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Veröffentlicht am 28.09.2018

Ein Tornado offenbart vergangene Schuld

Grausame Nacht
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„Ich will noch sagen, dass es ein gutes Gefühl ist, einen Fall abzuschließen und der Gerechtigkeit Genüge getan zu haben, bin aber nicht sicher, ob das angebracht ist. Denn obwohl drei Fälle abgeschlossen ...

„Ich will noch sagen, dass es ein gutes Gefühl ist, einen Fall abzuschließen und der Gerechtigkeit Genüge getan zu haben, bin aber nicht sicher, ob das angebracht ist. Denn obwohl drei Fälle abgeschlossen werden konnten, gibt es für niemanden ein Happy-End.“


Inhalt


In ihrem siebenten Fall wird die Polizeichefin von Painters Mill Kate Burkholder mit den Knochenresten einer männlichen Leiche konfrontiert, die jahrelang verborgen in einer alten Scheune lag. Ein zerstörerischer Tornado reist das alte Gemäuer ein und tritt damit eine Ermittlungslawine los. Es dauert nicht lang, bis es der Polizei gelingt das Opfer zu identifizieren und sich dann in dessen familiären Umfeld umzuhören. Doch Kate stößt gerade bei den Swartzentrubern, einer sehr radikalen, streng-gläubigen Gemeinschaft der Amischen, die möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg sind, auf Widerstand. Nur ungern öffnet man Türen und die Polizei wird argwöhnisch überwacht. Zudem wird Kate selbst von einem Unbekannten verfolgt und entgeht seinen Schüssen nur knapp. Die Verfolgungsjagd läuft auf Hochtouren und bringt keinen Erfolg. Durch bloßen Zufall stößt Kate auf einen Korb voller Löwenzahnblätter und Kermesbeeren, die eine der Tatverdächtigen gesammelt hat, deren Mann wenig später an den Folgen einer schweren Vergiftung stirbt und Kate stochert tiefer in den Geheimnissen der gottesfürchtigen Gemeindemitglieder …


Meinung


Nachdem ich voller Begeisterung die vorherigen Bände der Kate-Burkholder-Reihe der erfolgreichen amerikanischen Autorin Linda Castillo verschlungen habe, bin ich von diesem Fall zugegeben etwas enttäuscht. Nicht nur weil es so viele unrelevante Nebenhandlungen gibt, die letztlich keinerlei Bezug zum tatsächlichen Fall aufweisen, nein vor allem auf Grund der Tatsache, dass es hier wirklich an Spannung fehlt. Eher schleppend beginnt die Geschichte, bei der zwar eine Naturkatastrophe der Auslöser war, die allerdings nicht vorwärtskommt. Die Gemeinde der Amischen spielt ohnehin eine sehr untergeordnete Rolle und auch dieser Punkt missfällt mir, sind es doch gerade die dunklen Geheimnisse dieser Bevölkerungsgruppe, die den Reiz der ganzen Reihe ausmachen. Fast scheint es so, als wären der Autorin erstmals die neuen Ideen ausgegangen, denn zu den Glaubensfragen, der Lebensweise und den Bedingungen, haben die vorherigen Bände bereits ausreichend Informationsmaterial geliefert. Die Kriminalhandlung möchte ich hier fast als simpel und etwas spröde bezeichnen.


Tatsächlich hat mir auf weiten Strecken das private Intermezzo zwischen der Polizeichefin und ihrem Lebensgefährten Tomasetti fast besser gefallen, doch auch hier verläuft die Entwicklung in eine leicht klischeehafte Richtung, die mir rückblickend betrachtet nicht optimal erscheint.


Fazit


Leider werden es diesmal nur 3 Lesesterne für den 7. Fall der Reihe, weil die Autorin doch etwas von ihrem Schema abkommt und die Vorzüge der Gesamterzählung nicht zu betonen vermag. Dennoch ist der Schreibstil gewohnt flüssig und man kommt gut voran beim Lesen. Wer die Reihe kennt und mag, kann den Fall sicherlich als kleine Flaute verbuchen, so wie ich es empfunden habe, wer zufällig diesen Roman als erstes oder einziges Buch liest, wird möglicherweise nicht verstehen, warum die Begeisterung für die Amischen und ihre Familienbande so groß ist.

Veröffentlicht am 27.09.2018

Die Tochter von Trennungen

Arminuta
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„Das Privileg, das ich aus meinem vorherigen Leben mitbrachte, unterschied mich, isolierte mich in der Familie. Ich war die Arminuta, die Zurückgekommene. Ich sprach eine andere Sprache und wusste nicht ...

„Das Privileg, das ich aus meinem vorherigen Leben mitbrachte, unterschied mich, isolierte mich in der Familie. Ich war die Arminuta, die Zurückgekommene. Ich sprach eine andere Sprache und wusste nicht mehr, wohin ich gehörte.“
Arminuta, ein 13-jähriges Mädchen, dessen echten Namen der Leser nicht erfährt, wird von ihrem Vater ohne weitere Erklärung bei ihren leiblichen Eltern abgeliefert. Plötzlich findet sie sich in einem ärmlichen Haus mit zahlreichen Geschwistern und wenig Platz wieder - sie die bisher das Einzelkind wohlhabender Eltern war und zum Ballettunterricht ging. Erklärungen bekommt sie keine, dafür ändert sich alles. Die Schule ist nur noch Nebensache, zu Hause wird Mitarbeit erwartet und auf Verschwendung folgt harte Strafe. Ein eigenes Zimmer gibt es nicht, anfangs nicht mal ein eigenes Bett und Arminuta hat nur einen einzigen Wunsch: Sie will zurück nach Hause. Aber nach und nach merkt sie, dass ihre Adoptivmutter kein echtes Interesse an ihr zeigt und sie nicht zurückholen wird, selbst wenn sie sich finanziell weiterhin um sie kümmert. Und ihre leibliche Mutter ist schlicht und einfach eine pragmatische Frau ohne besondere Liebenswürdigkeit. Nicht nur ihr gegenüber, sondern auch in Bezug zu den anderen Kindern. Der einzige Trost ist ihre temperamentvolle jüngere Schwester Adriana, die der einsamen Seele Kontra bietet und ihre neugewonnene Schwester mit offenen Armen empfängt. Nach und nach erfährt Arminuta, was tatsächlich zum Bruch zwischen ihrem Elternhaus und den Adoptiveltern geführt hat und sie ist sich der traurigen Tatsache bewusst, dass sie nicht die Tochter einer Mutter ist, sondern die Tochter von Trennungen …
Die italienische Autorin Donatella Di Pietrantonio wurde bereits mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet und schaffte mit diesem Roman ihren internationalen Durchbruch. „Arminuta“ ist ein ungewöhnliches Buch, beschäftigt es sich doch mit einem nicht alltäglichen Inhalt, bei dem ein Kind, ein Teenager eher, zwischen zwei Müttern steht und keine der beiden sich in einer annähernden Mutterrolle befindet. Doch die vordergründige Thematik lässt schnell erkennen, welche Probleme eigentlich entstehen, wenn junge Menschen keinen Rückhalt haben, keine Erklärungen bekommen und wie ein Spielball zwischen den Erwachsenen hin und hergeschoben werden. Und damit gelingt es der Autorin sehr gut, die Stimmung einzufangen, die Bedrücktheit der Protagonistin und jedwede andere Empathie, die Arminuta mit dem Leser teilt.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Betrachtung der Peripherie im unmittelbaren Familienverband. Da gibt es Geschwister, die „die Neue“ nicht mögen und sie ärgern, aber auch andere, die sie brauchen und ihre Nähe suchen, da gibt es plötzlich Erlebnisse, die man mit anderen Kindern teilen kann und Verschwörungstheorien, die unter Bettdecken ausgehandelt werden. Dieses weitläufige Geschwistergefüge wird äußerst intensiv und glaubwürdig geschildert und drängt die verlorene Mutterliebe manchmal sogar in den Hintergrund. Gemeinsam sind wir Kinder stark gegen jedes elterliche Bollwerk!
Da das Buch die Ich-Erzählperspektive wählt, fühlt man sich als Leser wunderbar involviert in die Gedankengänge der Arminuta, die diese anscheinend mit einigem zeitlichen Abstand aus ihrer Erwachsenensicht schildert. Dieser Schreibstil macht betroffen, hilflos und manchmal sogar wütend, in Anbetracht der Zerstörungskraft eines fehlenden Zuhauses für ein unschuldiges Kind. Doch ebenso wie es der Hauptperson ergeht, verliert sich diese Wut allmählich und auch die ewige Frage nach der Schuld oder dem Schuldigen tritt in den Hintergrund, weil ersichtlich wird, dass Arminuta die Problematik ihrer eigenen Kindheit nicht mitgenommen hat in ihr erwachsenes Leben. Die Traurigkeit, die bleibt, doch der Mensch wächst über sich hinaus und setzt andere Schwerpunkte und neue Prioritäten und geht ungeachtet der vergangenen Pein entschlossen in die andere Richtung.
Zum Lieblingsbuch hat mir ein ganz entscheidender Punkt gefehlt und das ist eine gewisse Perspektivenvielfalt. Wie gerne hätte ich in die Köpfe der beiden in meinen Augen sträflichen Mütter geschaut, deren objektives Handeln ich zwar verstehen konnte, aber ganz und gar nicht die inneren Beweggründe. Es wäre für mich wunderbar gewesen, wenn auch einmal die Adoptivmutter Adalgisa zu Wort gekommen wäre oder die leibliche Mutter, die mir immer fremd blieb. Es ist diese Lücke, die ein ansonsten sprachlich ansprechender Roman, nicht schließt und genau dieses I-Tüpfelchen fehlte mir noch.
Fazit: Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für ein innovatives, generalistisches Buch jenseits des Main-Stream. Auf sehr intensive Art und Weise geht es auf menschliche Familienbeziehungen ein und auf die Interaktion zwischen den Beteiligten. Da gibt es Mütter, Töchter, Söhne und Väter, Nachbarn und Lehrer und jeder trägt einen Anteil im Leben einer Heranwachsenden. Dieses Geflecht lohnt es zu betrachten und sich gemeinsam mit Arminuta auf eine Reise in deren geprüfte Kindheit zu begeben. Mir hat dieser Roman viele Ansatzpunkte geliefert, die zu weiteren Gedankengängen anregen und ich kann ihn guten Herzens empfehlen.

Veröffentlicht am 22.09.2018

Eine monströse Definition von Liebe

Mein Ein und Alles
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„Du springst hart mit mir um, aber du bist auch gut für mich, ich brauche Härte, weil ich nicht gut für mich selbst bin und du mich zwingst zu tun, was ich tun will, aber nicht für mich tun kann; und trotzdem, ...

„Du springst hart mit mir um, aber du bist auch gut für mich, ich brauche Härte, weil ich nicht gut für mich selbst bin und du mich zwingst zu tun, was ich tun will, aber nicht für mich tun kann; und trotzdem, und trotzdem …“


Inhalt


Martin Alveston lebt mit seiner Tochter Turtle abgeschieden in einem verwahrlosten Haus im Wald, in einer seltsamen Kakophonie aus Abhängigkeit, Zwang und Elternliebe, die sich wie ein böswilliges Insekt in die Haut der Beteiligten frisst. Jeden Tag bringt er sie zum Bus, überwacht argwöhnisch ihre Schulleistungen und holt sie abends fluchend in sein Bett, um sich an ihr zu vergehen. Turtle spürt die große Kraft hinter der Ohnmacht ihrer Gefühle, die zwischen abgrundtiefen Hass und verbotener Lust schwanken. Manchmal wartet sie regelrecht auf Martin, dann reißt sie wieder aus, um Abstand zu gewinnen. Erst als sie den gleichaltrigen Jacob kennenlernt und ein paar Stunden in der Normalität einer Freundschaft verbringt, ahnt sie, dass sie ihrem Vater irgendwie entkommen muss, weil dieses Verhältnis verdorben und schlecht für sie ist. Doch Martin sieht den neuen Schwarm seiner Tochter als echte Bedrohung, möchte er doch der einzige Mann für seine Tochter sein. Er reagiert mit Gewalt und erschüttert den Glauben von Turtle an das Gute in ihm, doch dann ist er plötzlich verschwunden, um viele Wochen später mit einem fremden Mädchen zurückzukehren. Dieses ist fast noch ein Kind und Turtle weiß, dass es nun nicht mehr um ihr eigenes Leben geht, sondern auch um das der Fremden. Nur Martins Grenzen kennt sie nicht ausreichend …


Meinung


Angelockt von der äußerst vielversprechenden Geschichte, die mich vor allem inhaltlich interessiert hat, habe ich ungeachtet anderer Lesermeinungen bzw. einer Leseprobe kurzentschlossen zu diesem Roman gegriffen und mich auf eine wie von der Presse angekündigte „überwältigende“ Lektüre gefreut. Ja, gelogen ist das nicht, sie hat mich förmlich überfahren und geplättet – allerdings nicht so, wie ich es erhofft habe, eher dahingehend, dass ich ununterbrochen kopfschüttelnd die Zeilen verfolgte und mich über fast 500 Seiten gefragt habe: „Was will uns diese Geschichte sagen?“


Der junge amerikanische Autor Gabriel Tallent spaltet mit seinem eindrucksvollen Debütroman wahrscheinlich seine Leserschaft, einerseits ein ungewöhnliches, erschreckendes Buch über Misshandlung und den Gebrauch von Waffen, je fast einer unsagbaren Liebesgeschichte zwischen Gewaltverherrlichung und seelischer Abhängigkeit. Und andererseits ein vollkommen abstruses, unverständliches Geschehen hinsichtlich Emotionalität und Menschsein, fernab von Nachvollziehbarkeit und ansprechender Erzählung. Schade nur, dass ich die Genialität des Textes ganz und gar nicht nachvollziehen konnte.


Tatsächlich zähle ich mich zu den Lesern, die der Geschichte kaum etwas abgewinnen können, die Ursachen sind vielschichtig und ausufernd, so dass ich mich auf zwei Dinge konzentrieren möchte, die eine für mich sehr ungewöhnlich schlechte Bewertung rechtfertigen. Zum einen ist es die Banalität der Erzählung, die gerade im ersten Teil des Buches schon an Langeweile grenzt. Minutiös werden Abenteuertrips durch den Urwald geschildert, angefangen von einer ausufernden Naturbeschreibung, bis hin zu ekligen Erlebnissen, wie dem Verspeisen von lebenden Skorpionen. Ganze Seiten werden mit dem Erleben der Flora und Fauna gefüllt, ohne die Handlung in irgendeiner Weise vorwärts zu bringen.

Ebenso uninteressant war der ständige Gebrauch von Waffen, die Dominanz der Bewaffnung an sich, die Beschreibung wie und wann ein Gewehr zu Laden, zu Reinigen und zu Gebrauchen ist. Der zweite elementare Fehltritt des Buches besteht für mich in der gewählten Sprache, die sich in erster Linie mit Flüchen, Verwünschungen und Schimpfwörtern füllt, vor allem in der wörtlichen Rede. Mag sein, dass das die Umgangssprache der Protagonisten ist, mir gibt das nichts.


Und nicht zuletzt sind es die fehlenden psychologischen Aspekte, die mich maßlos enttäuscht haben. Der Leser wird ins Geschehen hineinversetzt und fühlt sich ebenso hilflos wie Turtle, nur mit dem Unterschied, dass ich mir gewünscht hätte, das Mädchen auch nur ansatzweise zu verstehen. Leider blieb mir ihr Handeln und die inneren Beweggründe ebenso fremd, wie der Rest des Buches. Keine Erklärung, keine Emotionen, kein Ausweg – retten kann dich nur der Tod.


Fazit


Es wird nicht mehr als ein Lesestern für dieses bizarre, schockierende Buch an der Grenze zur menschenverachtenden Betrachtung des Lebens. Willkür, Gewalt, Unverständnis, fehlende Kommunikation und das Verwischen der Grenzen zwischen Liebe und monströsen Auswüchsen war hier allzu präsent. Und hätte ich das Buch nicht für eine Challenge gelesen, dann wäre spätestens nach 100 Seiten Schluss gewesen. Meine Empfehlung an alle interessierten Leser, bildet Euch auf Grund der Leseprobe einen ersten Eindruck, danach kann man sicherlich besser abschätzen, ob sich diese Investition lohnt. Für mich trägt das Buch nun den Stempel „Flop des Jahres 2018“.

Veröffentlicht am 18.09.2018

Das Opfer des Opfers

Ein Winter in Paris
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„Ich führte ein komplett anderes Leben. Und ein anderes Leben ist immer gut. Es erlaubt einem, abzutauchen und erst dann wieder zum alten zurückzukehren, wenn man gründlich nachgedacht hat.“


Inhalt


Victor ...

„Ich führte ein komplett anderes Leben. Und ein anderes Leben ist immer gut. Es erlaubt einem, abzutauchen und erst dann wieder zum alten zurückzukehren, wenn man gründlich nachgedacht hat.“


Inhalt


Victor ist nicht nur Lehrer geworden, sondern auch Schriftsteller, genau wie er es sich vor 30 Jahren ausgemalt hat, denn Romane waren ihm immer schon wichtig, weil er der analytischen Sicht auf die Dinge längst nicht so viel abgewinnen konnte, wie der persönlichen. Mit 19 war er Student am renommierten Lyceé D. in Paris – ein Einzelgänger, ein junger Mann, dem man nicht allzu viel zugetraut hat, jemand der sich am Rande aufhielt und im Schatten anderer stand. Dort hatte er keine Position, keinen Stellenwert, traf sich in den Pausen zum Rauchen mit seinem einzigen Bekannten, der noch dazu eine Jahrgangsstufe unter ihm war.

Victor nahm sich vor, mehr aus dieser zarten Bande zu machen und beschloss Mathieu zu seinem Geburtstag einzuladen. Doch dazu kam es nicht mehr, denn Mathieu stürzte sich während einer Unterrichtseinheit in den Tod und für Victor war dieses Drama der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Fortan wollte jeder wissen, was die beiden jungen Männer verband, warum Mathieu sich für Selbstmord entschieden hat und welche Rolle Victor einnahm. Victor bekam plötzlich all jene Aufmerksamkeit, die er sich damals nicht mal ansatzweise erträumte, doch sehr genau weiß er zu unterscheiden, welchen Wert er für die diversen Beteiligten hat und wählt sehr bewusst, wem er seine Zeit schenkt.


Meinung


Der französische Autor Jean-Philippe Blondel schreibt echte Herzensbücher, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern sich sehr intensiv mit den Emotionen der Protagonisten auseinandersetzen. Von seinem Können bin ich bereits durch die Romane „6 Uhr 41“ und „This is not a lovesong“ überzeugt und auch hier beweist er wieder viel Fingerspitzengefühl bei der Reflexion der Gedankengänge als Folge eines dramatischen Ereignisses.

Der Ich-Erzähler des Buches bekommt hier eine markante Position, führt er den Leser doch durch diese persönliche Geschichte, mit allen Verwirrungen, allen Fragen der Schuld und des Unverständnisses für den frühzeitigen Tod eines Menschen. Victor fasst das „Unfassbare“ zusammen, schildert nicht nur die Veränderung, die sein eigenes Leben nach dem Tod des Freundes nahm, sondern auch den Umgang seiner Umwelt mit ein und dergleichen Situation. Im Zentrum seiner Betrachtung rückt das eigentliche Opfer immer weiter in den Hintergrund, insbesondere weil Matthieu eigentlich noch gar nicht den Stellenwert eines echten, innigen Freundes besaß. Stattdessen berührt die Erzählung durch eine Annäherung zwischen Victor und Patrick Lestaing, dem Vater des Selbstmörders. Dieser möchte einfach nur verstehen, was seinen Sohn in den Tod getrieben hat, rätselt ob es vielleicht die Scheidung der Eltern sein könnte oder der Leidensdruck an der Universität und Victor kann zwar keine Antworten geben, doch er lebt, er ist da und hört zu und nimmt bereitwillig die Rolle des verlorenen Sohnes ein, vielleicht weil er spürt, dass der Hinterbliebene genau das braucht.


Doch das Buch bietet noch mehr, setzt es sich doch auf den wenigen Seiten sehr gekonnt mit den Rangordnungen innerhalb des Schulbetriebs auseinander, zeigt wohin Leistungsdruck führen kann, der von Lehrern ausgeübt und von Schülern ganz unterschiedlich aufgenommen wird. Während die einen nicht wissen, wie sie dem standhalten können, ignorieren andere, so wie Victor selbst die Vorgaben, setzen vielmehr eigene Wertmaßstäbe und dann gibt es auch noch die, die sich immer aktiver engagieren, die kämpfen, die mehr wollen und die gerade unter diesen Bedingungen zu ihrer Höchstform auflaufen, so wie Paul, der neue gute Bekannte von Victor, der zum Jahrgangsbesten avanciert. Und der Autor schafft ein wahres Porträt all dieser Menschen, ihrer Motive, ihrer Verfehlungen aber auch ihrer ungeahnten Möglichkeiten.


Was mir auch sehr gut gefällt, ist die erzeugte Stimmung des Buches, die zunächst mit Einsamkeit gleichzusetzen ist, sich dann wandelt und Menschen während den Umbrüchen innerhalb ihres Lebens zeigt. Ein Hauch von Stille, von Melancholie und einem klaren, kalten Winter schwingt hier mit, konzentriert und präzise der Handlungsverlauf, ausgerichtet auf eine greifbare Aussage, die auch die Konsequenz der gewollten Veränderung beinhaltet. Die Frage nach dem, was uns Menschen ausmacht, wie wir sind, was wir sein wollen und dass sich dies durchaus ändern kann, sofern jeder selbst bereit ist, Veränderungen einzugehen. Der Einsame, der plötzlich ein Sozialleben führt. Der tyrannische Lehrer, der Fehler eingesteht. Der verletzte Vater, der Heilung in Gesprächen findet. All das gibt dem Roman eine folgerichtige Dynamik, der man als Leser sehr konkret und nachdenklich folgen kann.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für dieses stillen, einprägsamen Roman, der mit geringem Umfang eine ganze Palette an Gefühlen und Entwicklungen bereithält. Der Reiz des Buches liegt in der Beschreibung einer gewissen Verwirrung, die Menschen befällt, wenn ein grundlegender Bestandteil ihres Lebens in Schieflage gerät. Wenn plötzlich die gegebenen Umstände außer Kraft gesetzt werden und sich damit ein neuer Weg ergibt, eine ungeahnte Chance, die es zu ergreifen gilt, jedoch erst, wenn man bereit ist die Veränderung zu akzeptieren. Sehr empfehlenswert für alle, die philosophische Fragen mögen, über Wertvorstellungen nachdenken möchten und sich mit einer realistischen Situation anfreunden können.

Veröffentlicht am 13.09.2018

Die verlorenen Jahre in Kilby Prison

Ein anderes Leben als dieses
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„Aber schließlich befehle ich mir, damit aufzuhören. Ich habe diese Träume schon zu oft geträumt. Sie sind vergeblich, verachtenswert, unmoralisch und tückisch wie die Kakerlaken im Speisesaal.“


Inhalt


Roscoe ...

„Aber schließlich befehle ich mir, damit aufzuhören. Ich habe diese Träume schon zu oft geträumt. Sie sind vergeblich, verachtenswert, unmoralisch und tückisch wie die Kakerlaken im Speisesaal.“


Inhalt


Roscoe T. Martin hat ein ganz besonderes Steckenpferd, denn er interessiert sich für Strom, für den Bau elektrischer Leitung und die Elektrifizierung der privaten Haushalte. Damit ist er einer der Wenigen, die im Alabama der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ein Wissen besitzt, dass ihn zu etwas Besonderem macht.

Doch als seine Frau die väterliche Farm erbt, sieht er sich gezwungen, seinen Job aufzugeben, um fortan auf dem häuslichen Gut zu arbeiten. Dort geht es nur mäßig vorwärts, seine Frau macht ihn für den schlechten Betrieb verantwortlich und zeigt ihm die kalte Schulter, der neugeborene Sohn belastet die Ehe gleichermaßen. Roscoe gewinnt seinen Mitarbeiter und Freund Wilson für ein neues, großes Projekt. Er möchte die öffentlichen Stromleitungen anzapfen, um die Dreschmaschinen zu elektrifizieren und den Hof wieder wettbewerbsfähig zu machen – natürlich ohne Wissen der Stromlieferanten.

Tatsächlich gelingt ihm dieser Zapfenstreich, doch seine Freude ist nur von kurzer Dauer, nachdem ein Arbeiter der Stromfirma an einem elektrischen Schlag stirbt und die Machenschaften von Roscoe aufgedeckt werden. Die nächsten 20 Jahre soll er im Gefängnis verbringen, sein Freund in der Kohlemine und Marie, Roscoes Frau sitzt allein zu Haus … ein gärender Prozess zwischen begrabenen Träumen, traurigen Wahrheiten und dem Verlust vieler Lebensjahre beginnt.


Meinung


Der amerikanischen Autorin Virginia Reeves ist mit ihrem Debütroman, der es auf die Longlist des Man-Booker-Preises geschafft hat, ein kleines Kunstwerk gelungen, ein stiller sehr intensiver Roman über die Gerechtigkeit an sich , über Schuld und Versagen, über Verzeihen und jahrelanges Schweigen, über den Groll gegen die eigene Person und den unbarmherzigen Verlauf des Lebens. Für mich liegt der Wert dieses Buches in seiner Vielschichtigkeit gepaart mit einer alles umfassenden Traurigkeit und der bitteren Akzeptanz jener Dinge, die man einfach nicht ändern kann.


Inhaltlich gliedert die Autorin den Roman in drei Stationen: die Zeit vor dem Unfall, das Leben in Kilby Prison und die Rückkehr des Gefangenen nach dem Abgelten seiner Strafe. Erzählerisch sind es zwei Stimmen, die zu Wort kommen: einmal der übergeordnete Erzähler, der die Zusammenhänge kennt und alle Protagonisten vereint, zum anderen Roscoe Martin selbst, mit seiner Stimme aus dem Hintergrund, seinen Erfahrungen aus dem Gefängnis. Beide Varianten finde ich hervorragend gewählt, bestens umgesetzt und schlüssig erklärt. Die wechselnden Stränge bereichern dieses Buch, ohne es auseinanderzupflücken.


Eigentlich trifft dieser Roman genau meinen Nerv, denn die Geschichte vereint so viele Punkte des menschlichen Lebens, berührt wichtige Stationen und schafft eine Art Vertrauensbasis zu den Protagonisten. Irgendwie kann man sie alle verstehen, ohne ihnen wirklich nah zu kommen. Und gleichzeitig bleibt da eine Distanz, von der ich nicht sagen kann, ob sie gewollt ist oder nur so von mir empfunden wird. Die mit sich hadernden Protagonisten, ihre inneren Ansichten, ihre Werte und ihr Umgang miteinander, werfen mich zurück, lassen mich von außen auf ein trauriges, unabänderliches Schicksal blicken, dem man nichts entgegensetzen kann. Dafür ziehe ich einen Lesestern ab, denn so detailliert alle Empfindungen auch geschildert werden, so offen bleibt doch der Lernprozess. Immer wieder drängt sich hier die Frage auf: „Was lernt der Mensch aus seinen Fehlern? Warum kann er nicht einsehen, dass es seinen Wert nicht schmälert, wenn die Perfektion fehlt?“


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen stillen aber bitteren Roman. Glaubhafte Charaktere, gepaart mit einer interessanten Handlung, die tiefe Einblicke in das Leben innerhalb der Gefängnismauern bietet und darüber hinaus auch das Leben in Freiheit beleuchtet. Ein Dasein mit vielen inneren Dämonen, mit Menschen die etwas anderes wollen, die sich nicht mehr verstehen und deren Beziehungen sich ganz langsam und schleichend zersetzen. Begriffe wie Demut, Freundschaft und Akzeptanz kommen ebenso zur Sprache wie Melancholie und Vergessen. Wenn es doch nur gelungen wäre, die Menschen hinter der Geschichte nicht nur darzustellen, sondern ihnen eine echte Stimme zu geben, dann wäre dieser Roman tatsächlich ein Meisterwerk.