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Veröffentlicht am 01.08.2018

Mein Vater, der Überlebenskünstler

Fliegenpilze aus Kork
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„Ich schweige meine größte Wut ins Telefon. Irgendwann unterbreche ich ihn: „Papa. Stopp. Ich will das nicht hören. Ich lege jetzt auf!“ Mein Herz klopft. Ich möchte weinen.“


Inhalt


Die Ich-Erzählerin, ...

„Ich schweige meine größte Wut ins Telefon. Irgendwann unterbreche ich ihn: „Papa. Stopp. Ich will das nicht hören. Ich lege jetzt auf!“ Mein Herz klopft. Ich möchte weinen.“


Inhalt


Die Ich-Erzählerin, die ohne Namen bleibt, lässt den Leser an ihrer Kindheit teilhaben, insbesondere an ihren Eindrücken im väterlichen Elternhaus, denn ihre Eltern haben sich schon getrennt, als sie noch ein Baby war. Der Vater, die eigentliche Hauptfigur der Erzählung ist schon sehr speziell. Für seine Tochter nimmt er sich Zeit, doch nur um sie mit hinein in sein unstetes Leben zu nehmen. Eines, in dem er nur hin und wieder arbeitet und Geld verdient, dort wo Freunde bei ihm nächtigen, die eigentlich Kiffer sind, begleitet von Ladendiebstählen, Schwarzarbeit und Essen aus der Mülltonne. Für die Tochter ist klar, ihr Papa kann eine ganze Menge und dafür liebt sie ihn auch, eben weil er so anders ist und sie in ihrer kindlichen Naivität unterstützt. Doch je älter sie wird, desto zwiegespaltener gestaltet sich die Beziehung, weil ersichtlich wird, das eigentlich der Vater ein Kind ist und die heranwachsende Tochter in die Rolle der vernünftigen Erwachsenen gedrängt wird …


Meinung


In ihrem Debütroman thematisiert die junge österreichische Autorin Marie Luise Lehner eine Kindheit fernab von der Normalität, geprägt von einem zweigeteilten Elternhaus, in dem der Vater, trotz seiner alternativen Lebensweise einen großen Stellenwert einnimmt. Dabei geht sie sehr geschickt auf die Desillusionierung einer Kinderseele ein, die mit zunehmendem Alter die Schichten der väterlichen Unzulänglichkeiten aufdeckt und dennoch ganz intuitiv erkennt, dass diese naive Zuwendung, dass einzige ist, was ihr Vater zu geben vermag. Nebenbei verdichten sich beim Leser immer wieder die mannigfaltigen Eindrücke bezüglich elterlicher Verantwortung und dem Umgang mit dem kindlichen Vertrauen.


Dennoch stimmt mich die Geschichte eher traurig, nicht nur weil sie so befremdlich ist, sondern weil man als Leser förmlich zusehen kann, wie die Entwicklung der Kinder Risse trägt, eben darum weil sich zeigt, dass hochfliegende, unrealistische Träume und obskure Ansichten spätestens in der Pubertät eine derart klaffende Lücke zwischen Vater und Tochter entstehen lassen, die sich nicht mehr schließen lässt, selbst wenn die Beteiligten immer noch aneinander hängen.


Erwähnenswert ist auch noch der abgehackte, fragmentarische Erzählstil, der eher Momentaufnahmen abbildet, als eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Er macht dieses Buch speziell und bleibt auch in Erinnerung, obgleich das nicht meine literarische Wohlfühlzone ist. Zu vieles bleibt im Raum hängen, steht ungeschrieben zwischen den Zeilen und alternativ im Lebensplan der Protagonistin. Letztlich ruft der Text bei mir eine Mischung auf Unverständnis, Mitleid und Bewunderung hervor, die ich zum Glück in der realen Welt nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann. Vielleicht wirkt das radikale, bestimmende Vaterbild intensiver, wenn man es selbst erlebt hat, möglicherweise kommt man dann auch der Erzählerin nahe – so jedoch finde ich keine Berührungspunkte und schaue mir alles durch das Auge eines unbeteiligten Dritten an. Diesen Umstand empfinde ich nicht optimal für einen emotionalen Roman, den man hier lesen darf.


Fazit


Ich vergebe mittelmäßige 3 Lesesterne für diesen Roman über eine ungewöhnlich starke Vater-Tochter-Beziehung, die so manchen Sturm erlebt hat. Wer als Leser gerne in fremde Lebensgeschichten hineinschauen möchte, ohne das Anderssein tatsächlich ergründen zu können, wer es aushält, nur Zuschauer ohne Einspruchsrecht zu sein und sich dennoch vieles detailliert vorstellen möchte, ist mit dem Roman ganz gut beraten. Eine Einheit zwischen Erzählung, Inhalt und Wirkung bekommt man aber nicht geboten, irgendwie ist man hinterher genauso schlau wie davor, mit dem Unterschied, dass man die Bequemlichkeit, die mit Sicherheit einhergeht, wieder mehr zu schätzen weiß.

Veröffentlicht am 31.07.2018

Das wird mein Jahrhundert!

Ida
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„Niemand würde ihr jetzt mehr etwas einreden, nicht der Papa oder der Herr Doktor oder sonst irgendeine Macht. Am 1.1.1901 würde mit einem Jahr Verspätung ein neues Jahrhundert für sie beginnen. 1.1.1901, ...

„Niemand würde ihr jetzt mehr etwas einreden, nicht der Papa oder der Herr Doktor oder sonst irgendeine Macht. Am 1.1.1901 würde mit einem Jahr Verspätung ein neues Jahrhundert für sie beginnen. 1.1.1901, wiederholte sie feierlich, Berggasse 19.“


Inhalt


Ida hat keine ganz leichte Kindheit, denn immer überschatten diverse größere und kleinere Unpässlichkeiten ihren Alltag. Entweder ist sie selbst krank und wird von einem schlimmen Husten geplagt, oder die Mutter liegt nieder, oder der Vater braucht Pflege. Dadurch, dass Ida gut betucht aufwächst lässt sich das durchaus hinnehmen, denn irgendwann, so hofft sie, wird der Tag kommen, an dem das Leid ein Ende hat. Ihr großes Vorbild und gleichzeitig der innigste Freund ist ihr großer Bruder Otto, der einzige, den sie tatsächlich bewundert. Nicht nur, weil er so klare Vorstellungen von seiner Zukunft in der sozialdemokratischen Partei hat, sondern auch, weil es ihm gelingt jeden Stein, der ihn in den Weg gelegt wird, beiseite zu räumen. Und so erträgt Ida die sinnlosen, an Frechheit grenzenden Stunden bei Doktor Freud, die außereheliche Liebschaft zwischen dem Vater und der befreundeten Pepina Zellenka und die unsittsamen Annäherungsversuche des Hans, denn sie schwört sich, dass der Tag kommen wird, an dem sie ihren wahren, starken Charakter offenbart und über diejenigen triumphiert, die ihr so gar nichts zutrauen wollen. Als sie den schmucken Ernst Adler kennenlernt, beschließt sie ihn zu heiraten und damit den Zwängen des elterlichen Zuhauses zu entkommen …


Meinung


Die Autorin Katharina Adler ist selbst die Urenkelin der Hauptprotagonistin Ida Adler-Bauer des vorliegenden Romans. Für dieses Buch, ihren Debütroman ist sie bereits für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wurden und hat ihrer Urgroßmutter ein Denkmal gesetzt jenseits ihres Stempels, den diese als Patientin „Dora“ des berühmten Sigmund Freuds aufgedrückt bekommen hat. Der Roman beschäftigt sich intensiv mit der Persönlichkeit Ida, mit der Vielfalt ihrer Versionen, mit einer nicht ganz einfachen aber sehr bestimmten Frau, die sich im Rahmen eines bewegten halben Jahrhunderts beweisen musste und diese Herausforderung durchaus angenommen hat.


Weite Teile der Erzählung erstrecken sich auf die Jugend der Protagonistin, führen dann aber hinein ins Erwachsenenalter, einer Zeit, in der sie selbst Mutter wurde, ihre Ansprüche an den Sohn sehr hoch schraubte und ihn förderte, damit er etwas aus seinem Leben machen würde. In Anbetracht der geschichtlichen Epoche, die sich zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg abspielt und der euphorischen Zeit dazwischen, entfaltet sich der zweite Schwerpunkt des Romans. Krieg und Demut, Aufschwung und Hoffnung, Selbstüberschätzung und Vernichtung. Ida durchlebt ihr Jahrhundert als genau das, was es ist, ein ständiges Auf und Ab, ein Überlebenskampf für alle Gesellschaftsschichten, so dass sogar eine Ida Adler-Bauer, die immer wohlhabend und gut situiert dastand, im zweiten Weltkrieg die dramatischen Auswirkungen einer Flucht aus Hitlerlanden erleben muss, um sich in ihrer neuen Heimat Amerika niederzulassen. Der zweite Teil des Buches hat mich deutlich mehr inspiriert und unterhalten, als es die ersten 300 Seiten vermochten.


Tatsächlich hat mir die Entwicklungsgeschichte von Otto Bauer und sein Wirken in der Sozialdemokratie in den Zeiten der Weimarer Republik wesentlich besser gefallen, birgt sie doch über den rein menschlichen Aspekt auch noch ein politisches Zeitzeugnis mit interessanten Informationen und dramatischen Entwicklungen. Die Protagonistin selbst bleibt leider etwas blass, allein durch die vielen Querelen, die sie mit verschiedenen Personen pflegt, andere die sie immer wieder vor den Kopf stößt und dann jene, die ihr trotz allem immer tief verbunden bleiben. Von Sympathiewerten sind wir weit entfernt, wenn auch eine entsprechende Vielfalt aufgebaut wird, so hat mich der Text doch nicht wirklich gefesselt und ich musste mich motivieren, die doch langatmige Geschichte wieder aufzunehmen.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (abgerundet zu 3) für einen sehr persönlichen Familienroman, der sich sicherlich an die Wahrheit hält und viele biografische Züge aufweist, mich aber nicht restlos überzeugen konnte. Zu sperrig die Charaktere, zu antiquiert manche Ansicht, zu wenig emotional und dennoch viel Raum einnehmend. Positiv beurteile ich die Verflechtung der historischen Hintergründe in die Familiengeschichte, in denen auch die wesentlichen Entwicklungen liegen, die Möglichkeiten, die sich für Ida nach der Machtergreifung Hitlers noch ergeben. Nicht immer fesselt die Lektüre, manchmal plätschert es nur dahin und die Distanz bleibt bestehen, der Blick von außen, der nur kurz den Blick von innen gewährt und den Leser dann wieder ausschließt. Anteilnahme baut sich niemals auf. Ich hätte mir noch mehr Herzblut und weniger Dekadenz gewünscht.

Veröffentlicht am 08.07.2018

Persönliche Entscheidungen lenken deinen Weg

Das weibliche Prinzip
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„Wenn sie für das kämpfen, was ihnen wichtig ist, werden sie auf Widerstände stoßen, und das kann nicht nur verstörend sein, sondern auch dafür sorgen, dass sie aus der Bahn geworfen werden. ...

„Wenn sie für das kämpfen, was ihnen wichtig ist, werden sie auf Widerstände stoßen, und das kann nicht nur verstörend sein, sondern auch dafür sorgen, dass sie aus der Bahn geworfen werden. Die Wahrheit lautet, dass sie nicht nur Zustimmung ernten werden.“


Inhalt


Die junge Studentin Greer Kadetzky, die selbst ihren Weg im Leben sucht, da ihre Eltern für sie keine Vorbildfunktion haben, begegnet der charismatischen Feministin Faith Frank, die eine Vorreiterin der Frauenbewegung ist und mit Herzblut für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts kämpft. Tatsächlich gelingt es Greer mit der im Rahmenlicht stehenden Faith Kontakt zu knüpfen und kurze Zeit später erhält sie sogar die absolut fantastische Möglichkeit, für ihr Idol zu arbeiten. Faith Frank arbeitet nun für eine Stiftung, die Frauen aus ihrer sexuellen Abhängigkeit holt und ihnen zeigt, wie man mit ganz normaler Arbeit auf eigenen Beinen stehen kann. Greer schreibt Reden und hält diese auch selbst, voller Freude und Engagement ist sie bei der Sache, bis sie einen heißen Tipp bekommt, dass die Finanzierung des Projektes Unregelmäßigkeiten aufweist und längst nicht mehr die ausgebeuteten Frauen im Fokus stehen, sondern nur der Profit. Desillusioniert und betreten trifft Greer eine eigene Entscheidung und stellt dabei fest, dass auch große Vorbilder keinen Heiligenschein tragen.


Meinung


Dieser aktuelle Roman aus der Feder der amerikanischen Schriftstellerin Meg Wolitzer ist mein erstes Buch von ihr. Bereits die Vorgängerromane haben mein Interesse geweckt und ich wollte nun endlich einmal herausfinden, welche Art der zeitgenössischen Belletristik mich erwartet. Doch zugegeben, „Das weibliche Prinzip“ hat meinen Lesegeschmack nicht ganz getroffen. Die Geschichte an sich klingt sehr vielversprechend, allein weil es faszinierend ist, jungen Menschen beim Finden ihrer eigenen Überzeugung zuzuschauen, auch weil es spannend ist, sie durchs Leben zu begleiten und ihre Entscheidungen wahrzunehmen – doch die Umsetzung hier, brachte mir zu wenig Dynamik, eine nur geringe innere Beteiligung und streckenweise sehr langatmige Passagen, die mich dazu verleitet haben, das Buch immer wieder beiseite zu legen und andere Schmöker vorzuziehen. Der Funke ist bis zuletzt nicht übergesprungen und es ist mehr dem vielschichtigen, erzählendem Schreibstil zu verdanken, dass ich drangeblieben bin, als der Erzählung an sich.


Der Ansatz von Meg Wolitzer konzentriert sich auf das Menschsein in der reinsten Form. Deshalb ist es auch nicht Greer allein, die hier als Hauptprotagonistin auftritt, sondern auch Faith und darüber hinaus noch Greers Freund Cory und ihre Kommilitonin Zee. Jeder hat gute und weniger gute Charakterzüge, alle handeln gleichbleibend menschlich und treffen weise aber auch falsche Entscheidungen. Es gelingt ihnen, sich im Leben zurechtzufinden und mit mehr oder weniger Einsatz, ihren Platz zu behaupten. Dazu nutzt die Autorin viele kleine Nebenhandlungen, die sich mit den jeweiligen Personen beschäftigen, die aber auf mich einen zerfaserten, unsteten und unbestimmten Eindruck hinterlassen. Cory trifft ein persönlicher Schicksalsschlag, Zee wird sich ihrer Homosexualität bewusst, Faith kämpft mit dem fortschreitenden Alter und Greer sieht ihre einstigen Wunschvorstellungen und Überzeugungen davondriften. Was nach Unzufriedenheit klingt, ist nichts anderes als der Lauf des Lebens, den alle erfahren und mit dem sie unterschiedlich umgehen.


Der Autorin gelingt es, mit einprägsamen Sätzen und einer guten Übersichtsstruktur die verschiedenen Charaktere in diversen Lebensphasen zu zeichnen, alles wirkt überaus realistisch und nachvollziehbar, doch leider empfinde ich beim Lesen kaum emotionale Beteiligung, die Banalität der Handlung und die vielen Hochs und Tiefs wirken so mühsam und langatmig auf mich, dass ich mir hin und wieder ein kleines Highlight gewünscht habe, doch vergebens. Greer Kadetzky und ihre ganz persönliche Entwicklung konnte mich einfach nicht fesseln.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (die ich dennoch eher auf 3 reduziere) für einen Roman, der sich vielschichtig mit wichtigen Lebensfragen auseinandersetzt. Thematisch findet man emanzipierte Frauen, hohe Idealvorstellungen, bittere Enttäuschungen und einiges an Lebensweisheit, die sich mit den entsprechenden Erfahrungen manifestiert. Dennoch, dieses Buch war vielleicht nicht das richtige Stück Literatur zur richtigen Zeit für mich. Der Handlung hätte ich mehr Entwicklungspotential, mehr Emotionalität und eine striktere, bissigere Erzählweise gewünscht. So blieb das Buch ein durchschnittliches Leseerlebnis. Dennoch werde ich gerne noch mindestens ein anderes Werk von Meg Wolitzer zur Hand nehmen, weil es doch die Erzählung selbst war, die mich nicht überzeugt hat, weniger die Erzählstimme.

Veröffentlicht am 24.06.2018

Die moralische Einsamkeit im ewigen Eis

Nordwasser
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„Der Bär schnaubt, sein heißer Atem streicht über Sumners Gesicht und Lippen. Einen Moment lang spürt Sumner Angst, und im Kielwasser, als die Angst nachlässt und ihre Kraft verliert, einen unerwarteten ...

„Der Bär schnaubt, sein heißer Atem streicht über Sumners Gesicht und Lippen. Einen Moment lang spürt Sumner Angst, und im Kielwasser, als die Angst nachlässt und ihre Kraft verliert, einen unerwarteten Anflug von Einsamkeit und Bedürftigkeit.“


Inhalt


Der Walfang vor Grönland hat schon bessere Zeiten erlebt, dennoch begibt sich die Volunteer auf eine gefährliche Expedition ins ewige Eis, um Wale, Robben und Eisbären zu jagen, deren Rohstoffe sie in der britischen Heimat zu Geld machen können. Die Mannschaft diesmal ist nicht zimperlich, die Männer an Bord alle erfahren und bar jeglicher Illusion. Nur der Arzt Patrick Sumner, passt nicht so recht ins Bild. Unehrenhaft würde er aus der Armee entlassen und heuert nun an, um überhaupt wieder eine Beschäftigung zu haben. Doch in der kargen Eiswelt angekommen, wird ihm schnell klar, dass seine Vorstellungen über mögliche Zwischenfälle und menschliche Entbehrungen, viel zu gering angesetzt waren. Denn nicht nur das grausame, kräftezehrende Töten der Beute, gehört zum rauen Alltag, sondern auch Hungergefühl, die frostige Luft, die unwirtliche Lebensweise und damit einhergehende Erkrankungen. Aber was sich als wesentlich fataler herausstellt, ist die Tatsache, dass sich ein Mörder an Bord des Schiffes befindet. Ein Mann, fähig zu absonderlicher Gewalt und Heimtücke, gewissenlos und brutal. Und Sumner ist nicht nur der Außenseiter, sondern auch der einzige Gerechtigkeitsfanatiker an Bord. Die Frage ist nur, wer ihm dort oben unterstützen könnte, insbesondere, nachdem die Mannschaft in Seenot geraten ist, und nur noch das Sterben oder Überleben die Gedanken der Männer beherrscht …


Meinung


Dieser Roman aus der Feder des britischen Autors Ian McGuire, wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert und konnte mich von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur fesseln und schockieren, sondern ebenso gut unterhalten und mehr und mehr begeistern. Eigentlich bietet er nicht nur einen ausgereiften Plot, mit ausreichend dramatischen Elementen, die allein durch die Kraft der Naturgewalt erzeugt werden, sondern vor allem ein ausgereiftes psychologisches, teilweise sogar philosophisches Betrachten der menschlichen Verhaltensweisen jenseits der Zivilisation. Mit unerschütterlichem Willen, dem Ablegen der Menschlichkeit, dem Vermissen jedweden Mitgefühls sieht sich hier der Leser konfrontiert. Die Männer verhandeln nicht mehr, sie zögern nicht, sie lügen, töten und lassen alles hinter sich. Denn wer sollen schon ihre Rächer sein, wenn sie befürchten, niemals wieder in die Heimat zurückzukehren?


Zwei Dinge machen diesen historisch inspirierten Pageturner zu etwas ganz Besonderen. Zum einen ist es die plastisch beschriebene Kulisse im lebensverachtenden Packeis jenseits menschenfreundlicher Bedingungen, zum anderen die klassische Einteilung, die sich gezielt mit dem Protagonisten und dem Antagonisten beschäftigt und ihnen ganz typische Charaktereigenschaften gibt. Nichts weiter als der ewige Kampf zwischen Gut und Böse steht hier im Zentrum der Erzählung und mit ihm die vielschichtigen Möglichkeiten, wer hier welche Untaten zu verantworten hat, oder seiner Schuld möglicherweise für immer entkommen kann.


Selten hat mich dieses Thema so gepackt wie in diesem Buch, welches sich stellenweise regelrecht zum Thriller mausert und dann doch wieder in die gedanklichen Spuren einer erfundenen Handlung wechselt. Dennoch empfand ich jeden Gedankengang als schlüssig und nachvollziehbar und während des Lesens hat mich oft die Frage beschäftigt, ob es nicht einfacher wäre, sich einfach hinzulegen und mit der Kälte zu verschmelzen oder ob der Kampf bis zum letzten Atemzug tatsächlich die Starken von den Schwachen trennt.


Fazit


Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und habe hier ein echtes Lesehighlight gefunden, welches ich wärmstens weiterempfehlen möchte. Der Roman mag brutal, grausam und sehr maskulin wirken, doch vor allem einprägsam und mit einer überraschend andersartigen Erzählung. Ein spannender Mix aus Fiktion, Historie und Psychologie. Düstere Geheimnisse, menschliche Verfehlungen, und das Glück der Tüchtigen erscheint ebenso diskussionswürdig wie bösartige Menschen, korrupte Zeitgenossen und hungrige Bären. Möge der Stärkere gewinnen!

Veröffentlicht am 21.06.2018

M.A.R.Y.

Die Farbe von Milch
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„Aber ich habe mir geschworen die Wahrheit aufzuschreiben und die Dinge wie sie passiert sind. Das werde ich tun. Und mein Haar hat die Farbe von Milch.“


Inhalt


Mary wächst als die jüngste von insgesamt ...

„Aber ich habe mir geschworen die Wahrheit aufzuschreiben und die Dinge wie sie passiert sind. Das werde ich tun. Und mein Haar hat die Farbe von Milch.“


Inhalt


Mary wächst als die jüngste von insgesamt 4 Töchtern auf einem Bauernhof auf. Von Kindesbeinen an sind die Mädchen harte, körperliche Arbeit gewöhnt. Im Sommer des Jahres 1831 bekommt Marys Vater aber ein verlockendes Angebot: Eine seiner Töchter soll im Haushalt des Pfarrers ihren Dienst antreten und bekommt dafür Kost und Logis gestellt, der Vater nimmt freudestrahlend an und schickt seine Jüngste, ist sie es doch die seit der Geburt eine körperliche Behinderung hat und auf dem Hof ohnehin nicht jede Arbeit so schnell und gut erfüllen kann, wie er es sich erhofft. Im Haushalt von Mr. Graham wird es Marys Aufgabe, sich um die herzkranke Frau des Pfarrers zu kümmern und den Haushalt zu organisieren. Gemeinsam mit der der Zugehfrau Edna arrangiert sie sich irgendwie, obwohl sie sich von Anfang an nicht wohl fühlt. Als nach kurzer Zeit im Dienst der Familie Graham die Pfarrersfrau verstirbt, entlässt Mr. Graham die zweite Angestellte, behält aber Mary bei sich. Und schon bald schrubbt sie nicht nur die Böden, poliert das Geschirr, kocht das Essen und wäscht die Sachen, sondern muss es auch ertragen, dass der gottesfürchtige Hausherr jeden Abend in ihr Zimmer kommt und sich zu ihr legt …


Meinung


Die englische Autorin Nell Leyshon thematisiert in ihrem zweiten Roman den Missbrauch Schutzbefohlener, in einer Zeit, in der Begriffe wie Recht und Unrecht nicht für alle Personen, nicht für alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen verfügbar waren. In diesem Roman zeigt sie nicht nur, wie das alltägliche Leben auf einem ganz normalen Bauernhof aussah, sondern auch, welche Willkür den Menschen - den Kindern insbesondere - jeden Tag widerfahren ist. Dabei geht sie darauf ein, wie abgebrüht und objektiv die Heranwachsenden die Welt um sich herum wahrnehmen, ohne gegen die Umstände, in denen sie aufwachsen zu rebellieren. Denn es fehlt nicht nur an Alternativen, sondern im Wesentlichen auch an Bildung und Entwicklungschancen. Für die Protagonistin Mary entsteht dadurch ganz schnell und ohne ihr Einverständnis ein ungesundes Abhängigkeitsverhältnis. Denn egal, wie sehr sie auch Mr. Graham verachtet, er ist es, der ihr das Lesen und Schreiben beibringt und diese Möglichkeit erfüllt sie mit innerer Zufriedenheit, mit Stolz und einer Einzigartigkeit, die sie sich um alles in der Welt wünscht. Dafür erträgt sie lange, was sie nicht ändern kann und redet sich ein, dass ihr Aufenthalt im Hause Graham einem höheren Zweck dient.


Dennoch konnte mich dieser intensive Roman nicht vollends überzeugen. In erster Linie schreibe ich das der sehr einseitigen Erzählperspektive zu, die darüber hinaus so schlicht und einfach gehalten ist, wie es sich wohl für ein Bauernmädchen des 19. Jahrhunderts gehört. Denn Mary selbst ist es, die den Leser durch ihre persönliche Geschichte führt und ihn alle Umstände aus erster Hand kennenlernen lässt. Ich hätte mir an dieser Stelle mehr Vielfalt und andere Erzählstimmen gewünscht, weil dadurch vielleicht eine andere Intension entstanden wäre. Gerade die Beweggründe des Mr. Graham bleiben irgendwo zwischen Einsamkeit, Schuldgefühlen und Lebensaufgabe hängen, so dass an dieser Stelle einiges an Interpretatiosspielraum bleibt. Auch die Hauptprotagonistin erscheint mir stellenweise sehr abgebrüht und durch nichts zu schockieren, allerdings weiß ich nicht, ob das an ihren Lebensumständen oder ihrem Charakter selbst liegt.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen eindringlichen, doch ungewöhnlichen Roman, der mit einer klar umrissenen Handlung und einer dominanten Erzählfigur aufwartet und den Leser mit hinein ins Jahr 1831 nimmt und ihm zeigt, wie sich der Alltag einer ungebildeten, ausgebeuteten jugendlichen Arbeitskraft anfühlte. Weder stilistisch noch emotional konnte mich der Text wirklich fesseln, er liest sich gut und schnell, auch eine gewisse Grundspannung kann man ihm nicht absprechen, doch es fehlt einfach das gewisse Etwas, so dass ich hier zur Ansicht gelangt bin, dass sich nicht viel Allgemeingültigkeit, nicht viele Denkansätze nach der Lektüre aufbauen und das ich eine Bewertung des Inhalts unter den heutigen gesellschaftstauglichen Gesichtspunkten nicht vornehmen kann, sie würden Mary und ihrer Lebensgeschichte nicht gerecht werden.