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Veröffentlicht am 27.12.2018

Zuwenig an Liebe, Zuviel an Ohnmacht

Ein Brautkleid aus Warschau
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„Man weiß es sofort, wenn es wahre Liebe ist. Sie steht sicher und fest wie ein Felsen in der Mitte eines Flusses und weicht selbst dem wildesten Toben nicht. Es ist als sei man größer, als man selbst. ...

„Man weiß es sofort, wenn es wahre Liebe ist. Sie steht sicher und fest wie ein Felsen in der Mitte eines Flusses und weicht selbst dem wildesten Toben nicht. Es ist als sei man größer, als man selbst. Als wohne man im Herzen statt das Herz im Körper.“


Inhalt


Marlena verliebt sich Hals über Kopf in Natan einen Journalisten, der für einen Besuch bei seinem polnischen Onkel Szymon untergekommen ist, bevor er wieder nach Amerika zurückkehren wird. Für Marlena ist es die große Liebe, die alle Zweifel verstummen lässt und als sie schwanger ist und ihr Geliebter abgereist, hofft sie auf seine Rückkehr. Doch es sieht schlecht aus – Szymon gibt ihr den Rat, sich diesen Mann aus dem Kopf zu schlagen und ihre Eltern pochen darauf, dass sie sich nun endlich einen Mann sucht, damit ihr Kind nicht in Schande aufwächst.

Marlena flüchtet in die Niederlande, indem sie sich einer Heiratsvermittlung anschließt und den Bauern Andries ehelicht. Doch während Andries voller Liebe das Kind annimmt, welches gar nicht sein ist, sehnt sich Marlena nach einer Rückkehr in die polnische Heimat. Zu Vieles wartet dort auf sie und nicht zuletzt der einzige gemeinsame Bekannte mit Natan, der ihr vielleicht Neuigkeiten mitteilen könnte …


Meinung


Die niederländische Autorin, die ihr ebenfalls als Dramatikerin am Theater tätig ist, wurde für ihren Debütroman, der ein tragisches Dreiecksverhältnis zwischen Marlena und ihren Männern offenbart, bereits mit dem Anton-Wachter-Preis nominiert.

Ein anspruchsvolles Buch, in dem es durchaus um die Liebe geht aber darüber hinaus auch um familiäre Bindungen, falsche Entscheidungen, selbstloses Handeln und verantwortungsvollen Umgang im gemeinsamen Miteinander. Erzählenswert ist nicht nur die Geschichte an sich, sondern auch die Verflechtung der Einzelschicksale mit ihrem entsprechenden Hintergrund. Lot Vekemans wählt dafür drei Perspektiven und bereichert den Roman damit um mehr als eine junge, verliebte, doch unreife Hauptprotagonistin.

Tatsächlich fühlt man sich den Erzählern des Romans dadurch nahe, weil sie alle Fehler haben, weil ihre Vergangenheit und die gesammelten Erfahrungswerte sie zu Menschen gemacht haben, die nun in der Gegenwart versuchen, ihren eingeschlagenen Weg zu beschreiten oder ihn bestmöglich zu verändern. Es sind keine Prototypen, die lediglich für eine bestimmte Rolle agieren, sondern sie wirken lebensnah, realistisch und man wird sich als Leser deutlich darüber bewusst, dass sehr viel Mut dazugehört, über den eigenen Schatten zu springen. Und nicht jeder kann hier das umsetzen, was er sich im Grunde seines Herzens wünscht – das macht manchmal etwas melancholisch beim Lesen, gibt aber auch Urvertrauen zurück.

Das Besondere an diesem Roman ist die feinfühlige, stille Erzählweise, die hintergründig agiert und nicht bloße Handlungen vortäuscht. Dadurch entsteht ein rundes, ein griffiges Bild über die Liebe an sich. Nicht nur die zwischen Mann und Frau, ebenso die zwischen Geschwistern, die voneinander abhängig sind, zwischen Freunden, die mehr füreinander empfinden, zwischen Eltern, die ihre Kinder lieben und Kindern, die ihre Eltern vergöttern. Das egoistische Verhalten kommt hier wunderbar zu kurz, denn immer, wenn eine Person versucht, ihre eigenen Ansprüche vehement durchzusetzen, kommt ihr das Schicksal dazwischen und sie ist gezwungen, sich zurückzunehmen und eine andere Perspektive zu wählen.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen empathischen Roman, der verzwickte Lebenswege, falsche Entscheidungen und den Mut der Veränderung thematisiert. „Eine berührende Geschichte über ein Zuwenig an Liebe und ein Zuviel an Ohnmacht“, titelt Noordhollands Dagblad auf dem Buchumschlag und diese Aussage trifft es ziemlich genau auf den Punkt. Empfehlenswert ist der Roman für alle, die Familiengeschichten mögen und sich mit der moralischen und seelischen Entwicklung diverser Charaktere befassen möchten. Ein Buch mit Anspruch, jedoch wunderbar nah dran an den Emotionen und doch ausreichend distanziert für einige Verhaltensweisen – mir hat es sehr gefallen.

Veröffentlicht am 22.12.2018

Den Toten ihre Geheimnisse entlocken

Kalte Asche
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„Ich hatte an genügend Brandermittlungen teilgenommen, um sehr genau zu wissen, was sie bedeuteten. Das Feuer war kein Unfall gewesen. Und dann kam mir ein noch schlimmerer Gedanke, einer, den ich bisher ...

„Ich hatte an genügend Brandermittlungen teilgenommen, um sehr genau zu wissen, was sie bedeuteten. Das Feuer war kein Unfall gewesen. Und dann kam mir ein noch schlimmerer Gedanke, einer, den ich bisher nicht einmal in Erwägung gezogen hatte.“


Inhalt


Der forensische Anthropologe David Hunter wird in seinem zweiten Fall auf die schottische Insel Runa berufen, um den dortigen Ermittlern Unterstützung zu gewähren, da es der übergeordneten Polizeibehörde auf dem Festland nicht möglich ist, ein komplettes Spurensicherungsteam loszuschicken.

Etwas widerwillig beginnt er mit der Arbeit an einer bis Unkenntlichkeit verkohlten Frauenleiche, die in einem alten Cottage gefunden wurde, welches vom Einsturz bedroht ist. Tatsächlich gelingt es ihm mittels Zahnüberprüfungen die Identität der Toten festzustellen, doch die Frau war eine Prostituierte, die mit der Insel selbst anscheinend nur in loser Verbindung stand. Immer mehr beschleicht David aber der Verdacht, dass der Täter unter den Bewohnern von Runa zu finden ist. Denn die zwischenmenschlichen Beziehungen sind alles andere als nett, außerdem sind es die Bewohner gewöhnt, unter sich zu bleiben und Fremden keinen Einblick in ihr Leben und ihre Geheimnisse zu gewähren. Der Grat zwischen Aggressionen und Leidenschaften ist sehr schmal, jeder könnte ein Motiv haben. Als kurze Zeit später die zweite Brandleiche gefunden wird, diesmal der junge Coroner der Polizei, der die Überreste der ersten Leiche bewachen sollte, wird deutlich, dass auf Runa ein Mörder zu Hause ist, dem es missfällt, dass David Hunter seinen Machenschaften zu nah gekommen ist …


Meinung


Dem englischen Autor ist mit seiner Reihe über den stillen, eher unbeteiligten Anthropologen David Hunter eine sehr atmosphärische, detaillierte Kriminalgeschichte gelungen, die in erster Linie durch ihr Setting besticht und die leise, bedrohliche Gefahr hinter der Fassade der Menschen. Er setzt sich intensiv mit sämtlichen Beziehungsmustern der handelnden Personen auseinander und erweckt damit den Eindruck, dass man selbst Teil der Geschichte ist und meint, die Protagonisten zu verstehen und ihre Handlungsmuster nachvollziehen zu können. Doch immer wieder nimmt die Spannung zu, da Andeutungen bald schon zu Gewissheiten werden und sich Grundsätzliches als vollkommen falsch entpuppt. Eine äußerst interessante Variante, die durch die eher klassische Erzählweise sehr gut unterstützt wird.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen gelungenen Kriminalroman, der ein schaurig-schönes Intermezzo auf einer sturmgepeitschten, von der Außenwelt abgekapselten Insel thematisiert und mit zahlreichen unvorhersehbaren Wendungen besticht.

Der Fokus der Erzählung liegt weniger auf einem actionreichen Handlungsverlauf, als vielmehr auf den Geheimnissen einzelner Personen, die alle in einer unerwarteten Verbindung zueinander stehen und weit mehr füreinander sind als die Nachbarn einer kleinen Gemeinde. Die Tötungsdelikte an sich, die sich hier größtenteils auf die Verbrennung von Leichen beschränken fand ich etwas einseitig, zumal ein Forensiker aus der kalten Asche weniger Spuren verwerten kann als aus der natürlichen Verwesung des menschlichen Körpers, deshalb kam hier die medizinische Komponente für meinen Geschmack etwas zu kurz. Wer intelligente, differenzierte Kriminalromane mag, kommt hier aber voll und ganz auf seine Kosten, deshalb mein Gesamturteil: empfehlenswert.

Veröffentlicht am 20.12.2018

Das Begehren trifft den Tod

Hagard
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„Er hat sein Verderben nicht gesucht, nicht einmal die Gefahr, obwohl er dann, als es soweit war und er begriff, an welchem Faden seine Existenz hing, sich dieser Gefahr stellte, ohne zu zögern.“


Inhalt


Erzählt ...

„Er hat sein Verderben nicht gesucht, nicht einmal die Gefahr, obwohl er dann, als es soweit war und er begriff, an welchem Faden seine Existenz hing, sich dieser Gefahr stellte, ohne zu zögern.“


Inhalt


Erzählt wird die Geschichte von Philip, einem Geschäftsmann um die vierzig, mit einem ganz profanen Leben, zwischen Verpflichtungen, anstehenden Terminen und einer hinreichend verplanten Zeit. Einer von Vielen, der in der grauen Masse verschwindet und sich mit ihr tagtäglich im gleichen Trott bewegt. Eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße, ein willkürlicher Akt der Begegnung stellt seinen Tag und im Folgenden sein ganzes Leben auf den Kopf. Philip folgt einem Paar pflaumenblauer Ballerinas durch die Großstadt, die dazugehörige Frau betört ihn, vor allem weil er ihr Gesicht noch nicht gesehen hat und es im Grunde seines Herzens egal ist, ob sie zwanzig oder vierzig Jahre alt ist. Sie wird seine Obsession und er folgt ihr bis nach Hause, versucht in ihren Wohnkomplex zu gelangen und ihre Haustür ausfindig zu machen. Die nächsten 48 Stunden verbringt er im verbotenen Rausch der unentdeckten Beobachtung einer Fremden, sich der Gefahr, die ihm droht durchaus bewusst. Doch von ihr lassen will er auch nicht, selbst dann nicht, als sein Auto nicht mehr auffindbar ist, er nach der Flucht aus der Bahn seinen Schuh verloren hat und sein Handy keine Ladung mehr besitzt. Losgelöst von Raum und Zeit und dennoch erschreckend getrieben steuert das Intermezzo seinem Finale entgegen und Philip seinem Verderben.


Meinung


Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss ist Dramatiker und Romancier zugleich und gehört der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an, sein vorliegendes Buch wird diesem Anspruch mehr als gerecht, vermag er doch eine vollkommen belanglose, willkürliche Situation in ein fesselndes Spiel zu verwandeln und sie darüber hinaus noch hinterfragend, sezierend und philosophisch zu verpacken. Sprachlich konnte mich dieses Buch auf ganzer Linie überzeugen – so viel Inhalt, so viele Varianten in nur wenigen Sätzen, die außerdem noch ausreichend Interpretationsspielraum lassen – sehr faszinierend.


Der Autor lässt den Leser rätseln, indem er einen übergeordneten Erzähler einsetzt, der seinerseits versucht die Ansprüche des Protagonisten Philips zu entschlüsseln. Dieser Ansatz wirkt wie ein Variante, das Unerklärliche zu offenbaren und wahrt andererseits eine interessante Distanz, die eher aufarbeitend als vorwurfsvoll daherkommt.


Inhaltlich hingegen ist das Werk sehr diskutabel und schwer greifbar. Man fühlt sich selbst wenig involviert und hat auch kein genaues Bild vor Augen. Die geschilderten Momentaufnahmen sind ein Experiment, ja ein Gedankenexperiment bezüglich einer kleinen Realitätsverschiebung. Bärfuss geht der Frage nach, warum Menschen von ihren erlernten Verhaltensmustern abweichen und sich plötzlich in einer Art Parallelwelt wiederfinden, die vollkommen neue Perspektiven bietet aber auch ungeahnte Abgründe erscheinen lässt. Und er geht sogar noch weiter. Denn nicht nur Philip allein entscheidet, wie er handelt, sondern auch andere unbeteiligte Zeitgenossen in Form von Kontrolleuren, Taxifahrern und Postboten, ja sogar in der Erscheinung einer Elster, die ihren Platz beansprucht. Außerdem liefert er die Antwort auf alle resultierenden Fragen, die den Leser beschäftigen gleich mit, indem er schreibt: „Vielleicht wollte mir seine Geschichte etwas sagen, mich an etwas erinnern, dass ich nicht hätte vergessen dürfen. Bloß hatte ich keine Ahnung, was das hätte sein können, welche Lehre ich aus der Geschichte hätte ziehen sollen.“


Fazit


Ein ganz klassischer Fall für eine Bewertung mit 3 Lesesternen, denn das Für und Wider hält sich hier die Waage. Kulinarisch betrachtet würde ich sagen, es handelt sich weder um Fleisch noch um Fisch und kann damit keinen nennenswerten Beitrag leisten, doch interessant ist dieser sezierende Blick auf gesellschaftliche Werte allemal. Ein optimales Buch für eine Diskussionsrunde, für ebenfalls vielschichtige Meinungsäußerungen und unterschiedliche Blickwinkel, demnach auch eine Empfehlung für den gymnasialen Oberstufenunterricht. Ein Buch, welches in Erinnerung bleibt – ohne wirklich Bestand zu haben und diese literarische Leistung möchte ich loben, selbst wenn mir persönlich alles zu schwammig und offen blieb.

Veröffentlicht am 13.12.2018

Die Seelenbräute des Propheten

Totengrund
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„Er brauchte keine Kostümierung, keinen auffälligen Glitter und Tand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu fesseln. Sein Blick allein, so durchdringend wie Röntgenstrahlen, zog unweigerlich jedes Augenpaar ...

„Er brauchte keine Kostümierung, keinen auffälligen Glitter und Tand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu fesseln. Sein Blick allein, so durchdringend wie Röntgenstrahlen, zog unweigerlich jedes Augenpaar im Saal auf sich.“


Inhalt


Nach einem Ärztekongress beschließt die Rechtsmedizinerin Maura Isles mit ihrem Jugendfreund Douglas und dessen Bekannten einen kleinen Ausflug zu unternehmen, bevor sie sich wieder in den Flieger setzt und nach Hause zurückkehrt. Doch der Wintereinbruch in Wyoming macht ihnen einen Strich durch die Rechnung, ihr Auto kommt auf der menschenleeren Straße nicht weiter und auf Grund der kalten Temperaturen müssen sie sich einen Unterschlupf suchen. Ganz in ihrer Nähe befindet sich die geschützte Siedlung Kingdom Come, in der seltsamerweise alle Häuser nicht nur gleich aussehen, sondern aus unersichtlichen Gründen leer stehen. Die Bewohner scheinen Hals über Kopf geflüchtet zu sein, nur ein erfrorener Hund ist auffindbar. Als Notunterkunft dienen die Häuser aber allemal. Erst als einer der Mitreisenden schwer verletzt wird, nachdem er mit seinem Bein unter die Schneeketten des Fahrzeugs geraten ist, und nach vielen Tagen immer noch keine Hilfe naht. Macht sich Maura notgedrungen mit Schneeschuhen auf den Weg in die nächste Stadt. Doch auch dort kommt sie nicht an, denn ein junger Mann, angepasst an ein Leben in der Wildnis, entführt sie auf ihrem Weg und behauptet er bewahre sie vor einer großen Gefahr – und tatsächlich, als Maura einige Zeit später auf die Siedlung einen Blick erhascht, sind dort alle Hütten verbrannt und ihr Entführer behauptet, das dies noch lange nicht das Ende einer groß angelegten Aktion sei …


Meinung


„Totengrund“ ist der nunmehr achte Band aus der Rizzoli-Isles-Reihe der Bestsellerautorin Tess Gerritsen und bringt, anders als sein Vorgänger, wieder richtig Leben in die Geschichte über die Rechtsmedizinerin Dr. Isles und ihre befreundete Polizistin Jane Rizzoli. Grund dafür ist das spannende Setting, welches hier gewählt wurde. Eine kleine Menschengruppe, gefangen im Schnee, angewiesen auf die Hilfe anderer, abgeschottet von der Außenwelt und in greifbarer Gefahr, selbst wenn der Leser diese zunächst mehr ahnt als tatsächlich erkennt.


Der Handlungsaufbau konzentriert sich hier auf zwei Ebenen: zum einen die Erlebnisse von Maura vor Ort, die stellenweise sehr gruselig sind, zum anderen die fieberhafte Suche der Polizei nach den Vermissten, in einem Wettlauf gegen die Zeit. Im Nacken sitzt dem Leser dabei die latente Unruhe, dass all die Ereignisse geplant waren, das im Dunkeln noch das Böse lauert und die Gefahr sich ganz in der Nähe befindet und dennoch nicht sichtbar zeigt.


Abgerundet wird die Geschichte um das Verschwinden und die Suche von einer immer detaillierter werdenden Bedrohung durch die Mitglieder einer Sekte. Genannt wird sie „Die Zusammenkunft“ und ihre Mitglieder waren die Bewohner der verkohlten Siedlung. Unter Führung ihres Propheten Jeremiah Goode scharen sich dort viele Frauen und junge Mädchen um nur wenige Männer, die sich unter ihnen ihre Seelenbraut aussuchen dürfen, oder auch gleich mehrere, wenn es sie danach gelüstet. Doch da keiner genau benennen kann, welche Verbrechen sich hinter der gut geschützten Fassade ereignet haben, gehen die Missbräuche im Inneren munter weiter. Nur Maura lernt mit ihrem jugendlichen Entführer im Schnee eine ganz andere Seite kennen, denn Julian Perkins, so sein offizieller Name, war einst ebenfalls Bewohner der Siedlung Kingdom Come …


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen temporeichen aber geheimnisvollen Thriller über die Abgründe hinter einer gut geschützten Fassade. Immer wieder besticht die Handlung durch unvorhersehbare Wendungen, so dass man als Leser das Gefühl hat, immer ganz kurz vor der Lösung zu stehen, um dann doch keine Antwort zu erhalten. Ein psychologisches Nervenspielchen zwischen den Betroffenen, den Drahtziehern im Hintergrund und den leicht verwirrten Lesern, die bald in jedem eine echte Bedrohung entdecken. Empfehlenswert ist das Buch für alle, die ein Faible für Sekten und die ganz spezielle Gruppendynamik haben und sich gern auf eine Entdeckungsreise zwischen Angst, dunkler Gefahr und latenter Bedrohung begeben. Das ideale Buch für winterliche Schmökerstunden mit Nervenkitzel

Veröffentlicht am 09.12.2018

Zeit, die Erinnerung zu überschreiben

Sechzehn Wörter
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„Von einem neuen Ort angezogen werden allein reicht nicht. Der alte Ort muss einen auch wegschieben. „Ich glaube“, sagte er, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, „dass man immer eher weggeschoben ...

„Von einem neuen Ort angezogen werden allein reicht nicht. Der alte Ort muss einen auch wegschieben. „Ich glaube“, sagte er, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte, „dass man immer eher weggeschoben wird, auch, wenn man glaubt, angezogen zu werden.“


Inhalt


Bereits als Kind kommt die junge Iranerin Mona Nazemi nach Deutschland und wächst dort auf, sie selbst sieht sich als Deutsche und merkt ihre Fremdartigkeit eher in den Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen, als in ihrem eigenen Denken. Allerdings erhält sie sich auch die Verbindungen zur Heimat, in der ihre Großmutter immer noch lebt und ihr leiblicher Vater ebenfalls. So anders ist das Leben dort, bietet ganz andere Reize. Für Mona sind es die Besuche in ihrem Heimatland, die sie immer wieder reflektiert und auch die Liebe zu Ramin, einem Iraner, der mittlerweile selbst verheiratet und Vater geworden ist. Es fällt ihr schwer sich ein ständiges Leben im Iran vorzustellen, doch sie liebt auch die dortigen Eindrücke und die Menschen in ihrem Leben. Als ihre Großmutter stirbt, bricht eine elementare Stütze aus der kindlichen Erinnerung weg und Mona reist gemeinsam mit ihrer Mutter in ihr altes Zuhause. Doch bei ihrer Rückkehr nach Deutschland muss sie erkennen, dass es nicht das eine, einzig wahre Leben ist, das sie ihr eigenen nennt, sondern vielmehr eine kleine Facette ihrer Persönlichkeit. Es gibt da eine Mona in Deutschland, doch obwohl sie bestens integriert ist, schleicht sich ihre wahre Herkunft immer wieder in die Gegenwart ein.


Meinung


Die junge Autorin Nava Ebrahimi, schreibt in ihrem Debütroman sehr empathisch und mit viel Fingerspitzengefühl von einem Leben zwischen zwei Kulturen, von gegensätzlichen Erwartungen und konträren Ansprüchen. Dabei versetzt sie den Leser direkt in den Kopf ihrer Hauptprotagonistin Mona, die als Ich-Erzählerin auftritt und deren Erinnerungen so lebendig und eindringlich wirken, dass man meint selbst dabei zu sein. Scheinbar nebenbei erfährt man auch die familiären Umstände, die sie von einer Kindheit in Persien in ein Leben nach Deutschland geführt haben, erkennt die Zwänge denen ihre Mutter ausgesetzt war und die Ansprüche der Großmutter an eine Frau, die es immer noch nicht geschafft hat sich Mann und Kind zuzulegen.

Anders als in vielen Romanen über die Herkunft und die Liebe zur Heimat, bleibt Mona ein sehr sachliches Wesen und trauert ihren verpassten Chancen in einem Leben im Iran nicht nach, auch spürt man die innere Zerrissenheit nicht wirklich, denn ihrer Identität ist sie sich gänzlich bewusst. Das hat mir gut gefallen, weil ich nicht glauben mag, dass ein Leben in der Fremde immer nur mit dem Verlust des Heimatgefühls einhergeht.

Dennoch bleibt die Erzählung hinter meinen Erwartungen zurück, weil mir einfach die klare Ausrichtung fehlt, eine direkte und greifbare Entwicklung, eine Verbindung zwischen der persönlichen Geschichte und der Außenwelt. Alles dreht sich im Kreis, die Erinnerungen speisen den Text und bleiben doch nur eine Abbildung vergangener Zeiten.

Die Verluste, die Trennungen und der von mir erwartete Schmerz, bleiben aus. Mona distanziert sich von Emotionen, sie handelt mit Bedacht und nicht immer mit dem Herzen. Sie lebt einfach irgendwie vor sich hin, nimmt, was sich ihr bietet und denkt ohne große Wehmut an anderes. Man könnte meinen hier einen oberflächlichen Charakter vor sich zu haben, doch das ist es ganz und gar nicht, denn die Tiefgründigkeit ist spürbar und präsent.

Vielleicht ist dieses Verwischen einer klaren Aussage auch das Ziel der Autorin, die sich damit diverse Denkansätze offenhält und ihre Leser nicht in eine bestimmte Richtung drängt, doch genau das hätte ich mir erhofft.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Roman über eine junge Frau mit fremden Wurzeln und Bindungsängsten in der Gegenwart, die sich hier auf Spurensuche begibt und ihre Erinnerungen ausgräbt, um sie mit neuem Leben zu füllen. Sehr gelungen sind die kleinen, unscheinbaren Momentaufnahmen, die zahlreiche Differenzen zwischen Persien und Deutschland sichtbar machen. Auch sprachlich berührt das Buch, nur bleibt kaum etwas hängen, keine Assoziation, kein Wiedererkennen, kein Schmerz, keine Liebe, keine Endgültigkeit – seltsam unpersönlich bleibt der Text, fragil die Aussage und müsste ich das Buch mit Farben bewerten, so würde ich Grau wählen.