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Veröffentlicht am 24.01.2022

Seit Tagen fahren wir einfach nur weiter

Ende in Sicht
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„Wofür überhaupt nach so schönen Erlebnissen jagen, wenn selbst die Erinnerung an einen seltenen, so unglaublichen Moment dir langfristig gar nichts bringt?“

Inhalt

Hella Licht, ein alterndes Popsternchen ...

„Wofür überhaupt nach so schönen Erlebnissen jagen, wenn selbst die Erinnerung an einen seltenen, so unglaublichen Moment dir langfristig gar nichts bringt?“

Inhalt

Hella Licht, ein alterndes Popsternchen hat beschlossen ihrem Leben in der Schweiz ein würdiges Ende zu setzen und startet in ihrem alten, klapprigen Passat diese letzte Reise. Leider kommt sie nicht weit, denn von einer Autobahnbrücke stürzt ein 15-jähriges Mädchen namens Juli direkt vor ihre Räder. So einfach kann sie nun nicht weiterfahren, zumal das Mädchen auch noch leicht verletzt ist. Notgedrungen lädt sie den Teenager mit ein und gemeinsam fahren sie ins nächstgelegene Krankenhaus. Doch bald wird klar, dass Juli weder nach Hause will, noch sonst irgendeinen Plan hat, nur der Sprung von der Brücke, ihr letztes größeres Vorhaben ist ja nun ebenfalls gescheitert. Die beiden verkrachten Existenzen fahren gemeinsam über die deutschen Autobahnen, in Richtung Schweiz, kommen miteinander ins Gespräch und erleben eine absurde Situation nach der anderen. Fraglich, ob sie nach dieser Tour tatsächlich noch den Wunsch danach verspüren, ihr Leben zu beenden.

Meinung

Tatsächlich bin ich von diesem Buch, dessen Story so überaus reizvoll klang ziemlich enttäuscht. Was ganz klar in meiner Erwartungshaltung begründet liegt. Zwei Menschen, die in vollkommen verschiedenen Lebensphasen stecken und mit Sicherheit andere Beweggründe für den geplanten Freitod hegen, lernen sich durch einen Zufall kennen und damit kreuzen sich ihre Wege, damit vollzieht das Universum eine schicksalhafte Wendung, die nicht mehr ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden kann. Nur leider habe ich mir eine ganz andere Intention vorgestellt, als sie letztlich im Buch umgesetzt wurde. Der Roman startet von Anfang an mit einem mir befremdlichen, aufgesetztem Humor, der sich wie ein roter Faden durch den ganzen Text zieht. Nicht nur dass mich dieser exzentrische, der Situation entgegengesetzte, geradezu muntere Schreibstil irritiert hat, nein er nimmt der Situation auch die Grundlage, die ich mir eigentlich vorgestellt habe. Vor meinem inneren Auge hatte ich zwei gebrochene Menschen, die mit der Welt und sich selbst hadern, bekommen habe ich zwei überaus spezielle Charaktere, die in meinen Augen von einem geplanten Selbstmord so weit entfernt sind, wie ich vom Mond.

Zum einen empfand ich dieses Buch als reine Unterhaltungsliteratur, die nur wenig Ansprüche an den Leser stellt, zum anderen ist es ein kurzweiliger Schlagabtausch zwischen zwei sehr individuellen Protagonisten, mit denen ich über 200 Seiten einfach nicht warm geworden bin. Spätestens ab der Hälfte des Buches, werden die Begebenheiten immer abstrakter, die Story wandelt sich in eine Art Klamauk – bunt, schillernd, wenig authentisch, sehr weit entfernt von der Realität, dafür um jeden Preis lustig. Nur wenige Satzfetzen lassen auf Tiefe schließen und wenn alle depressiven Personen so auftreten würden, hätten wir eine Menge Clowns, die einen seltsamen Galgenhumor pflegen. Zwar kann ich mir in Anbetracht der Vorgeschichte (die Autorin leidet selbst unter Depressionen) vorstellen, dass man der Schwere etwas entgegensetzen möchte und dann lieber den humorvollen Aspekt wählt, allerdings ging das in meinen Augen in die komplett falsche Richtung.

Fazit

Hier vergebe ich leider nur 2 Lesesterne, weil ich etwas ganz anderes lesen wollte, nämlich eine tiefgründige Geschichte über eine schwierige Ausgangssituation, an der die Protagonisten wachsen können. Stattdessen bekommt man zwei nervig-agile Menschen präsentiert, bei denen einiges aus dem Ruder läuft, aber längst nicht genug, als dass sie nicht noch dazu in der Lage wären auf einem Dorffest zu rocken, in eine Thermallandschaft einzubrechen und sich mit Gott und der Welt anzulegen. Wer hingegen eine extravagante Story mit vielen kleinen Passagen lesen möchte, die hervorragend in eine erdachte Filmwelt passen würden, der könnte an diesem Buch vielleicht Gefallen finden, denn ein absonderlicher Roadtrip mit diversen Anekdoten ist es allemal.

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Veröffentlicht am 14.01.2022

Familie Bergmüller - gestern und heute

Roman ohne U
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Katharina Bergmüller ist Mutter von vier Kindern und jetzt, nachdem die Kleinen schon groß geworden sind, betätigt sie sich als Biografin. Im Namen der Angehörigen verfasst sie Lebenstexte, die eine bleibende ...

Katharina Bergmüller ist Mutter von vier Kindern und jetzt, nachdem die Kleinen schon groß geworden sind, betätigt sie sich als Biografin. Im Namen der Angehörigen verfasst sie Lebenstexte, die eine bleibende Erinnerung sein werden, an ein gelebtes Leben und einen geliebten Menschen. Besonders das Manuskript eines alten Tagebuchs weckt ihr Interesse, geschrieben von einem Mann, der seine Liebe auf grausame Weise verlor und viele Jahre in einem russischen Gefangenenlager verbrachte. Leider kann Katharina mit dem Verfasser des Textes nicht mehr sprechen, da er bereits hochbetagt ist und mit Demenz in einem Pflegeheim wohnt, er führt schon lange keine Gespräche mehr. Nur seine Nichte Stephanie Mangold, ihre Auftraggeberin ist das Bindeglied zwischen den beiden. Doch je tiefer Katharina in die Vergangenheit abtaucht, desto sichtbarer werden die Verbindungen zur Gegenwart. Ihr Mann Julius hingegen bringt nur mäßiges Verständnis für die Ambitionen seiner Frau auf, fühlt sich aber in der Nähe der neuen Bekanntschaft Stephanie wie neugeboren, ist doch seine Liebe zu Katharina schon längst auf Sparflamme abgekühlt …

Meinung

Dieser Roman aus der Feder der 1970 geborenen Schriftstellerin Judith W. Taschler stand mittlerweile schon sechs Jahre ungelesen im Bücherregal und nun konnte ich ihn endlich im Rahmen einer Challenge vom SUB befreien. Die Story gliedert sich zwei Teile, einer konkreten Gegenwartshandlung, die die in Schieflage geratene Ehe von Julius und Katharina unter die Lupe nimmt und der Vergangenheitshandlung, rund um das Leben und Leiden von Thomas Bergmüller, der schildert, wie seine Tage und Nächte im kalten Sibirien als Zwangsarbeiter in einem Uranbergwerk aussahen.

Die Zusammenhänge zwischen beiden Erzählsträngen kann man erahnen, eine tatsächliche Aufklärung erfolgt aber erst zum Ende hin. Der Schreibstil der Autorin hat mir ausgesprochen gut gefallen, der Roman liest sich leicht, hat aber Tiefe, wird durch das Wirken verschiedener Charaktere und deren Motivation sehr vielseitig und niemals langweilig und schildert generationsübergreifend die verschiedenen Lebensstationen diverser Personen. In gewisser Weise eine allgemeingültige Lebensbetrachtung, die Liebe, Schicksalsschläge und falsche Entscheidungen für alle gleichermaßen aufnimmt und Wert darauf legt, dass der Leser mit den Protagonisten auf einer Stufe steht.

Dennoch konnte ich zum Text keine wirkliche Nähe aufbauen, vieles bleibt mir zu sachlich und unbestimmt, manches wird nur skizziert und man kann es mit eigenen Gedankengängen auffüllen, was mir jedoch schwerfiel. Prinzipiell lag das auch daran, dass ich zu den handelnden Personen keine rechten Sympathien aufbauen konnte, gerade die Interaktion zwischen den Eheleuten Julius und Katharina ging mir zunehmend gegen den Strich. Das Ende des Buches, war in meinen Augen zu theatralisch und wirkte irgendwie konstruiert, es rundet das Gelesene nicht ab und lässt mich eher mit einem Schulterzucken zurück.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen beschreibenden Familienroman mit zwei unterschiedlichen Handlungen, die erst spät gewisse Berührungspunkte haben. Dies ist wieder ein typisches Beispiel für eine Geschichte, die sehr viel Potential hatte und meiner Meinung nach nur unzureichend in Szene gesetzt wurde. Ich habe das Buch im Großen und Ganzen gern gelesen, es wird mir aber nicht in Erinnerung bleiben, dafür war mir die Geschichte einfach zu distanziert und erdacht, zu unrund und lückenhaft.

Von der Autorin allerdings werde ich sicher noch mehr lesen (es warten ja noch drei weitere Romane in den Untiefen meines Bücherregals) – ihre Art zu erzählen entschleunigt und sensibilisiert für viele Gedanken, die sie so nicht zu Papier gebracht hat.

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Veröffentlicht am 10.01.2022

Das Kratzen tief unter der Erde

Der Gräber
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„Wenn ich mein Opfer gewählt habe, bereiten die Wesen den Zugang vor. Dann warten wir gemeinsam auf den richtigen Zeitpunkt, um die Tat auszuführen.“

Inhalt

Annika Granlund ist Lektorin eines in Zahlungsschwierigkeiten ...

„Wenn ich mein Opfer gewählt habe, bereiten die Wesen den Zugang vor. Dann warten wir gemeinsam auf den richtigen Zeitpunkt, um die Tat auszuführen.“

Inhalt

Annika Granlund ist Lektorin eines in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Verlages und ihr Team benötigt unbedingt einen Bestseller, damit ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt. Deshalb wirft sie einen Blick in die erdverschmierten Seiten eines Manuskripts, welches eines Tages vor ihrer Bürotür liegt. Der Autor soll Jan Apelgren sein, doch dass schließen alle aus, denn besagter Schriftsteller ist vor mehr als 6 Jahren spurlos verschwunden. Annika spürt jedoch, dass es genau dieses Manuskript sein wird, welches sie aus der Misere führen könnte. Denn der Inhalt ist so brisant, wie gewagt – ein Mann, ein Serienmörder, den die schwedische Polizei aktuell zu entlarven versucht, ist der Protagonist der Story und sein Vorbild ist nach wie vor aktiv und holt sich jedes Jahr am gleichen Tag ein neues Opfer. Doch um das Buch veröffentlichen zu können, muss Jan Apelgren für tot erklärt werden und Annika plädiert genau dafür, ohne zu ahnen welche Geister sie weckt …

Meinung

Die Idee hinter diesem Buch klingt sehr reizvoll, denn ein Mörder, der sich durch den Keller des Hauses gräbt, um sein nächstes Opfer zu finden, der mit ihm in die Tiefe verschwindet und keine Spuren hinterlässt außer ein dreckiges Erdloch, erschien mir doch sehr innovativ und im besten Fall gruselig.

Aber leider versteht es der Autor nicht, diese Geschichte in ein entsprechendes Licht zu rücken, sondern verschenkt immer mehr Potential und driftet stellenweise wohl in Richtung Horror ab, aber nicht subtil und vorstellbar, sondern vielmehr von Wahnvorstellungen geprägt. Es sind mehrere Kritikpunkte, die zu meiner schlechten Bewertung führen.

Zunächst sei ein sehr behäbiger, spannungsarmer Handlungsverlauf genannt, denn zielführend lernt man hier weder die Opfer noch den Täter kennen. Hinzu kommt ein völlig überflüssiger Hang zu persönlichen Dramen, die nicht mal in Verbindung mit den mörderischen Handlungen stehen, sondern nur die Charaktere betreffen und mich sehr schnell gelangweilt haben und letztlich kommen die Stimmen aus dem Dunkeln tief unter der Erde, die rufen, locken und verschrecken und ihr Kratzen treibt nicht nur die bedrohten Seelen in die Verzweiflung, sondern schon bald auch den Leser.

Fazit

Hier kann ich wirklich nur zwei müde Lesesternchen vergeben, für einen absolut unrealistischen und dadurch unattraktiven Thriller, bei dem der Schreibstil noch das Beste war, während der Inhalt leider meilenweit von meiner Vorstellung entfernt lag. Ich bin jedenfalls froh, dass ich das Buch nun zuklappen kann, es hat absolut nicht meinen Geschmack getroffen, selbst wenn ich Kellerräume und dunkle Ecken faszinierend finde, können mich Kratzgeräusche und halbmenschliche Wesen nicht überzeugen, ganz egal wo sie leben und wen sie brauchen, um überleben zu können.

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Veröffentlicht am 28.12.2021

Am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt

Die Überlebenden
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„Ein Polizeiauto pflügt langsam durch das blaue Grün, die Traktorspur zum Hof hinunter. Da steht das Sommerhaus, einsam auf einer Landzunge, in der nie ganz schwarzen Juninacht.“
Gegenwart: Drei erwachsene ...

„Ein Polizeiauto pflügt langsam durch das blaue Grün, die Traktorspur zum Hof hinunter. Da steht das Sommerhaus, einsam auf einer Landzunge, in der nie ganz schwarzen Juninacht.“
Gegenwart: Drei erwachsene Männer, finden einen Brief, den ihre verstorbene Mutter ihnen hinterlassen hat, mit der Bitte darum, ihre Asche nicht einem Grab zu übergeben, sondern sie dorthin zu bringen, wo die Familie früher gemeinsam lebte, zum Sommerhaus am See. Vergangenheit: Drei Kinder/ Halbwüchsige leben in einer dysfunktionalen Familie, beide Eltern sind Alkoholiker und erziehen ihre Söhne zwischen Gewaltausbrüchen und liebevoller Zuwendung, soweit es ihnen eben möglich ist. Das Sommerhaus am See ist Schauplatz und Bühne für alle Ereignisse damals, deren Folgen bis in die heutige Zeit spürbar sind, denn vor zwei Jahrzehnten ging hier ein Riss durch die Welt.
Der Debütroman des schwedischen Autors Alex Schulman hat so gute Kritiken bekommen und versprach eine Geschichte, die genau in mein Beuteschema fällt, so dass ich ihn unbedingt lesen wollte. Zum einen, weil ich besonders schwierige Erzählungen mag, die gerne auch melancholisch und nachdenklich stimmen dürfen, zum anderen, weil mich das Schicksal von Kindern in Romanen immer sehr anspricht. Eine bestimmte Erwartungshaltung hatte ich nicht, aber möglicherweise einen speziellen Fokus.
Das Vorwort des Autors hat dabei wahrscheinlich bewirkt, dass ich mich gezielt auf seine Aussage konzentriert habe, dass er sich mit diesem Buch auf Spurensuche in die Vergangenheit begibt, um zu ergründen, an welcher Stelle sich Geschwister so fremd werden, obwohl sie von Kindheit an die gleichen Erfahrungswerte teilen und im selben Umfeld aufwachsen. Ein sehr interessanter Aspekt, der mich ebenfalls schon oft gedanklich beschäftigt hat …
Der Schreibstil des Buches ist eher neutral, manchmal wirklich etwas karg, was mir persönlich auf Grund der Geschichte nicht ganz so gut gefiel, denn hier liegt viel Emotionalität unter der Oberfläche und kommt nicht recht zum Vorschein, weil sehr distanziert erzählt wird. Dadurch konnte ich zu keinem der Charaktere eine enge Beziehung aufbauen, was aber nicht gestört hat, weil ich mich mehr auf die Beziehung der Beteiligten untereinander konzentrieren konnte. Äußerst genau und tragisch werden die Kindheitserlebnisse geschildert, dabei treten immer wieder zwei dominante Aussagen auf: Die Eltern waren auf Grund des Alkoholkonsums nicht in der Lage, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern und die drei Brüder hatten in mancher Situation nur sich selbst, um heil wieder auf dem Geschehen aufzutauchen.
Ein zweiter Erzählstrang wird eingefügt, der sich rückwärtsgerichtet mit den Ereignissen im Jetzt beschäftigt und zeigt, was die Männer nun mit dem letzten Wunsch ihrer Mutter machen werden, wie es überhaupt weiterging, nachdem der älteste Sohn ausgezogen ist und aus dem Dreiergespann ein Glied verschwunden ist.
Dieser Roman ist sehr dicht und intensiv geschrieben, er löst echte Betroffenheit aus, ohne direkt zu schockieren. Die Sachlichkeit des Textes hat mich zwar persönlich nicht ganz erreichen können, wirkt aber dennoch irgendwie authentisch und setzt eine echte Beschäftigung mit den zahlreichen psychischen Verletzungen der einzelnen Charaktere voraus. Besonders die multiperspektiven Sichtweisen, der jeweiligen Söhne konnten mich begeistern, denn jeder nimmt aus vergangenen Situationen etwas anderes mit und verändert irgendwann auch die eigene Erinnerung an ein und dasselbe Erlebnis. Ebenso der Zerfall des Dreiergespanns, sowohl in der Kindheit als auch jetzt im Erwachsenenalter wird deutlich herausgearbeitet, die Geschwisterkonstellation immer wieder aus ganz anderen Blickwinkeln betrachtet, dass ist für dieses Buch sehr bereichernd gewesen.
Fazit: Gerne vergebe ich gute 4 Lesesterne, für einen aufrüttelnden, glaubwürdigen Roman, der dem einzelnen Familienmitglied genügend Raum zugesteht, um dem Leser etwas zu vermitteln, ganz egal, um wen es gerade geht. Auch die Eltern werden nicht nur anklagend behandelt oder gar ausgegrenzt, vielmehr wirkt hier das Familienbild komplex und vielschichtig. Der Ort am See, gewissermaßen in der Einöde, bringt die interfamiliären Befindlichkeiten besonders gut zum Ausdruck und wirkt verstärkend. Einzig die fehlende Nähe zur Gefühlswelt wenigstens einer Person sorgt hier dafür, dass ich keine volle Punktzahl vergeben kann. Dieses Buch zielt mir persönlich zu sehr auf den Verstand weniger aufs Herz und bei so einer Story hätte ich mir das umgedreht gewünscht.

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Veröffentlicht am 17.12.2021

Mein Leben, ein schmaler Tunnel in eine Richtung

Im Wasser sind wir schwerelos
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„Ich war wie ein losgemachtes Schiff, das endlich seinen Hafen verlassen hatte und dann ohne eigene Kontrolle vom Wind herumgeschubst wurde.“

Inhalt

Ludwik wächst im kommunistischen Polen der 1980 er ...

„Ich war wie ein losgemachtes Schiff, das endlich seinen Hafen verlassen hatte und dann ohne eigene Kontrolle vom Wind herumgeschubst wurde.“

Inhalt

Ludwik wächst im kommunistischen Polen der 1980 er Jahre auf und merkt schon früh, dass er homosexuell ist. Für Mädchen kann er nicht mehr als Freundschaft empfinden, ein Umstand, der erst in seinem jungen Erwachsenenleben unhaltbar wird, denn wem soll er davon erzählen und wie kann man eine gleichgeschlechtliche Beziehung überhaupt leben? Als er schließlich Janusz begegnet und endlich all seine Emotionen teilen kann, weil der andere ebenso empfindet, könnte die Welt so schön und erfüllt sein. Aber die beiden Männer haben ganz verschiedene Ansichten, während Ludwik überlegt, wie er dem engen politischen System entfliehen kann, möchte Janusz sich anpassen und einfach nur im Rahmen seiner Möglichkeiten zufrieden sein. Schnell wird klar, dass sich auf diesem Fundament keine langjährige Partnerschaft aufbauen lässt und so geht der Sommer voller Unbeschwertheit dahin und bleibt bald nur noch eine Erinnerung …

Meinung

Der Debütroman des jungen Autors Tomasz Jedrowski, konnte bereits zahlreiche Leser für sich gewinnen und wurde in Großbritannien von der Kritik gefeiert. Ich selbst bin durch zahlreiche positive Rezensionen auf diesen Roman aufmerksam geworden, der sehr melancholisch und nah am Gefühlsleben seiner Protagonisten über eine schwierige, fast irreale Beziehung berichtet. Und da ich genau solche Coming-of-Age Bücher bevorzuge, hat sich die Auswahl definitiv gelohnt.

Das große Plus der Erzählung ist nicht nur ein fließender, ausgewogener Schreibstil, der sich richtig gut lesen lässt und dennoch Ansprüche hegt, sondern die dramatische, bewegende Geschichte, die zwar voller Optimismus beginnt, sich aber bald zwischen den gesellschaftlichen Konventionen und den unterschiedlichen Lebensentwürfen zerreibt. Dadurch wirkt der Text ausgesprochen realistisch, beschönigt nichts, offenbart tiefe Gefühle und zeigt die verschiedenen Facetten einer schwierigen Beziehung, der es in gewisser Weise an Akzeptanz und Möglichkeiten fehlt.

Der Protagonist tritt als Erzähler auf, wodurch jede Szene ungefiltert und empathisch wirkt. Dieser intensive Blickwinkel, die manchmal konfrontativen Gedanken und zwischen den Zeilen eine langjährige Traurigkeit, die sich vielmehr aus der Erinnerung speist, machen es dem Leser leicht, sich zu identifizieren und Partei zu ergreifen, für einen jungen Mann, der ganz klare Werte und Präferenzen hat. Was mir nicht ganz so gut gefallen hat und das eine fehlende Sternchen zur vollen Bewertungsskala ausmacht, ist die indirekte Wahl eines Adressaten. Denn Ludwik wendet sich direkt an seinen Geliebten, schreibt kontinuierlich in der Du-Form und dadurch richtet sich jedes Wort an jenen jungen Mann, der eben nicht so eindeutig und nachhaltig zu der gemeinsamen Liebe stehen kann, wie der Erzähler selbst.

Dadurch habe ich mich trotz der offenen Erzählstruktur mit einer breiten Palette an Gedanken und einer vielschichtigen Beobachtungsgabe immer irgendwie ausgeschlossen gefühlt. Ludwik personalisiert, er sucht weder einen Ausweg noch einen Schuldigen, aber irgendwie sucht er auch nicht das Verständnis des Lesers, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit einer unglücklichen Liebesbeziehung, die zahlreiche Spuren hinterlassen hat.

Fazit

Ein sehr gefühlvoller, nachhaltiger Roman über eine tragische Liebesbeziehung, die die spürbare Zerrissenheit der Akteure deutlich macht und unabhängig von der Beschreibung einer homosexuellen Partnerschaft sehr intensiv die Gefühlswelt der Beteiligten beschreibt. Ich vergebe gerne gute 4 Lesesterne und eine Leseempfehlung, für ein besonderes, einprägsames Buch, dem man mit innerer Überzeugung sicher noch mehr entnehmen kann, als auf den ersten Blick erkennbar.

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