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Veröffentlicht am 05.03.2019

Nur den eigenen Vorteil im Blick

Der Neue
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„Ian sah jeden, der neu war in seinem Revier. Denn der Schulhof gehörte ihm. Seit Monaten gefiel er sich schon in dieser Machtposition. Da stellte jeder Neue natürlich eine gewisse Herausforderung dar.“


Inhalt


Osei ...

„Ian sah jeden, der neu war in seinem Revier. Denn der Schulhof gehörte ihm. Seit Monaten gefiel er sich schon in dieser Machtposition. Da stellte jeder Neue natürlich eine gewisse Herausforderung dar.“


Inhalt


Osei Kokote stammt aus Ghana, doch als Sohn eines Diplomaten muss er alle Jahre an eine neue Schule wechseln, weil die Familie mal wieder umzieht. In gewisser Weise kennt er sich also aus mit dem „neu sein“ in einer fremden Umgebung. Dennoch belastet ihn dieses ständige taxieren, einordnen und auf jeden Fall nichts Falsches zu sagen ungemein. Zu gern wäre er einfach nur er selbst, mit stabilen Freundschaften und mehreren Konstanten in seinem Leben. Auch an der Washingtoner Schule, die er nun besucht, gilt er als Außenseiter. Nicht nur weil er neu ist, sondern darüber hinaus auch noch eine andere Hautfarbe hat, als seine Mitschüler. Seltsamerweise freundet er sich gleich am ersten Tag mit einem der beliebtesten Mädchen an und wird wider Erwarten zwar angestarrt aber nicht wirklich gemieden. Für Osei ist das eine ganz hoffnungsvolle Erfahrung, die er so nicht vermutet hat, doch seine Freude währt nur kurz, denn Ian ist bereits der König des Schulhofs und er wird es gewiss nicht hinnehmen, dass ein hergelaufener Fremder sein Revier besetzt. Subtil spinnt er eine Intrige, die gleich mehrere Mitschüler einschließt und sein Ziel ist ganz klar: Osei hat an dieser Schule nicht mehr lange etwas zu lachen …


Meinung


Die in Washington aufgewachsene Autorin Tracy Chevalier widmet sich in diesem Roman einer Art Neuauflage von Shakespeares Othello – ein Außenseiter, der den Makel einer anderen Hautfarbe hat, wird Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen. Ihr Drama legt sie auf den Schulhof einer Washingtoner High-School mit ganz klaren Rollenbildern, die alle bereits gut situiert sind und ihren Platz im Schulgefüge gefunden haben. Und zugegeben, diese ausführliche, individuelle Gestaltung der einzelnen Charaktere macht für mich den Wert des Buches aus, vielmehr als das beabsichtigte Drama, welches für meinen Geschmack auch viel zu kurz kommt, weil es erst auf den letzten zehn Seiten relevant wird.


Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt sie nicht nur Osei, der sich einfügen muss, sondern auch die sympathische Dee, die sofort Freundschaft mit ihm schließt, den Widersacher Ian, der auch vor Gewalt und Intrigen nicht zurückschreckt, seinen meinungslosen Mitläufer Rod und das Traumpaar der Schule, welches als Zielobjekt einer infamen Lüge herhalten muss. Diese vielen Verkettungen zwischen den Schülern, ihr Selbstbild aber auch ihre Außenwirkung im Schulgefüge machen für mich den Großteil der Geschichte aus. Sie sind spannend, vielschichtig, abwechslungsreich und genau im richtigen Maß ausgearbeitet. Der Alltag zwischen den Kindern wird greifbar, ebenso wie die Verteilung der Sympathien, die auch die Lehrer der Schule einbezieht. Auch der Sprachstil, den die Autorin wählt, passt ausgesprochen gut zum Text, denn ein übergeordneter Erzähler lässt die Geschichte lebendig werden und zwar aus allen Perspektiven, nicht nur aus Sicht eines Einzelnen.


Kleine Abstriche muss ich allerdings bei der tatsächlichen Ausarbeitung des Dramas machen. Gerade der Moment, in dem es zum finalen Treffen kommt, bei dem alle Wendungen sichtbar werden, bei dem Schuld und Gewissensfragen offenbart werden sollten, der verpufft auf den letzten Seiten fast gänzlich. Eine kurze, schicksalhafte Abfolge mehrerer Momentaufnahmen fast willkürlich aneinandergereiht und einfach so, fast schon stümperhaft in den Raum gestellt. So plötzlich wie der große Knall kommt, so abrupt endet auch die Geschichte, da haben mir noch viele Seiten zum Leseglück gefehlt, dennoch erschließt sich mir der Text weniger auf Grund seines Abschlusses als vielmehr durch die intensive Auseinandersetzung im Gesamtkontext des Buches.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesem klassischen Roman in Anlehnung an ein Werk der Weltliteratur. Eine individuelle, gut kontrastierte Darstellung verschiedener Rollenbilder in einem abgegrenzten Raum. Keiner kann so recht aus seiner Haut, alle müssen sich neu finden und der Neue mischt die Zusammensetzung diesmal auf. Eine tiefgreifende Debatte bezüglich des Außenseitertums und der Diskriminierung darf man nicht erwarten, weil es eine sehr erzählerische Umsetzung ist, die das romanhafte beibehält, doch als ein kleines Kammerspiel mit bekannten Größen und stimmigen Charakterzeichnungen darf sich dieses Büchlein dennoch schmücken. Mir hat es sehr gut gefallen, mit nur wenigen Abstrichen.

Veröffentlicht am 26.02.2019

Der dunkle Fleck im Herzen

Worauf wir hoffen
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„Und was geschieht, wenn du sündigst? Dann bekommst du einen Fleck im Herzen, einen dunklen kleinen Fleck. Ein Fleck, der nicht mehr weggeht. So fett und schwarz, dass das Herz nicht mehr imstande ist, ...

„Und was geschieht, wenn du sündigst? Dann bekommst du einen Fleck im Herzen, einen dunklen kleinen Fleck. Ein Fleck, der nicht mehr weggeht. So fett und schwarz, dass das Herz nicht mehr imstande ist, Gut und Böse zu unterscheiden.“


Inhalt


Die Ehe von Laila und Rafik ist zwar arrangiert, doch die Liebe lässt nach drei gemeinsamen Kindern nicht mehr auf sich warten. Eine Beziehung, die durch Respekt und Zuwendung geprägt ist und die viele gemeinsame Jahre im Guten wie im Schlechten überdauert hat. Beide stammen ursprünglich aus Indien und leben als streng gläubige Muslime schon viele Jahre in Amerika. Unter diesen Bedingungen wachsen nun auch ihre Kinder Haida, Huda und Amar auf – die Töchter werden nach alter Tradition beschützt und zu Gehorsam und Sittlichkeit erzogen, während der Sohn die Familie repräsentieren soll und sie mit Stolz und Ehrgefühl bereichern darf. Doch die Sehnsucht der Eltern nach diesem Idealbild will sich einfach nicht erfüllen, denn gerade ihr Jüngster entwickelt sich zu einem Rebell und bricht mit Regeln, Traditionen und Wunschvorstellungen jeder Art. Sein Zuhause bleibt ihm eine unerfüllte Sehnsucht, die er bewusst hinter sich lässt und doch nicht aus dem Herzen verbannen kann. Und auch die Töchter wachsen in einer anderen Zeit auf, sie sind viel selbstständiger als ihre Eltern, studieren, leben nur noch eine leichte Variation der elterlichen Religionsverbundenheit und integrieren alle Möglichkeiten, die sich ihnen offenbaren voller Überzeugung in ihr Leben. Und so müssen die Eltern schmerzlich erleben, wie schwer es ist, die Nachkommen gehen zu lassen, deren Wege zu akzeptieren und mit differenzierten Ansichten konfrontiert zu werden.


Meinung


In ihrem Debütroman widmet sich die junge Autorin Fatima Farheen Mirza einer Familiengeschichte, die gleichermaßen besonders und weitreichend ist. Sie erforscht die Tatsache, was Familien im Innersten zusammenhält und welche Probleme sie über die Jahrzehnte bewältigen muss. Viel Raum für Liebe, Glaube und Zuversicht wird gewährt ebenso wie bittere Erkenntnisse, nicht gutzumachende Fehler und die schier ungreifbare Gewalt des Schicksals, dem man nur begrenzt etwas entgegensetzen kann.


Diese Geschichte bereichert die Buchlandschaft um ein buntes, vielschichtiges Geschehen innerhalb einer kleinen Gruppe, deren Mitglieder sich einerseits verpflichtet und verbunden fühlen, die aber auch sehr genau registrieren, dass sich ihr Zusammenhalt zu eng, zu unausgewogen und bremsend auf ihre Persönlichkeitsentwicklung auswirkt. Die Erzählung folgt keiner Chronologie, was anfangs etwas verwirrend wirkt, doch man gewöhnt sich schnell an die vielen kleinen Episoden erzählt aus dem Leben der jeweiligen Person, so dass die Zeitsprünge eher eine generalistische Aussage hervorrufen und die kleinen Nuancen und Verletzungen gut spürbar werden. Darüber hinaus schafft es die Autorin, für einen fremden Kulturkreis Feingefühl und Verständnis zu vermitteln, denn wer kann schon aus seiner Haut, wenn der ganze Glaube so stark auf ein bestimmtes Idealbild konzentriert ist?


Das Aufwachsen der Kinder in einem strengen, an Konventionen gebundenen Elternhaus ist nicht einfach, zumal die Schwestern und Brüder ständig um Anerkennung bei beiden Elternteilen buhlen und damit auch ihre harmonische Geschwisterkonstellation ins Wanken gerät. Und genau dieser Ansatzpunkt hat mir bei der Lektüre am Besten gefallen: Das Betrachten einer ganz normalen, greifbaren Familie, die mit allen Mitteln um die Liebe kämpft und doch nur hoffen kann, dass die Zeit alle Wogen glättet.


Dennoch hat die Erzählung ihr Längen, werden doch einige Sachverhalte immer wieder zur Sprache gebracht und derart ausführlich beleuchtet, dass ich an dieser Stelle eine Straffung des Textes als wohltuend empfunden hätte. Auch der kulturelle Knackpunkt ist nicht so dramatisch wie erwartet, denn obwohl Glaubensfragen durchaus zur Debatte stehen, ergibt sich zu wenig Reibungsfläche, so dass die Erzählung für mich eher universellen Charakter hat und sich zielgerichtet mit Beziehungsmustern auseinandersetzt, doch das hätte ebenso gut in einer Familie ohne muslimischen Hintergrund funktioniert.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen intensiven, auf zwischenmenschliche Belange konzentrierten Familienroman, der viele Parallelen zum echten Leben aufweist. Gut gezeichnete Charaktere, bunte Erzählperspektiven und eine fundierte Innenansicht von Menschen, Gedanken und Gefühlen werden hier erschaffen. Doch der „Wow“- Effekt hat mir etwas gefehlt, dafür verliert sich einiges auf dem Weg zwischen Kindheit und Erwachsenwerden der Protagonisten. Sehr gelungen finde ich die Auseinandersetzung mit Geschwisterbeziehungen, Elternproblemen und der weisen Einsicht, dass man Kinder in die Welt setzt, um sie eines Tages ziehen zu lassen und der Weg dorthin ein steiniger ist, gepflastert mit Enttäuschungen, Bewunderung aber auch Überraschungen, die man erst im Lauf eines Lebens gänzlich begreifen kann. Ich vergebe eine Leseempfehlung, mir hat der Roman gerade als dreifache Mutter manches gezeigt, was im Alltag untergeht …

Veröffentlicht am 15.02.2019

Der letzte Funke Leben

Leichenblässe
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„Jetzt hatte sich die alte Besessenheit wieder geregt, das Bedürfnis, die Wahrheit über das Schicksal der Opfer zu erfahren.“


Inhalt


Für den forensischen Anthropologen, dem sein letzter Einsatz fast ...

„Jetzt hatte sich die alte Besessenheit wieder geregt, das Bedürfnis, die Wahrheit über das Schicksal der Opfer zu erfahren.“


Inhalt


Für den forensischen Anthropologen, dem sein letzter Einsatz fast das Leben gekostet hat, wird das Wiedersehen mit seinem alten Mentor Tom Lieberman in Tennessee, längst nicht so harmlos wie angenommen. Denn obwohl sich Tom aus gesundheitlichen Gründen von der Arbeit zurückziehen möchte, wirkt er an einer aktuellen Mordserie mit und unterstützt mit seinen Entdeckungen die Ermittlungsarbeit der Polizei.

Anscheinend hat ein Serienmörder die Leichen mehrerer Menschen auf spektakuläre Art und Weise vertauscht, so das sich der Verwesungsgrad der Leiche mit ihrem eigentlichen Todeszeitpunkt nicht verträgt. Allerdings fehlt von einem möglichen Motiv jegliche Spur, die einzige Erkenntnis, die Tom und David gewinnen, ist die Tatsache, dass sich der Mörder ebenso gut wie sie selbst, mit den Prozessen der biochemischen Zersetzung lebender Organismen auskennen muss. Ein zwielichtiger Bestattungsunternehmer rückt schnell in den Fokus der Ermittlung, doch die Puzzleteile passen nicht ganz, selbst wenn der potentielle Täter urplötzlich verschwunden ist. Doch während Tom der Aufklärung ein Stückchen näher gekommen ist, ereilt ihn ein Herzanfall und David, muss die Sache alleine weiterführen, ohne zu ahnen, dass er nun selbst zur Zielscheibe eines Verrückten geworden ist, der sein Kunstwerk noch nicht vollenden konnte …


Meinung


Auch in seinem dritten Band der David-Hunter-Reihe punktet der britische Bestsellerautor Simon Beckett mit einer fundierten Mischung aus forensischer Anthropologie, menschlichen Abgründen und mörderischen Aktivitäten. Der Mehrwert dieser Serie beruht nicht nur auf spannenden Mordfällen und grausamen Szenarien, sondern auch auf detaillierten Personenbeschreibungen und realitätsnahen Verhaltensweisen der Protagonisten. Insgesamt ist es genau dieser Mix, der für abwechslungsreiche Lesestunden mit hohem Suchtfaktor sorgt. Der Autor bringt genau die richtige Dosis Privatleben ein und garniert sie mit spezifischem Fachwissen und unwiderlegbaren Ereignissen.

Dabei lockert er den Text immer wieder mit kurzen Auszügen aus den Gedankengängen des Täters auf, ohne dabei zu viel zu verraten. Denn insgesamt bleibt der Leser auf dem gleichen Kenntnisstand wie David Hunter und damit immer ein klein wenig im Nachteil gegenüber dem Täter, obgleich es manchmal ein kurzes Aufflackern gibt, bei dem man denkt, der Wahrheit viel näher gekommen zu sein, bis die nächste unerwartete Wende ihren Lauf nimmt.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen intensiven, konkreten Thriller mit viel informativen Wissen bezüglich der menschlichen Verwesungsprozesse und ihrer Spuren nach dem Tod. Schriftstellerisch wertvoll, da es weder die pure Action, noch der sadistische Wahnsinn sind, die den Verlauf bestimmen, sondern vielmehr ein akribischer Ermittler, der sehr gut im Lesen diverser Spuren ist und trotzdem rein intuitiv und menschlich handelt. Für Fans der Reihe ein absolutes Must-Read, obwohl man hier die Bände auch gut in abgewandelter Reihenfolge lesen kann, da sie immer abgeschlossen sind und auch solo spannende Lesestunden bescheren. Wer ausgereifte Lektüre auf dem Markt der Spannungsliteratur sucht, wird mit Simon Beckett sicherlich fündig.

Veröffentlicht am 29.01.2019

Die unsicheren Konstanten der Einsamkeit

Agathe
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„Doch wie ich hier so saß, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, woraus dieses Leben bestehen sollte. Waren nicht Angst und Einsamkeit die einzigen Konstanten, derer ich mir sicher sein konnte?“


Inhalt


Mit ...

„Doch wie ich hier so saß, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, woraus dieses Leben bestehen sollte. Waren nicht Angst und Einsamkeit die einzigen Konstanten, derer ich mir sicher sein konnte?“


Inhalt


Mit 72 Jahren begibt sich ein alternder Psychiater auf seinen persönlichen Abschiedsweg aus dem Berufsleben. Er hat sich eine Frist gesetzt, wie viele Gespräche er vor Beginn seines Ruhestands noch führen wird, um dann endgültig die Türen seiner Praxis zu schließen. Fortan zählt er rückwärts und findet die einzige Motivation für den Tag in der immer kleiner werdenden Zahl seiner Verpflichtungen. Die neue Patientin Agathe, eine manisch-depressive Person, die sich bereits jahrelang in psychiatrischer Behandlung befindet, kommt ihm dabei irgendwie in die Quere. Nicht nur, dass sie es schafft sich in seinen Terminkalender zu schmuggeln, obwohl er niemanden mehr aufnehmen wollte, nein, sie ist auch die Einzige, die ihn nach vielen Jahren wieder in seiner Lethargie erschüttert und bei der endlich einmal wieder das Gefühl verspürt, nicht nur ihre Krankheit zu lindern sondern auch Zutritt zu ihrer Seele zu bekommen. Ihre Denkanstöße gehen aber weit über sein normales Praxisniveau hinaus, besonders weil sie ihm zeigt, wie leer und einsam sein Leben ist, wie aufgesetzt seine Freude über den anstehenden Pensionsbeginn, hat er doch dann so gar keine Aufgabe mehr und kann sich tagein tagaus mit seinem immer älter werdenden Körper beschäftigen. Der Psychiater kommt ins straucheln und beginnt, sich neu zu erfinden, denn Agathe hat den Nagel auf den Kopf getroffen – was bleibt ihm denn, außer Einsamkeit und Verdruss?


Meinung


Aufmerksam geworden bin ich auf dieses kleine feine Buch, weil mich die Geschichte an sich sehr angesprochen hat. Allein die Frage auf dem Klappentext, ob es jemals zu spät ist, um Nähe zuzulassen, impliziert einen emotionalen, tiefgründigen Text, der sich auf Zwischenmenschlichkeit und Lebensführung beruft, vielleicht auch auf verpasste Chancen und Neuanfänge. Ein psychologisches, universelles Thema, zu dem man sicher auch eigene Erfahrungswerte beisteuern kann.


Die Autorin Anne Cathrine Bomann arbeitet selbst als Psychologin, was dem Text vielleicht auch diese ganz persönliche Handschrift verleiht. Einerseits ein leichtes, lockeres Buch, basierend auf mehreren Gesprächsführungen ohne viel Nebenhandlungen. Doch dann wieder ein sehr traurig wirkender, melancholischer Monolog, bei dem sich der Hauptprotagonist immer mehr mit seinen Fehlern und Verfehlungen konfrontiert sieht, die ihm zwar durchaus geläufig sind, denen er aber erst jetzt, in Gegenwart seiner Patientin Agathe eine Bedeutung beimisst. Das Augenmerk liegt dabei eindeutig auf der Bewusstseinsfindung, ausgelöst durch eine fremde, anscheinend besondere Person, die ohne speziellen Willen und ein zielgerichtetes Vorhaben Veränderungen hervorruft, die es dem Hauptcharakter des Buches ermöglichen über seinen Schatten zu springen. Und so schafft der Roman beides: er bildet ein auf Einsamkeit ausgerichtetes Menschenleben ab, welches offensichtlich funktioniert aber keine Sinnhaftigkeit besitzt und er setzt diesem ein gestörtes, krankhaftes Bild entgegen, dem es zwar nicht an Erkenntnis mangelt, dafür aber an Freude. Zwei Personen treffen aufeinander, die sich gegenseitig beeinflussen können und das nach anfänglichen Zweifeln auch tun.


So einfühlsam und schön der Text aber auch geschrieben ist, mir fehlt dennoch ein bisschen Hintergrund. Das liegt vielleicht auch daran, das die Namensgeberin des Buches für mich eine sehr schemenhafte, blasse Gestalt geblieben ist, so dass ich nicht restlos nachvollziehen kann, wie es ihr gelingen konnte, den Psychiater (der leider ohne Namen bleibt) so wachzurütteln. Auch die Gedankengänge und die folgenden Handlungern erscheinen mir etwas unpassend vielleicht auch aufgesetzt. Denn die Erkenntnis, das Einsamkeit die Zukunft sein soll, bewegt den Herrn Doktor nun Kuchen für den Nachbarn zu backen und sich ans Sterbebett von Bekannten zu setzen – gut vielleicht ein Anfang, doch hatte ich nicht das Gefühl, das sein anfängliches negatives Weltbild nun wirklich einen positiven Wandel durchlaufen hat. Möglicherweise liegt auch in dem offenen Ende die Schönheit dieser Erzählung, bei der noch alles möglich scheint und nichts beendet – nur vermisse ich an dieser Stelle ein klares Schlusswort.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für einen ansprechenden Roman mit einer sympathischen Geschichte. Ein guter Mix aus Unterhaltungsliteratur und anspruchsvollen Gedankengängen, die dem Leser aber selbst überlassen bleiben. Manchmal war mir der Inhalt zu seicht, dann wieder zu pessimistisch aber vor allem fehlt mir die Bedeutungsschwere, die ich zu Beginn erwartet habe. Für mich ist es eher ein leichtes Wachrütteln bezüglich der Möglichkeit, hin und wieder den Lebensweg zu überprüfen, damit man nicht irgendwann vor verpassten Chancen und endlosen Weiten steht und im Hintergrund die ablaufende Zeit wahrnimmt. Eine Hommage an das Motto: Nutze den Tag und die Menschen, die dir begegnen, um glücklich zu werden.

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Veröffentlicht am 08.01.2019

Wenn die Familie verlorengeht

Grenzgänger
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„Was hast du getan? Das war das Gewicht, das mit einer solchen Wucht auf ihrer inneren Waage aufschlug, dass es das angesparte Referenzgewicht endgültig aushebelte.“


Inhalt


Im Jahre 1970 muss Henni ...

„Was hast du getan? Das war das Gewicht, das mit einer solchen Wucht auf ihrer inneren Waage aufschlug, dass es das angesparte Referenzgewicht endgültig aushebelte.“


Inhalt


Im Jahre 1970 muss Henni Bernhard einen Prozess über sich ergehen lassen, in dem sie der Tötungsdelikte an ihrem Vater und einer Schwester aus dem Kinderheim bezichtigt wird. Ihr beharrliches Schweigen spricht leider nicht für ihre Unschuld, ebenso wenig wie das fehlende Alibi. Nur ihr Mann und die Freundin aus Jugendtagen Elsa Brennecke sind davon überzeugt, dass Henni keine Schuld trifft. Stück für Stück legen sie Teile der Wahrheit frei, befassen sich mit den reellen Bedrängnissen der Vergangenheit und decken verjährte Untaten auf, doch Recht und Gerechtigkeit sind vor dem Gesetz verschiedenen Begriffe …


Meinung


Voller Vorfreude habe ich mir den aktuellen Roman der deutschen Autorin Mechtild Borrmann zugelegt, die mich bereits mit ihrem historischen Kriminalroman „Trümmerkind“ von ihrem schriftstellerischen Können überzeugt hat. Auch in „Grenzgänger“ greift sie auf tatsächliche Begebenheiten aus der jüngeren Deutschen Geschichte zurück, die menschenverachtende Erziehungsmethoden in Kinderheimen thematisieren. Auf hoch interessante Art und Weise kombiniert sie einen bewegenden persönlichen Erfahrungsbericht mit fiktiven Elementen, die dennoch sehr nah an schockierenden Wahrheiten bleiben.


Ungewöhnlich ist jedoch die verwendete Erzählperspektive, die diverse Personen als Beobachter und Betroffene gleichermaßen auftreten lässt. Einerseits entsteht dadurch eine bunte Vielfalt, die den echten Vorbildern der Geschichte gerecht wird, andererseits hat mir diese Interaktion nicht 100 prozentig gefallen. Henni Bernhard, geborene Schöning, war für mich die leuchtende Protagonistin, deren Verhalten bewundernswert und unverständlich gleichermaßen war, doch sie kommt hier nicht ausreichend zu Wort. Die Innensicht dieser kämpferischen, jungen Frau bleibt etwas unbestimmt und ist für mich nicht flächendeckend greifbar, deshalb ziehe ich auch einen Bewertungspunkt ab.


Was die Erzählung allerdings bestens vermag, ist die zielgerichtete, intensive Auseinandersetzung zwischen Schicksalsergebenheit, Lebensmut, Widerstandskraft und menschlichen Verfehlungen. Dabei steht sowohl der Kampf um Gerechtigkeit als auch der Verlust der Unbeschwertheit im Zentrum der Story– manchmal überwiegt der Schmerz, dann wieder die Zuversicht aber immer die Liebe zur Wahrheit.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen historisch angelehnten Aufarbeitungsroman über die Zwänge und Notstände in Kinderheimen, über elterliches Unvermögen, fehlende Zuneigung und dramatische Ereignisse ohne direkte Schuldige. Für Betroffene eine emotionale Fundgrube, für Interessierte ein Stück Zeitgeschichte, für alle anderen ein perspektivenreiches Lesevergnügen. Frau Borrmann hat den Finger sehr genau auf dem Herzen ihrer Erzählungen und das gefällt mir ausgesprochen gut, weitere Romane der Autorin sind von mir geplant.