt, sinkt er langsam auf den Grund.“


Inhalt


In seinem fünften Fall verschlägt es den forensischen Anthropologen David Hunter in das unwirtliche Mündungsgebiet der Backwaters in Essex, einer von den Gezeiten gezeichneten Umgebung, in denen Menschen zwar ein abgeschottetes Leben führen können, sich jedoch tagein, tagaus mit den geografischen Naturgegebenheiten auseinandersetzen müssen. Und so dominiert auch das Element Wasser diese Erzählung. Die erste Leiche, die auf einer Sandbank angespült wird, ist männlich, rein theoretisch könnte es der vermisste Leo Villiers sein, ein Millionärssohn, der seinem Zuhause den Rücken gekehrt hat und möglicherweise der Mörder einer ebenfalls vermissten Frau, die wahrscheinlich seine Geliebte war.

Doch David Hunter identifiziert den Leichnam als einen anderen und pflegt schon bald zu der Familie der vermissten Emma Darby ein gutes Bekanntschaftsverhältnis, denn er mietet sich in deren Bootshaus ein, um möglichst schnell bei der Obduktion anwesend sein zu können. Emmas Schwester Rachel und David Hunter beginnen auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, denn so unschuldig, wie sich die junge Frau gegeben hat, war sie anscheinend gar nicht. Als wenig später eine weitere männliche Leiche von der Ebbe freigelegt wird und es wieder nicht Leo Villiers ist, vermutet Hunter einen Zusammenhang zwischen den Opfern und der wahre Mörder ist nicht nur auf freiem Fuß, sondern kennt die Backwaters sehr genau, viel besser als es Hunter vermag.


Meinung


Diese Thriller Reihe des englischen Bestsellerautoren Simon Beckett verfolge ich mit viel Interesse und hohen Erwartungen. Gerade sein Hauptprotagonist David Hunter , der weder Ermittler, Täter noch Opfer ist, führt den Leser auf intensive Art und Weise in das Verhalten toter Körper und die diversen Leichenzersetzungsprozesse ein – kein schönes aber ein überaus interessantes Thema, selbst wenn es sich dabei wie hier um Wasserleichen und ihre wahre Todesursache handelt. Tatsächlich begeistert mich der forensische Teil des Buches ohnehin am meisten, während die Spannungskurve bei diesem Thriller doch nur schwach ausgeprägt ist und mich die Auflösung des Falls so rein gar nicht begeistern konnte.

Der Schreibstil ist ruhig, untermalt von eindrücklichen Naturerscheinungen und vielen sprachlichen Bildern, so dass man immer einen gedanklichen Film vor Augen hat – diese Erzählart mag ich ebenfalls sehr gern und ich finde immer wieder Gefallen an den unscheinbaren, nebensächlichen Entdeckungen, die sich letztlich zu entscheidenden Schlüssel bei der Aufklärung der Morde entpuppen. Dennoch empfand ich „Totenfang“ als einen der schwächeren Bände der Reihe, einfach weil das belanglose Private einen viel zu großen Spielraum bekommt und ganz besonders wegen der schwachen Konturen der Mordfälle. Stattdessen viel Forensik und Biologie – der Täter bleibt lange vollkommen blass, die Opfer scheinen selbst ebenfalls ihre dunklen Geheimnisse zu hüten und ob es nun ein großes Familiendrama oder ein Mord aus Rache war, steht auf gut 500 Seiten immer nur im Hintergrund. Ein ganz klarer Fall von verschenktem Potential.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne. Für Freunde der Forensik oder der David-Hunter-Reihe ist dieser Thriller durchaus lesenswert, wer auf der Suche nach Spannung und Nervenkitzel ist, wird wohl eher enttäuscht. Und so gern wie ich das subtile, intensive Erzählen des Autors auch mag, hier tritt die Handlung etwas auf der Stelle, die Auflösung konnte mich ebenso wenig packen wie der Plot, gelesen habe ich das Buch trotzdem gerne, wenn auch in quälend langsamer Zeit, da der Funke einfach nicht übergesprungen ist.

Veröffentlicht am 21.05.2019

So echt, so perfekt und doch nur ein Abbild

Deine kalten Hände
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„Was andere für echt hielten, zweifelte ich hartnäckig an, und womit sich alle zufrieden gaben, reichte mir nicht aus. Dafür entdeckte ich Schönheit, wo sonst niemand welche fand. Auf diese Weise versuchte ...

„Was andere für echt hielten, zweifelte ich hartnäckig an, und womit sich alle zufrieden gaben, reichte mir nicht aus. Dafür entdeckte ich Schönheit, wo sonst niemand welche fand. Auf diese Weise versuchte ich zum Inneren der Dinge vorzudringen, deren Äußeres man sehen, hören, riechen und berühren konnte.“


Inhalt


Unhyong Jang lernt schön früh, dass sich Menschen hinter einer Maske verstecken, dass selbst ein freudestrahlendes Gesicht, wie das seiner Mutter, nur aufgesetzt sein kann und die echten Charakterzüge verbirgt.

Als Erwachsener entwickelt er eine ganz besondere Form der Kunst, mit deren Hilfe er die äußere Wahrheit zeigen möchte aber gleichzeitig auch ihre Zerbrechlichkeit und Lüge. Er nimmt von verschiedenen Frauen Gipsabdrücke, dabei konzentriert er sich immer auf ein anderes Körperteil. Zunächst sind es die Hände, dann ganze Körper oder nur das Gesicht – je nachdem welchen Teil der Frau er abbilden möchte. Doch seine Modelle sind in erster Linie besonders und entsprechen nicht dem gängigen Schönheitsideal.

In zwei Frauen verliebt er sich – die eine ist ein wahres Schwergewicht und in ihren Körperformen kann er sich verlieren, doch bald schon entwickelt sie psychische Probleme, die sie in eine schwerwiegende Krankheit führen, die Unhyongs Einfluss nicht mildern kann. Die andere ist zwar äußerlich wunderschön, erstarrt aber immer wieder in ihrer Art, sie scheint etwas zu verbergen, was sie niemandem verraten möchte. Doch damit kann der junge Künstler leben, er nimmt sich die Zeit auch diese Frau zu erkunden, um ihr wahres Ich zu enthüllen. Doch die zerstörerische Kraft dieser Beziehung ändert auch seine Sicht auf die Dinge …


Meinung


Die koreanische Schriftstellerin Han Kang hat mit ihren Werken mittlerweile internationale Erfolge gefeiert und widmet sich in diesem Buch einer Person, die selbst auf der Suche nach Nähe und Ehrlichkeit ist und nur durch stetiges Beobachten und einige Rückschläge ihrem Lebenssinn etwas näherkommt. Auf die Geschichte über die Möglichkeiten des Ausdrucks mittels künstlerischer Gestaltung aber auch die Grenzen, die nicht überwunden werden können, war ich sehr gespannt, weil mir allein die Inhaltsbeschreibung noch keine Auskunft geben konnte, ob diese Erzählung meinen Lesegeschmack treffen könnte oder eher nicht.

Im Grunde genommen passiert sehr wenig: Ein Mann verschwindet und hinterlässt Tagebuchaufzeichnungen und sein Gesamtkunstwerk, welches er minutiös in Schriftform festhält, inklusive der einzelnen Ereignisse, die zu den Objekten passen. Dennoch gelingt es der Autorin, den Leser zu unterhalten und ihn gewissermaßen für die kleinen, feinen Details der Schaffensgeschichte zu begeistern. Dabei wahrt sie jedoch eine kühle Distanz, die ebenso wie die Skulpturen zwar eine äußere Fassade besitzt, aber gleichermaßen eine hintergründige Aussage.

Die Frage der Schönheit kommt immer wieder auf, sie wird auf subtile Art und Weise hinterfragt und zeigt erschreckend deutlich, welche Auswirkungen eine gebrochene Seele auf den menschlichen Körper haben kann aber auch umgekehrt, wie viel Aufmerksamkeit dem Äußerlichen zu Teil wird, ohne jemals in die Tiefen des Herzens geblickt zu haben. Die Frage nach Schein und Sein dominiert den Text und man findet verblüffende Parallelen, Beispiele aus dem ganz normalen Alltag, die ebenfalls diese Schnittmenge aufweisen und denen ich normalerweise kaum Beachtung schenke.

Die Sprache ist poetisch, wenn auch kühl, die Charaktere bleiben weitestgehend anonym, haben nicht einmal richtige Namen. Die Geschichte überzeugt dennoch, schon allein aufgrund ihres ungewöhnlichen Ansatzes, ihrer Ausführung und der stillen, unbestimmten Entwicklung aller Personen, die die Gedankenwelt des Lesers eher am Rande streifen, als sich in ihr festzusetzen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ausdrucksstarken Roman, der eine Thematik anschneidet, mit der ich einerseits wenig Berührungspunkte habe, die mir aber in ihrer Form durchaus wertvolle Inhalte vermitteln konnte. Besonders einprägsam wird der Text, weil er gänzlich ohne Bewertungen auskommt. Jedwedes Verhaltensmuster scheint tiefen Ursprungs zu sein, der Betrachter erhascht jedoch nur kleine Momentaufnahmen, so dass eine Anmaßung über korrektes oder schuldhaftes Verhalten erst gar nicht zur Sprache kommt.

Interessant empfand ich auch die Kraft der Selbstzerstörung auf Grund gesellschaftlicher Normen, die ein Individuum nicht immer erfüllen kann. Im Kern habe ich dabei den Aspekt der Selbstliebe gefunden, der Akzeptanz all jener Fehler, die den Menschen so liebenswert und einmalig machen, auch dann, wenn alle Hüllen zerbröckeln. Prädikat: Lesenswerte Belletristik mit Unterhaltungswert.

Veröffentlicht am 25.04.2019

Einsamkeit trotz immerwährender Beziehungen

Die zehn Lieben des Nishino
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„Nishino zu küssen war wunderschön. Schöner als alles, was ich bisher gekannt hatte. Und doch fühlte es sich einsam an. Es war der einsamste aller Momente von Einsamkeit, die ich je erlebt hatte.“


Inhalt


Nishino ...

„Nishino zu küssen war wunderschön. Schöner als alles, was ich bisher gekannt hatte. Und doch fühlte es sich einsam an. Es war der einsamste aller Momente von Einsamkeit, die ich je erlebt hatte.“


Inhalt


Nishino sucht die Liebe seines Lebens, die immerwährende, alles umfassende Liebe, die er mit jeder neuen Frau an seiner Seite entdecken möchte. Doch trotz seiner Zuneigung zum weiblichen Geschlecht, seines Charmes und der Fähigkeit, jeder Frau das zu geben, was sie bisher nicht einmal vermisst hat, bleibt er ein Einzelkämpfer. Ein Mann, der sich über die Unendlichkeit des Universums beschwert, der seltsam unverbindlich und gleichermaßen fordernd auftritt. Der heiraten möchte und alle Frauen liebt, der während einer Beziehung mit der einen gleich noch die nächste Bekanntschaft pflegt. Ein Mann, der innere Verbundenheit sucht und doch nur oberflächliche Zuneigung findet. Eigentlich tritt er kaum in Erscheinung, ist manchmal schon wieder verschwunden, während er eine neue Liebe entdeckt und hinterlässt immer seltsam bestürzte Frauen, die sich unablässig fragen, ob sie ihn nicht lieben können, weil er so ist wie er sich gibt oder die ihn gerade deshalb verehren und ihn nur nicht halten können, weil sie ihn selbst zu wenig lieben.


Meinung


Die japanische Autorin Hiromi Kawakami, die bereits zahlreiche Literaturpreise ihres Landes für sich beanspruchen konnte, setzt mit ihrem neuesten Buch einem sehr unbestimmten Mannsbild ein Denkmal und schafft mit ihrer Erzählung, aus der Perspektive der Frauen ein stimmiges Gleichnis über die Unberechenbarkeit der Liebe.

Der Schreibstil selbst besticht durch leise, unaufgeregte kleine Erzählungen, bei der jede Frau dem Charakter des Nishino ein weiteres Attribut hinzufügt. Dadurch kann der Leser diesen besonderen Mann nach und nach immer besser einschätzen und wird sich bald darüber bewusst, worin die Kunst dieser Liebe bestehen mag, oder im Gegenteil, welche Ursachen immer wieder dazu führen, dass eine hoffnungsvolle Beziehung zerbricht.

Das Porträt des Herrn Nishino macht deutlich, wie Einsamkeit auch in andauernden Paarbeziehungen vorhanden sein kann, warum es immer leichter scheint sich einen neuen Partner zu suchen, wenn der gegenwärtige nicht mehr die eigenen Bedürfnisse erfüllt. Aber sie zeigt ebenso die Kehrseite der Medaille – ein ständig wechselndes, unverbindliches Zusammenleben ohne allzu tiefe Gefühle und nur wenige Entbehrungen.

Im Kern spürt man die Melancholie und Schmerzanfälligkeit dieses Mannes, der es nicht vermag, Konstanz in seine Beziehungen zu bringen. Dabei finde ich es sehr gelungen, wie wertungsfrei und offen die Autorin sein Verhalten aber auch das seiner Gefährtinnen darstellt. Wer kann etwas dafür, wenn Partnerschaften im Sande verlaufen? Warum ist es nicht nur die Treue, die Menschen an einander binden kann? Findet wirklich jeder irgendwann im Leben den passenden Partner? All diese teilweise philosophischen Betrachtungen fliesen in den Text hinein, ohne explizit genannt zu werden – dieses literarische Spiel mit den Figuren hat mir sehr gefallen, denn sie bleiben alle irgendwie substanzlos und dennoch bringen sie die Geschichte voran.

Ein klitzekleiner Schönheitsfehler, der mich etwas gestört hat, war das ineinander verschlungene Netz der Geschichten, die weder chronologisch noch mit deutlich verschiedenen Stimmen erzählt werden. So richtig kann man da nicht mitzählen, wie viele Frauen es tatsächlich waren, wer welche Ansprüche hatte und warum sie nicht erfüllt wurden. An dieser Stelle hätte ich mir vielleicht mehr Klarheit gewünscht, um die Frauenfiguren noch etwas besser einordnen zu können. Rückblickend betrachtet bleibt nur die Tatsache, dass es viele waren, die alle nicht fanden, was sie suchten.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen faszinierenden Roman über die Liebesfähigkeit eines Menschen, die sowohl fiktiv sein könnte als auch auf Realität basierend. Es ist kein klassischer Text über eine Person, die man vielleicht kennen könnte, doch die Verhaltensweisen an sich erscheinen äußerst plausibel. Zurückhaltung, Abstand und eine gewisse Distanziertheit bleiben bestehen, doch umso intensiver entfalten sich die diversen Interpretationsmöglichkeiten, die noch dazu sehr fremd und unbestimmt wirken.

Wer sich auf dieses Gedankenexperiment einlassen kann, findet hier Zugang und einen ungewöhnlichen Ansatzpunkt, dennoch hatte ich das Gefühl, nicht restlos in die Erzählung und ihre Tiefe vordringen zu können. Vielleicht bietet sich hier ein zweimaliges Lesen an, um noch mehr zu entdecken.