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Veröffentlicht am 07.06.2018

Der Mann, der Briefe dachte

Der Gedankenspieler
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„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den ...

„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den Anfang nicht gekonnt.“


Inhalt


Johannes Wenger ist nach einem Sturz auf den Rollstuhl und auf die Hilfe zahlreicher Pflegekräfte angewiesen. Leicht verdrossen ergibt er sich in sein Schicksal, da ihm ohnehin die Alternativen fehlen. Sein Hausarzt Dr. Mailänder kümmert sich kompetent um ihn und ist nicht nur für sein körperliches Wohlbefinden zuständig, sondern mittlerweile zum einzigen Vertrauten und Freund des alten Mannes geworden. Frau und Kinder hat Wenger keine und so nimmt ihn Dr. Mailänder als „Opa“ in seine eigene kleine Familie mit. Gemeinsam verbringen sie viele schöne Stunden, ja sogar einen Urlaub an der See und Johannes blüht durch die Ersatzfamilie mit der quirligen „Enkeltochter“ regelrecht auf. Doch allzu bewusst ist sich der ehemalige Architekt, seiner Endlichkeit, seiner immer schlechter werdenden Gesundheit und mit Argwohn betrachtet er seinen Verfall. Zur Last fallen möchte er niemanden, erst recht nicht seinem Arzt und Vertrauten. Nach einem akuten Nierenversagen landet Wenger im Krankenhaus, diesmal vollkommen ausgeliefert an seine Krankheit mit wirren Träumen, die ihn bereits an der Schwelle des Todes begrüßen und nur noch mit einem Bein im Diesseits. Wenger erholt sich auch von diesem Schicksalsschlag und kehrt nach Hause zurück, doch die Müdigkeit, die Last der vielen Lebensjahre, die er mit sich herumträgt, legt sich immer schwerer und düsterer auf sein Gemüt und er sieht ein, dass er sich lieber dieser Schwere zuwenden möchte, als einem langwierigen Heilungsprozess, der ihn Kräfte kosten wird, die er nicht mehr hat.


Meinung


Dieser Roman ist der letzte, des 2017 verstorbenen Chemnitzer Autors Peter Härtling. Wie man im Nachwort erfährt, hat sein langjähriger Lektor Olaf Petersenn den Text nur noch geringfügig bearbeitet und sich dabei voll und ganz auf das Manuskript des Autors gestützt. Dieser Umstand verleiht dem vorliegenden Roman noch ein bisschen mehr Authentizität, mehr Bedeutsamkeit und zeigt, dass Herr Härtling nicht nur einen bewegenden Roman über das Alter, die Freundschaft und die Einsamkeit geschrieben hat, sondern auch selbst in ebenjener Lebensphase steckte, die es nahelegt, dass sein Leben hin und wieder zum Vorbild der Gedanken des Protagonisten wurde.


Der Schreibstil ist minimalistisch, durch kurze Sätze geprägt, sehr sachlich manchmal fast nüchtern und dennoch immer nah dran an der Figur des Johannes Wenger. Jener verarbeitet in gedachten Briefen sein Leben, schreibt gedanklich an alte Bekannte, an bereits verstorbene Architekten oder berühmte Bauherren. Gleichermaßen dankt er seinem Vertrauten im Alter für dessen Präsenz, seiner neugewonnenen Enkeltochter für ihren Ideenreichtum und der passionierten Pflegekraft für den würdigen Umgang mit seinen körperlichen Hinfälligkeiten. Besonders gelungen empfinde ich die Reflexion der eigenen Gedanken, die Einfachheit der kleinen Alltagsfreuden, den sich ständig verkleinernden Radius des Individuums und nicht zuletzt die Aussöhnung mit all den Verfehlungen, der Vergangenheit, dem Leben an sich.


Manchmal hätte ich mir etwas mehr Emotionen gewünscht, tiefgreifendere Gespräche und mehr Kontakt zu dem alten Mann, den man als Leser zwar sehr genau kennenlernt, der als Person aber nicht ganz greifbar erscheint. Das stört nicht weiter, weil er sicherlich so auftreten soll, weil diese Stille, diese gewünschte Einsamkeit sein Wesen ausmachte, doch im Zusammenhang mit der Thematik, hätte es gern etwas mehr Herzblut und Traurigkeit sein dürfen. So ist es eher Melancholie, ein langsames Abschiednehmen, ein stiller Gang auf dem letzten Weg. Aber dennoch ein sehr ergreifender Roman.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ehrlichen, schonungslosen Roman, der einen ganz zielgerichteten Blick auf die Lebensphase des Alters wirft. Als Leser bekommt man Verständnis für all jene unausgesprochenen Wünsche, alle nicht mehr möglichen Unternehmungen, alle Unzulänglichkeiten aber auch für die Möglichkeiten, die selbst ein alter kranker Mann aus dem Rollstuhl heraus noch wahrnehmen kann, sofern er sich mit der Gegenwart und ihren Anforderungen anfreundet und die Endlichkeit eines Menschenlebens akzeptiert. Ich empfehle diesen Roman gerne weiter, er ist sicher kein Mainstream und auch sehr ruhig in seiner Erzählweise, doch man trägt den Text nach dem Lesen noch ein Weilchen im Herzen.

Veröffentlicht am 07.06.2018

Der Hüter deines Bruders

Nachsommer
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„Ich habe sie in der Unterwelt zurückgelassen. Anstatt sie zu überreden, zu bitten, sie einzuschließen, zu entführen, zu rauben, habe ich mich hinter einer Rüstung aus Feigheit, Angst und Konventionen ...

„Ich habe sie in der Unterwelt zurückgelassen. Anstatt sie zu überreden, zu bitten, sie einzuschließen, zu entführen, zu rauben, habe ich mich hinter einer Rüstung aus Feigheit, Angst und Konventionen versteckt.“


Inhalt


Für die beiden ungleichen Brüder Olof und Carl wird das Treffen am Sterbebett der Mutter zu einer Zerreißprobe. Denn nicht nur ihre von Rivalitäten geprägte Kindheit steht zwischen ihnen, sondern auch all die Verfehlungen der letzten Jahre, die Schuldzuweisungen und das Unverständnis auf beiden Seiten. Nicht zuletzt eine Frau, die der eine geliebt, der andere geheiratet hat und die nun auch für einen kurzen, traurigen Besuch in die Heimat zurückkehrt. Die Mutter liegt im Sterben und die Söhne müssen ihren Frieden mit der alten Frau schließen, und gleichzeitig ihren eigenen Weg fortsetzen, der durch Zuwendung oder fehlende Liebe nicht mehr eben ist und das auch nicht mehr werden kann. Familienbande hin oder her – wer sind eigentlich die Leidtragenden einer unausgewogenen Lebensgeschichte?


Meinung


Der in Helsinki geborene Autor Johan Bargum setzt sich in diesem Roman mit einer belasteten Geschwisterbeziehung auseinander, in der jeder Bruder einen Part zugeteilt bekommt und diesen auch hinreichend ausfüllt. Trotzdem wird ersichtlich, dass nicht alles nur schwarz oder weiß ist und dass auch die Zeit nicht alle Wunden heilen kann. Seine Protagonisten werden auf den wenigen Seiten sehr plastisch und greifbar beschrieben, man sieht sie vor sich und kann mit ihnen Empathie empfinden. Der ältere Olof ist der Vernünftige, der sich nichts traut, Carl der Jüngere hingegen springt in die Presche und setzt sich durch. Dennoch ist Olof bei der Mutter geblieben und Carl hat bereits vor Jahren den Kontakt auf ein Minimum beschränkt.


Mit dieser fast lyrischen Erzählung, die ganz wunderbar die Stimmung und Melancholie eines Landes einfängt und noch viel mehr die aufziehenden Gewitterwolken über einer familiären Tragödie, bin ich trotz der Thematik, von der ich mir viel versprochen habe, nicht warm geworden. Prinzipiell liegt das wohl an einer anderen Erwartungshaltung, die ich an den Roman gestellt habe. Durchaus eine traurige, mitreißende Stimmung, den Schatten eines schweren Verlusts, die Traurigkeit am Sterbebett der Mutter, doch all das steht hier nicht wirklich im Mittelpunkt. Vielmehr sind es die Brüder und ihr Beziehungsgeflecht, die hier ein feinsinniges, fast psychologisches Spiel miteinander betreiben und sich dennoch kein Stück annähern.


War der Anfang noch vielversprechend, so flaut die Geschichte schnell ab, die handelnden Personen verfallen in routinierte Muster und kommen nicht mehr von der Stelle. Verletzungen bleiben bestehen, Gespräche werden nicht geführt, zumindest keine, die bewegen, alles bleibt irgendwo im Schweigen verloren, hängt bedeutungsschwanger im Raum und schwebt unschön über der Geschichte. Diese Stille, die hier von den Menschen ausgeht, dieses Unvermögen einander näherzukommen, hat mich sehr mit Unzufriedenheit erfüllt.


Der Schreibstil selbst ist minimalistisch, geprägt von kurzen, nicht immer beendeten Sätzen, weswegen sich ein Deutungsspielraum ergibt. Zwischen den Zeilen steht noch so viel mehr, so viel Ungesagtes, sofern man es hineininterpretieren möchte. Und mir war gerade dieses knappe, nur angedeutete Wort zu wenig, zumal ich verzweifelt nach irgendeiner konkreten Aussage gesucht habe. Einerseits ein getrübtes Geschwisterverhältnis, dann ein Bruder, der mit seinem Leben in der zweiten Reihe ganz und gar nicht zufrieden ist und einer, dem es trotz seiner Dominanz an Unbeschwertheit fehlt. Dazwischen noch eine Frau, die mir fremd blieb und ein Ziehvater, der dem Ganzen ein bisschen von dem Glanz verliehen hat, den ich mir wünschte. Und was ich ganz besonders vermisst habe, war die Rolle der sterbenden Mutter, ihre Persönlichkeit fehlte förmlich komplett, die Gespräche mit den Söhnen, die Aussöhnung mit der Vergangenheit, ihre Wünsche für eine Zukunft der beiden …Für mich bleibt die Ratlosigkeit im Raum stehen - was war die Idee dahinter?


Fazit


Die vielen begeisterten Rezensionen, haben mich zu diesem Buch greifen lassen, dem ich nun doch nur 3 Lesesterne gebe. Die menschliche Seite kam mir hier zu kurz, das Ungesagte machte mich unzufrieden und in die Gegenwart mitnehmen kann ich nicht viel. Sehr einprägsam hingegen die Stimmung in Anlehnung an die Natur, in Kooperation mit der Wirkung der ruhigen, einladenden Landschaften entfaltet sich die Geschichte - ihre Schönheit jedoch bleibt mir im Wesentlichen verborgen.

Veröffentlicht am 29.05.2018

Die glückliche Jugend eines friedlichen Amerikas

Die Geschichte der Baltimores
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„Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grund keine große Bedeutung. ...

„Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grund keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden.“


Inhalt


Marcus Goldman, erfolgreicher Schriftsteller, verarbeitet in diesem Buch seine eigene Lebensgeschichte oder zumindest die seiner glorreichen Kindheit und Jugend. Gemeinsam mit seinem Cousin Hillel und Woodrow, dem Ziehsohn der Familie Goldman verbringt er unvergleichliche Tage in Baltimore. Die drei Halbwüchsigen sind eine richtige Gang, sie teilen alles, unterstützen sich wo sie können und holen aus dem Gegenüber stets das Beste raus. Gemeinsam gehen sie durch dick und dünn und sind wahre Brüder im Herzen. Marcus steckt voller Bewunderung für den intelligenten Hillel und den Footballstar Woody und würde am liebsten seine eigene Familie gegen ein Leben an der Seite seiner Cousins eintauschen. Aber Marcus bleibt immer ein bisschen außen vor, muss wieder fahren, wenn die Ferien zu Ende gehen und das Anwesen seines geliebten Onkels Saul zumindest für eine Weile verlassen. Rückblickend erzählt er nun, warum die Goldmans aus Baltimore in seinen Augen so wunderbar waren aber auch, wie die Bilderbuchfamilie ihrem Untergang geweiht war, wie bald alle Mitglieder ums Leben kamen und eine Katastrophe das ganze Universum eines Menschen auf den Kopf stellen kann. Denn in der Gegenwart ist Marcus der Einzige, der Bilanz ziehen kann und in seinem Buch eine Versöhnung zwischen Menschen herstellt, die sich zu sehr liebten und zu wenig gönnten, um miteinander unbeschwert durchs Leben gehen zu können.


Meinung


Dies war mein erster Roman des prämierten Autors Joel Dicker, der auch mit diesem, seinem zweiten Roman monatelang auf den Bestsellerlisten vertreten war und ich habe ihn gern gelesen. Mit leichter Erzählstimme und äußerst genau gezeichneten Charakteren vermag er es, eine wirkliche Geschichte zu erschaffen, die obgleich ihrer fiktiven Seite, dennoch ein äußerst realistisches Familienporträt entwirft.


Auf gut 500 Seiten darf der Leser in die Welt des Marcus Goldman eintauchen, hinein in ein glückliches Idyll mit großartigen Menschen und liebevollen Elternhäusern. Die kleinen Gesten, die zahlreichen Handlungspunkte, die netten Gespräche, all das zeichnet diesen Roman aus. Immer fühlt man sich kurzweilig und gut unterhalten, nie wird es langweilig, nie unvorstellbar, sondern stets scheint das Leben selbst der Autor des Buches gewesen zu sein. Und obwohl die Handlung sehr willkürlich und oft in Zeit und Raum springt, passt auch dieser Schachzug zum Text, denn dadurch das Marcus eine Art übergeordnete Erzählperspektive vertritt, stellt sich der Leser darauf ein, von ihm nur stückchenweise die ganze Wahrheit offenbart zu bekommen. Die Anfangs erwähnte Katastrophe zeichnet sich erst im zweiten Drittel des Buches ab und auch die Vorgeschichte der Vergangenheit kommt erst dann ans Tageslicht.


Und so gern, wie ich dieses Buch auch gelesen habe, so gibt es zwei Punkte, die mich nicht vollends überzeugen konnten. Zum ersten ist es eine gewisse Banalität der Geschehnisse, denn eigentlich erfährt man hier nur von einer Freundschaft, an deren Erhalt der Zahn der Zeit nagte, die Menschen betraf, die sich verändert haben und nicht mehr wie die einstigen Teenager heere Träume hegten. Dafür benötigt man aber keine 500 Seiten Text, das kann man kürzer uns straffer erzählen. Auch die Katastrophe an sich, ist so typisch amerikanisch, dass sie mich schon wieder stört, weil sie ins Klischee verfällt. Auch die Tatsache, dass es anscheinend ewig dauert, bis man den Kern der Erzählung erreicht, hat mir nicht sonderlich gefallen und letztlich stört mich vor allem eins: es ist ein bitterer Einzelfall, eine Tragödie nur für die Baltimores, ein hausgemachtes Problem, eine recht willkürliche Sache, die mir über das Buch hinaus nur wenig Ansatzpunkte für weitere Gedankengänge offenbart. Man klappt die Geschichte zu und wird sie wieder vergessen, es ist alles gesagt, alles vergeben, alles vergessen und die Menschen, die damit leben müssten, sind tot.


Der Text hat mich darüber hinaus immer wieder an einen Film erinnert, ich könnte mir vorstellen, dass diese Geschichte als Spielfilm weit mehr in Erinnerung bleiben könnte, als in Textform. Dort würden auch die Rückblenden und Vorausgriffe besser wirken und die Charaktere könnten zur Höchstform auflaufen.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen unterhaltsamen Familienroman über eine amerikanische Familie, deren Traum von der glorreichen Zukunft im Sand verläuft. Hier findet man eine interessante Story, Protagonisten mit Herzblut und spannende Hintergründe. Menschlich gesehen konnte mich diese Geschichte nicht bewegen, blieb mir zu oberflächlich und erhebt auch nicht den Anspruch mehr vermitteln zu wollen. Sie wirkt eher beispielhaft und durchaus persönlich, doch es ist die Art und Weise der Erzählung, die hier überzeugt, wenn auch nur so lange, wie man liest. Mir hätte sie generalistischer und weniger detailliert noch etwas besser gefallen. So bleibt es die Geschichte der Baltimores, die es nicht mehr gibt.

Veröffentlicht am 29.05.2018

Das Schweigen war kein Gutes

Mehr Schwarz als Lila
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„Ein schönes Bild, das von Jugend erzählt, von Freiheit und dem Jetzt. Die Jugend, und wenn sie bei Jugend immer von Freiheit sprechen, dann deshalb, weil sie vergessen haben, dass Gefühle endlos scheinen.“


Inhalt


Alex ...

„Ein schönes Bild, das von Jugend erzählt, von Freiheit und dem Jetzt. Die Jugend, und wenn sie bei Jugend immer von Freiheit sprechen, dann deshalb, weil sie vergessen haben, dass Gefühle endlos scheinen.“


Inhalt


Alex ist Teil einer gut funktionierenden Dreierfreundschaft, bei der sie in ihren schwarzen Klamotten die sein kann, die sie ist, weil auch ihre Freundin Ratte mit den Rastalocken, nicht in ein Schema passt und Paul, der dritte im Bunde für das intellektuelle Niveau sorgt. Gemeinsam sind sie stark und passen aufeinander auf. Dieses Gleichgewicht wird jedoch auf eine harte Probe gestellt, nachdem der junge Referendar Herr Spitzing den Unterricht übernimmt. Denn plötzlich wird der neue Lehrer für Alex zu einer Größe, die ihre Freundschaft belastet, denn Offenheit bezüglich ihrer Gefühle kann sie sich nicht leisten, weder gegenüber dem Lehrer noch gegenüber ihren Freunden. Und als Ratte auch noch eine andere Frau in ihr Herz lässt, zerbricht das, wofür Alex bisher gelebt hat. Ein wir gibt es nicht mehr und für ein Du fehlt ebenfalls jegliche Grundlage …


Meinung


Nachdem mich sowohl die Thematik, als auch die positiven Rezensionen sehr angesprochen haben, wollte ich diesen Roman über eine 17-Jährige mit ihren Ängsten und Nöten nur zu gern lesen, nicht zuletzt, weil mich die Ausgangssituation sehr an meine persönliche Geschichte erinnert hat. Und tatsächlich gelingt es der, mit mir fast gleichaltrigen, Autorin ein sehr bewegendes, authentisches Buch über das Erwachsenwerden zu schreiben, über die Wucht der ungebremsten Gefühle, über Zweifel, Probleme und Ängste, die zwar nicht immer eine dramatische Grundlage haben aber für die Jugendlichen doch das Zentrum ihres Lebens sind. So fängt sie ihre Protagonisten sehr ehrlich und offen, sehr emotional und impulsiv ein, zeigt aber auch, dass ihr Handeln zwar auf zahlreichen, mannigfaltigen Gedankengängen beruht, die Wirkung aber teilweise eine ganz andere ist, als gewünscht.


Das Besondere an diesem Buch ist sicherlich auch seine Sprache, die in kurzen Sätzen, manchmal nur Fragmenten eine bunte Palette an ernsthaften, wichtigen Überlegungen aufgreift und sie einfach so in den Raum hineinstellt, als könnte man sich genau das nehmen, was man möchte und das andere einfach stehen lassen. Sehr interessant auch der Schachzug mit dem Adressaten des Buches. Denn „Mehr Schwarz als Lila“ richtet sich eigentlich an Herrn Spitzing, jenen Lehrer, der für Alex so viel mehr sein sollte, als eine Aufsichtsperson. Trotzdem wirkt das „Du“ im Text nicht fremd, man kann es gut verallgemeinern und fühlt sich als Leser sicherlich noch mehr angesprochen als derjenige, der hier verstehen sollte, was er zerstört hat und warum er Alex dennoch weitergebracht hat auf ihrem persönlichen Weg in die Freiheit.


Was mir neben der hervorragend dargestellten Geschichte über das Erwachsenwerden gefehlt hat, ist eine gewisse Bedeutsamkeit, die über das Profane hinausgeht. Es fiel mir zwar nicht schwer, mich in die Protagonisten hineinzuversetzen, doch manchmal wirkte das Geschehen viel zu einfach, zu belanglos, zu uninteressant. Gerade der Part mit der Lehrer-Schüler-Liebe wurde eher oberflächlich behandelt. Immer da, wo ich hoffte, auch im Erwachsenen einen wichtigen Part zu finden, verlief das Gesagte etwas im Sand. So legt die Geschichte den Fokus auf eine Freundschaft, die durch einen anderen Menschen zerstört wird, wer das eigentlich ist und warum, scheint ziemlich bedeutungslos.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen einprägsamen, zeitlosen Roman über junge Menschen, die gezwungen sind, ihren Weg zu finden, nicht nur innerhalb einer Freundschaft, sondern auch ganz allein für sich selbst. Die begreifen müssen, welche Verantwortlichkeiten entstehen, wenn man andere verletzt, aber auch welche Innigkeit sich entwickelt, wenn man ehrlich gegenüber den eigenen Gefühlen ist. Empfehlenswert ist dieses Buch vor allem für junge Erwachsene und solche, die sich noch gut an das Auf und Ab der Gefühle in der Pubertät erinnern. Einer Lebensphase, der man nicht entkommen kann und die gleichermaßen Last und Freude sein kann – für alle Beteiligten. Von der Autorin selbst möchte ich sehr gern noch weitere Bücher kennenlernen, ihr Text hier bleibt mir in Erinnerung und lässt mich auch nach der Lektüre noch über die Inhalte nachdenken, das mag ich sehr.

Veröffentlicht am 25.05.2018

Die Zeit, die keine gute war

Der Gott jenes Sommers
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„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles ...

„Frei und mittig sitzen wir unter dem Himmelsrund, und mag der Gott dieses Sommers unsere Nähe auch verschmähen – kann er sich denn weiter entfernen, als der Gedanke, der ihm gilt? Haben wir nicht alles dem Menschen Mögliche versucht?“


Inhalt


Die 12-jährige Luisa erlebt die letzten Ausläufer des 2. Weltkrieges in ihrer Kindheit, ohne genau benennen zu können, was um sie herum vor sich geht. Zwar kommt sie durchaus mit den Kriegsopfern in Kontakt, sieht Leid und Elend, erlebt die Flüchtlingsströme und die verzweifelten Versuche des Regimes, den Krieg noch zu gewinnen, doch bleibt ihr das Verständnis, wozu dies alles geschieht verborgen. Was sie stattdessen erlebt, ist ein Elternhaus, in dem es wenig Gefühle gibt, eine große Schwester, die sich jedem Mann an den Hals wirft, nur um sich zu betäuben und zu spüren, dass sie lebt und einen Vater, der nur noch Gast im eigenen Hause ist. So schwärmt sie lieber für den Melker Walther, bis dieser dann einberufen wird und als ihre Schwester verschwindet und sie auf der Geburtstagsfeier ihres Schwagers mit der Willkür eines Mannes in Berührung kommt, zieht sie sich mental immer weiter aus der Welt zurück.


Meinung


Ralf Rothmann greift in diesem Roman die letzten Tage des Krieges auf, und begibt sich mit der Hauptprotagonistin Luisa auf eine Spurensuche hinein in die kindliche Vorstellungskraft von Recht und Unrecht. „Der Gott jenes Sommers“ reiht sich damit ein in die Reihe der Kriegsromane, die aus dem alltäglichen Erleben der Zivilbevölkerung erzählen und damit die Auswirkungen eines kriegsgebeutelten Landes in der Gegenwart spürbar machen. Und was anfangs noch eine interessante Kombination zwischen dem persönlichen Leben eines Mädchens und den historischen Entwicklungen scheint, bleibt leider im Folgenden etwas stecken, verharrt sozusagen auf der Stelle und verliert mit den profanen Geschehnissen doch etwas an Überzeugungskraft.


Mein Hauptkritikpunkt liegt dabei auf einer gewissen Distanziertheit, die immer mehr zunimmt. Denn obwohl Luisa als Ich-Erzählerin auftritt, gelingt es ihr nicht, den Leser direkt für sich einzunehmen, man fühlt sich beim Lesen immer wie ein Außenstehender, der zwar beobachtet, erkennt und Zusammenhänge begreift, diese aber nicht in Verbindung mit Emotionen und der Gedankenwelt der Erzählerin in Einklang bringen kann. Die Intensität des Geschriebenen wirkt vielmehr über die Sachebene, über das intensive Beschreiben einer Situation, über die detaillierten Einblicke in zwischenmenschliche Beziehungen, die jedoch mehr auf Fakten, denn auf Gefühlen basieren. Gerade für einen Roman, der sich auf kindlicher Ebene abspielt, hätte ich mir eine Palette an Emotionen gewünscht, angefangen von Wut über Trotz, meinetwegen auch Unsicherheit und Trauer – doch Luisa wirkt abgestumpft, blasser als gehofft und selbst ihre Naivität kauft man ihr nicht so recht ab.


Positiv hervorheben möchte ich die Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen, denn dieser Teil lebt durch Schilderungen, durch detaillierte Bilder, mit einer Wucht und Konsequenz, die den Leser erbarmungslos daran erinnert, wie das wirkliche Leben damals aussah und wie durchschlagend das nationalsozialistische Gedankengut einst war und welch fatale Auswirkungen der Krieg mit sich brachte. Immer, wenn sich die Erzählung in Richtung Hintergrundhandlung bewegte, konnte sie mich ausgesprochen überzeugen. Mit leichten Pinselstrichen zeichnet der Autor ein Bild der Verwüstung, brennende Städte, Schutt und Asche, Leichenberge und wandelnde Skelette, die in den Trümmern ihre verlorene Vergangenheit suchen. Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und erfordert Konzentration, er bleibt sachlich-neutral und vermag es trotzdem, genau die richtigen Punkte zu berühren.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen schonungslosen, sachlichen, stillen Kriegsroman, der zwar das Leben thematisiert aber dennoch viel mehr vom Verlust der Unbeschwertheit berichtet als vermutet. Was er nicht so recht schafft, ist das Verständnis für die Menschen, die hier agieren, sie bleiben irgendwo auf der Strecke, verloren an ihre Zeit, die keine gute war. Was er vermag, ist die Schilderung einer Zeit, der man nur mit stoischer Ruhe entgegenwirken konnte und in der Hoffnung verborgen und nur schwer zugänglich zu entdecken war. Wer einen eher sachlichen Blick auf das Leben der Menschen zum Kriegsende werfen möchte, ist hier richtig. Wer Gefühle sucht, wird hier langfristig etwas vermissen. Da dies mein erstes Buch des Autors war, der bereits mit seinen vorhergehenden Romanen für Schlagzeilen sorgte, möchte ich gerne noch ein weiteres Buch lesen, die Kritiken sind durchaus positiv, vielleicht konnte mich dieser Text nicht ganz erreichen, weil ich mir etwas anderes davon versprochen hatte. Lesenswert ist er aber dennoch.