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Veröffentlicht am 26.04.2018

Deine Heimat ist Vergangenheit

Letzte Fahrt nach Königsberg
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„Aber irgendwie hatten sie noch ein hinlänglich normales Leben führen können – oder wenigstens die Illusion davon. Und jetzt die totale Zerstörung einer ganzen Welt. Ihrer Welt. Mit den Mauern der Stadt ...

„Aber irgendwie hatten sie noch ein hinlänglich normales Leben führen können – oder wenigstens die Illusion davon. Und jetzt die totale Zerstörung einer ganzen Welt. Ihrer Welt. Mit den Mauern der Stadt waren auch die ihrer Kindheit und Jugend eingestürzt.“


Inhalt


Geboren und aufgewachsen in der wunderschönen Stadt Königsberg, nahe der Ostseeküste wächst Ella in einem gut situierten Elternhaus auf. Der Vater erfolgreicher Weinhändler, die älteren Geschwister an höheren Schulen und im Haushalt gibt es Personal. Unbeschwert und glücklich erlebt Ella ihre Jugend, genießt ihr Leben, trifft sich mit Freunden und entdeckt ihre Welt mit den Augen einer aufblühenden jungen Frau. Doch die Schatten ihrer Zeit verdunkeln den Horizont, denn nicht nur der persönliche Schicksalsschlag vom Tod des Vaters, welcher der Familie den finanziellen Rückhalt raubt, belastet die Aschmoneits, sondern auch die Erstarkung des Nationalsozialismus mit immer dramatischeren Auswüchsen. Ella muss ihren erstrebten Traumberuf an den Nagel hängen, da ein Studium nicht mehr möglich ist und ihre aufkeimende Leidenschaft für Victor Jacoby steht ebenfalls auf wackeligen Beinen. Als der Krieg schließlich mit voller Wucht in Königsberg wütet, lebt Ella bereits in Potsdam bei ihrer Schwester – doch in der Heimat wartet Wertvolles auf sie und der Hunger der Familie ist groß. Sie beschließt entgegen aller Warnungen nochmals zurückzukehren, um zu retten, was noch zu retten ist. Bis es immer schwieriger wird einen Zug zu bekommen, weil die Menschen in Heerscharen die Heimat verlassen und auch für Ella eine schmerzhafte Trennung bevorsteht …


Meinung


Auf Grund einer Leserempfehlung habe ich zu diesem interessanten Roman gegriffen, der nicht nur eine spannende Geschichte über eine junge Frau und deren Leben verspricht, sondern auch die Aufarbeitung einer Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs und insbesondere der Zerstörung der ostpreußischen Metropole Königsberg, aus der auch meine Großmutter väterlicherseits stammt.


Dieser Roman erfüllt dabei alle Voraussetzungen, die ich an ansprechende, unterhaltsame Belletristik stelle und malt nicht nur das schöne Bild einer für immer verlorenen Stadt, als diese sich noch in ihrem Glanz sonnte, sondern zeigt einmal mehr, wie zerstörerisch und vernichtend das zivile Leben während des Krieges war. Anhand der persönlichen Lebensgeschichte, die der Autor Ulrich Trebbin sehr ehrlich und liebevoll aufarbeitet und sie geschickt mit den historischen Ereignissen der Zeit verbindet, entsteht ein bewegender, sehr umfassender Einblick in die alltäglichen Belastungen, die heeren Träume, die erschütternden Wahrheiten und die traurigen Bilanzen einer ganzen Generation.


Dabei lebt dieses Buch durch und mit einer starken, unbeirrbaren Frau, die trotz aller Tiefschläge unbeirrt, ja manchmal regelrecht naiv ihren Weg beschreitet, um aus allen Entscheidungen und Verfehlungen ihre Lehren zu ziehen und nicht in Resignation und Starre zu verfallen, sondern beständig vorwärts zu schreiten. Gerade diese facettenreiche, lebhafte Hauptprotagonistin hat für mich einen wesentlichen Teil des Charmes dieses Buches ausgemacht. Denn einmal abgesehen von den ansprechenden Schauplätzen, den gut gezeichneten Nebenfiguren und den aufklärenden Hintergrundfakten, war es in erster Linie Ella, die mich für sich und ihr Leben einnehmen konnte.


Abwechslung und Vielfalt zeigt sich auch in den wechselnden Zeitebenen, die sich generell an persönlichen Stationen festmachen, die für ein Menschenleben entscheidende Wendungen bringen. Der Tod des Vaters, die leicht distanzierte Beziehung zur Jugendliebe, die Heirat mit der guten Partie, die nicht zwangsläufig auf Liebe basiert aber auch die Rückkehr in die zerstörte Heimat, das Vermissen der Verunglückten und die erbarmungslose Lücke, die der Krieg in zwischenmenschliche Beziehungen reißt – all das sind Themen, die nicht nur angeschnitten, sondern auch mit Leben gefüllt werden. Deshalb kann ich auch gut über einige langatmigere Passagen hinwegsehen, die sich mit dem Präparieren von Schmetterlingen oder der detaillierten Stadtbeschreibung befassen. Es passt alles gut zusammen und ergibt ein schlüssiges Bild.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne (4,5 wenn man so möchte) für diesen individuellen, intensiven Roman, der für mich sowohl Zeitzeugnis als auch Lebensgeschichte darstellt. Er beschäftigt sich mit zahlreichen Themen, die manchmal zwar nur angeschnitten werden aber in ihrer Fülle und Gesamtwirkung unschlagbar sind. Ich empfehle das Buch all jenen, die Familiengeschichten lieben, die Menschenschicksale kennenlernen möchten, die wissen wollen, wie es in vergangenen Zeiten war, die sich mit Begriffen wie Herkunft, Heimat und Erinnerungen identifizieren können und die einen gelungenen Unterhaltungsroman suchen. Denn auf der Reise, die dieses Buch beschreibt, findet man sehr viel Menschlichkeit, viel Leid, viel Mut, viel Leben und die Gewissheit, das alles einen Sinn und Zweck erfüllt – sei es ein Einweckglas mit Schweinebraten oder eine vergilbte Fotografie mit welligen Rändern.

Veröffentlicht am 24.04.2018

Dunkle Geheimnisse in der amischen Gemeinde

Blutige Stille
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„Im Kopf eines Mörders spielen sich finstere und boshafte Dinge ab, er wird geleitet von vielen schwarzen Gedanken und einem geheimen Hunger, wie ihn sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können.“


Inhalt


Kaum ...

„Im Kopf eines Mörders spielen sich finstere und boshafte Dinge ab, er wird geleitet von vielen schwarzen Gedanken und einem geheimen Hunger, wie ihn sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen können.“


Inhalt


Kaum zu glauben, aber wahr, in der beschaulichen Kleinstadt Painters Mill wird die Familie Plank, Mitglieder der ortansässigen amischen Gemeinde regelrecht niedergemetzelt. Während die Eltern, das Baby und die beiden Söhne fast schon gnädig erschossen wurden, mussten die beiden Teenager Mädchen eine leidvolle Verstümmelung ertragen. Für die Ermittlerin Kate Burkholder nimmt dieser grausige Fall, extreme Formen an, nicht nur, weil jegliches Motiv für den Massenmord zu fehlen scheint, sondern auch, weil es schauerliche Parallelen zu ihrer eigenen Vergangenheit gibt. Sie erbittet sich Hilfe von ihrem Kollegen John Tomasetti, mit dem sie etwas mehr als nur kollegiale Freundschaft verbindet. Doch die dürftigen Indizien bereiten den beiden Kopfzerbrechen und ein Tagebuch der ermordeten Mary Plank, die ihren Mörder vielleicht sogar geliebt hat, doch niemals einen Namen erwähnte und auch keine auffallenden körperlichen Merkmale. Kate ahnt, dass in Painters Mill ein skrupelloser Mörder lebt, doch welche Rolle spielen die integrierten Zeugen, von denen es anscheinend mehr als zwei gibt …


Meinung


Linda Castillo hat sich mit ihrer Reihe um die engagierte Ermittlerin Kate Burkholder und ihren spannenden Kriminalfällen in der amischen Gemeinde einen festen Platz in der Liga der Thriller-Autoren gesichert. Mit den mittlerweile 9 Bänden erwartet den motivierten Leser, nicht nur eine ganze Reihe Unterhaltungsstoff, sondern auch ein gut durchdachtes Konzept, bei dem der Hauptprotagonistin und ihrem vom Leben gebeutelten Freund, genau der richtige Stellenwert eingeräumt wird. Dieser Punkt ist meines Erachtens auch der ausschlaggebende für den nicht zu verachtenden Suchtfaktor, den diese Reihe erzeugt. Denn eher untypisch für eine Krimireihe kann man die Bände hier durchaus in beliebiger Reihenfolge lesen, da die Fälle in sich geschlossen sind, so dass sich die Einhaltung der Chronologie vielmehr aus der privaten Lebensgeschichte der Ermittlerin ableitet.


Doch auch der Spannungsfaktor ist nicht zu verachten, die Beschreibung der Orte, der ganze Handlungsrahmen, die gut gewählten Nebencharaktere – all das macht das Lesen zu einem echten Vergnügen, insbesondere weil man immer genau zum richtigen Moment das nächste Puzzleteilchen serviert bekommt, um sich selbst die Frage zu stellen, wer nun am ehesten als potentieller Täter in Frage käme. Langeweile verspürt man nicht, vielmehr ein echtes Kopfkino dank des gut gewählten Settings und der interessanten Einblicke in das Leben der tiefgläubigen, bescheidenen Amischen, von denen man den Außenseiterstatus förmlich erwartet und merkt, mit welchen Vorurteilen sie tagtäglich zu kämpfen haben.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen gut konzipierten Thriller, der mich einmal mehr für die Reihe einnehmen konnte. Ich werde sie definitiv weiterverfolgen und freue mich auf weitere Lesestunden mit dem Ermittlerpaar Burkholder/ Tomasetti. In Erinnerung bleibt hier wohl eher die Gesamtkonzeption als der einzelne Roman, denn inhaltlich findet man hier nicht den nervenaufreibenden Thrill, der sich aus der Kenntnisnahme eines gestörten Täters ergibt, sondern vorrangig eine schlüssige Rahmenhandlung, die mit sprachlichen Bildern aufwartet, die man sich sehr gut vors innere Auge rufen kann. Sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 24.04.2018

Erinnern, Erzählen, Ertragen

Was nie geschehen ist
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„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei ...

„Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion setzen wir selbst, und je besser wir unsere Fiktion im Griff haben, desto besser haben wir auch unsere Realität im Griff.“


Inhalt


Drei Generationen, drei Leben, drei Frauen. Verbunden durch eine gemeinsame Familiengeschichte, begibt sich Nadja Spiegelman auf eine Reise ins vergangene Leben ihrer Mutter und Großmutter. Eine Art Spurensuche, die sich damit auseinandersetzt, wie Erinnerungen auf Menschen wirken, wie unterschiedlich der gleiche Sachverhalt wahrgenommen werden kann und welche Folgen sich für das Selbstbild des Einzelnen daraus ergeben. Dabei versucht Nadja, nicht nur zu erklären, warum sie selbst sich oft nicht „gut genug“ gefühlt hat, sondern auch, warum ihre Mutter eine so disziplinierte aber kühle Frau ist und warum selbst die Großmutter Josée nichts von einer liebevollen, gütigen, älteren Frau in sich trägt. Dabei schwankt sie zwischen Traurigkeit und Akzeptanz, versöhnt mit wenigen glorreichen Momenten, mit Nähe, die durch intensive Gespräche im Erwachsenenalter einhergeht, deren Wurzeln für Unverständnis aber weit in die Kindheit hinein reichen.


Meinung


Dieser Debütroman der jungen Autorin Nadja Spiegelman, die selbst eine tragende Rolle in diesem Buch bekommt, zeichnet auf teilweise erschreckende Art und Weise ihr Leben als Tochter der New Yorker Kunstredakteurin Françoise Mouly und des berühmten Cartoonisten Art Spiegelman nach. Wobei sie nicht nur viele Details aufleben lässt, nein sie nimmt die Wesensart ihrer Mutter, später auch die ihrer Großmutter unter die Lupe und zerpflückt deren Charakter in allerhand kleine Puzzleteilchen, die erst in ihrer Gesamtheit das komplette Bild der Frauen ergeben. Dabei begreift der Leser vor allem eines: so genau, so umfassend, kann man analysieren, ohne nachtragend zu beschuldigen aber auch ohne echte Liebe zu empfinden.


Ich bin hier etwas zwiegespalten, denn für mich ist der vorliegende Roman ein absolut persönliches, individuelles Werk, welches durchaus innerhalb der Familie bleiben sollte, weil das Erzählte so bitter und vielschichtig wirkt, dass ich das Gefühl hatte, die Geschichte bringt möglicherweise die handelnden Personen einander näher, doch für mich als unbeteiligten Dritten ist sie eine traurige Lebens- und Liebesgeschichte zwischen den drei Frauen, die sich vielmals untereinander nicht verstehen, die sich lieben, ohne es zu vermitteln und die ein ganz diffuses Mutter-Tochter-Beziehungsgeflecht reflektieren, in dem ich keine konkrete Aussage festmachen kann.


Besonders störend beim Lesen empfand ich die zahlreichen Wechsel zwischen den Protagonisten. Denn obwohl Nadja ganz klar in die Rolle der Erzählerin schlüpft, wechselt doch die Person immer wieder sprunghaft und nicht klar ersichtlich. Selbst, wenn es streckenweise um Françoise geht, taucht plötzlich Josée auf, nur um dann wieder Parallelen zu Nadja zu ziehen. Immer musste ich ein paar Sätze lesen, um überhaupt wahrzunehmen, wer jetzt gerade über wen redet und in welchem Zusammenhang, mit welcher weitreichenden Bedeutung. Diese Art der Schriftführung ist definitiv nicht meins, so dass auch die Kapiteleinteilungen des Buches mehr oder weniger überflüssig waren.


Positiv beurteilen möchte ich aber die Mühe, die Intensität, die in jedem Satz steckt, die so generalistisch wie abstrakt wirkt und die mich hier eigentlich bei der Stange gehalten hat. Denn es werden fatalistische Dinge, wie Selbstmordversuche, Essstörungen, Depressionen und Verzweiflungstaten preisgegeben, die gerade, wenn es öffentlich gemacht wird, eine Menge Mut und absolutes Vertrauen erfordern – darin das Beziehungen nicht auf ein vorgefertigtes Maß reduzierbar sind, sondern sich wandeln können und erst im Angesicht der Wahrheit, auf allen Seiten eine neue Dimension einnehmen können. Deshalb empfinde ich diesen Roman weniger als eine Abrechnung mit der Vergangenheit und trügerischen Erinnerungen als vielmehr eine Möglichkeit, das schwer greifbare, zwischenmenschliche Interaktionsniveau wahrzunehmen und weiterzugeben. Auch der Aspekt, die Überlegung, wie wenig man normalerweise über solche Dinge nachdenkt, wie seicht und einfach Beziehungen sein können und wie aufwühlend solche, in denen eigentlich immer das Entscheidende fehlt.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunden möchte für diesen äußerst individuellen, biografischen Roman, der mich oft verstört hat und ganz und gar nüchtern auf das Geschehen hat blicken lassen. Was ihm für meinen Geschmack fehlt, ist etwas Greifbares, eine Substanz, die über die Romanfiguren hinauswächst, die beim Leser in Erinnerung bleiben wird – was er hat ist eine individuelle Sichtweise, eine schonungslose Offenbarungsfreude und ein ehrlicher Blick auf menschliche Verfehlungen. Was er aufwirft, ist das Bedürfnis intensiver über die Beweggründe der allernächsten Verwandten nachzudenken und zu zeigen, wie wichtig es ist, sich in Gedanken und Gesprächen nahe zu sein, damit das Verständnis füreinander erhalten bleibt.

Veröffentlicht am 11.04.2018

Innere Leere hinter äußerer Idylle

Kleine Feuer überall
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„In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte.“

Während das ländliche Idyll der ...

„In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte.“

Während das ländliche Idyll der Familie Richardson in Flammen aufgeht, und sie gezwungen sind, zu verstehen, warum ihre jüngste Tochter in jedem Zimmer Benzin vergossen hat, entwirft die Autorin das Bild einer allzu perfekten Familie in einer vorbildlichen Wohngegend. Beide Eltern erfolgreich im Beruf, vier größere Kinder, die anscheinend ebenso gut wie ihre Eltern geraten sind und nichts, was das eingegrenzte Lebensbild der Richardsons durcheinanderbringen könnte. Erst als sie ihr Zweithaus an eine Künstlerin mit jugendlicher Tochter vermieten, beginnt sich das Geflecht zu lösen, denn Mia, die bald auch die Putzhilfe der Richardsons wird, um ihre Miete überhaupt zahlen zu können, wirbelt eine Menge Staub auf. Nicht nur, dass sie die Kinder der Richardsons magisch in ihren Bann zieht und die junge Izzy direkt unter ihre Fittiche nimmt, auch deren Tochter Pearl verdreht den Söhnen Trip und Moody gehörig den Kopf. Was zunächst wie eine ganz normale Freundschaft unter Jugendlichen wirkt, wird zunehmend zur Gefahr, denn Elena Richardson merkt sehr wohl, dass ihre Kinder in der fremden Frau viel mehr sehen als nur eine x-beliebige Bekannte. Als sie beginnt in der Vergangenheit der Zugezogenen zu stochern, deckt sie einen Skandal auf und ist sich sicher: „Meine Kinder kann ich dieser Frau nicht überlassen.“ Doch bitter bekommt sie zu spüren, dass Zuwendung und Entgegenkommen manchmal viel tiefere Bande schafft als Geld und Ansehen …

Nachdem ich den Debütroman der Autorin Celeste Ng „Was ich euch nicht erzählte“ regelrecht verschlungen habe und äußert begeistert war, wollte ich ihr zweites Buch ebenfalls lesen. Und auch hier, konnte mich die Autorin von ihrem schriftstellerischen Können überzeugen. Ich empfinde ihren Schreibstil und die Wortwahl, ebenso wie die Charakterisierung der handelnden Personen nahezu perfekt. Sie entwirft weniger ein erschreckendes Szenario, sondern konzentriert sich ganz klar auf Zwischenmenschliches, auf die Verfehlungen und Unterlassungen ihrer Protagonisten, sie bemüht sich deren Sorgen und Nöte darzulegen und stellt die dramatischen Folgen als eine ganz logische Handlung dar, die man als Leser durchaus erwartet, weil man anders als die Figuren selbst, ein viel tieferes, umfangreiches Bild ihrer Gefühlswelt erworben hat. Diese Fokussierung auf die Innerlichkeit des Menschen hat mir auch in diesem Buch ausgesprochen gut gefallen, zeigt sie doch, wie zerrüttet Manches ist, was nach außen nahezu unproblematisch erscheint, bis es eines Tages zum Ausbruch kommt.

Dennoch empfand ich die Handlung des Buches etwas ungeordnet, so dass ich mir einen strikteren Verlauf gewünscht hätte. Während man einmal der Mutter der 4 Kinder nahekommt und erkennt, warum sie so geworden ist, schweift der Text danach zu einem aktuellen Sorgerechtsstreit in der Gemeinde ab, nur um im Folgenden die Vergangenheit, der neuen Nachbarin zu durchleuchten. Dabei ist jeder Handlungsstrang für sich erzählt sehr genial, nur die Verbindung, die damit bezweckte Gesamtheit der Erzählung, bleibt etwas auf der Strecke. Dadurch fällt es mir schwer, eine Bedeutungsschwere, eine durchschlagende Aussagekraft herauszufiltern. Es sind eher die kleinen Spannungsherde, die wirken als die große Frage danach: „Was macht eine gute Mutter aus?“ Und so findet man auch keine abschließende Wahrheit, dafür aber die Gewissheit, dass es nicht darauf ankommt, welche Fehler man begeht, sondern darauf, ob man bereit dazu ist, sich den Menschen zuzuwenden, sie anzunehmen und nicht zu verurteilen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie ganz anders werden, als man es sich gerade als Mutter, für sie erhofft hat.

Fazit: Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen intensiven Roman, selbst wenn ich gerne 5 gegeben hätte, weil mich einfach der bruchstückenhafte Handlungsverlauf etwas geärgert hat. Ansonsten aber eine wunderbare, vielfältige Menschenstudie, mit vielen Protagonisten, die einem alle irgendwie ans Herz wachsen und bei denen man fast traurig ist, dass man sich nun von ihnen trennen muss. Ich empfehle das Buch all jenen Lesern, die gerne hinter die äußere Fassade blicken, die sich mit vielen Gefühlen auseinandersetzen möchten und denen es in den Fingern krabbelt, die wahren Beweggründe für menschliche Entscheidungen zu verstehen. Eines steht fest: Den nächsten Roman der Autorin muss ich unbedingt wieder lesen …


Veröffentlicht am 10.04.2018

Das Leben muss immer die Oberhand gewinnen

Drei Tage und ein Leben
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„Man würde wieder dorthin zurückkehren. Antoine würde keine zweite Chance bekommen. Erneut spürte er, wie sehr er sich danach sehnte, dass dieses Gewitter, das seit zwei Tagen über ihm schwebte, endlich ...

„Man würde wieder dorthin zurückkehren. Antoine würde keine zweite Chance bekommen. Erneut spürte er, wie sehr er sich danach sehnte, dass dieses Gewitter, das seit zwei Tagen über ihm schwebte, endlich ausbrach.“


Inhalt


Für den 12-jährigen Antoine endet seine Kindheit von einem auf den anderen Moment, nachdem er seinen kleinen Freund Remy, der gerade 6 Jahre alt ist, im Affekt erschlägt. Allein mit dieser Schreckenstat, hilflos im Angesicht der schrecklichen Bedeutung, die ihm sehr wohl bewusst ist, wirft er die Leiche in eine tiefe Grube im heimischen Wald, in der Hoffnung, dass man ihm, den Täter wider Willen nicht unmittelbar auf die Schliche kommen wird. Seine Gewissensbisse und Befürchtungen übertreffen die Ermittlungen um ein Vielfaches, denn die Polizei und Anwohner gehen eher von einem Unglück oder gar einer Entführung aus. Und so bleibt der Junge verschwunden und wird bald schon nicht mehr gesucht, denn ein Unwetter mit schwerwiegenden Schäden, macht eine Spurensuche im Wald unmöglich. Doch Antoine lebt sein eigenes Leben wie in einer Blase, pendelnd zwischen Flutverhalten und Düsternis, lauernd auf den Tag, an dem man Remy ausgraben wird … Als Jahre später die Leiche gefunden wird, und DNA-Spuren den Täter überführen könnten, trifft Antoine eine zweite Entscheidung, die sein Herz bricht, doch die Wahl zwischen einer vernichtenden Wahrheit und einer reuigen Lüge, lässt ihm keinen Spielraum.


Meinung


Der französische Autor Pierre Lemaitre, der Preisträger des Prix-Goncourt wurde, erschafft mit dem vorliegenden Roman ein intensives, erschreckendes Bildnis einer aus dem Ruder gelaufenen Situation und deren weitreichenden Folgen. Er versteht es hervorragend, den Hauptprotagonisten Antoine menschlich und zwiegespalten zu charakterisieren, er haucht dessen Handlungen und Beweggründen Leben ein und zieht den Leser damit ganz klar auf die Seite dieses unglückseligen Jungen, der so scheint es, nur ein einziges Mal einen Fehler begangen hat, der ihn nun für den Rest seines Lebens zeichnen wird.


Doch er versteht sich auch darauf, die Nebencharaktere und ihre Entscheidungen im Handlungsverlauf gekonnt einzuflechten, so dass ein rundes Bild der kleinen Gemeinde Beauval entsteht, in der sich die Menschen kennen und gewisse Ansprüche aneinander stellen. Die Handlung des Romans konzentriert sich auf zwei Zeitebenen. Zunächst die Vergangenheit, kurz nach dem Verbrechen und die Ereignisse drei Tage danach und im zweiten Teil, eine Zeit, gut 12 Jahre später, in der nicht nur der Protagonist erwachsen geworden ist, sondern auch die Menschen aus seinem Umfeld viele Jahre mit Höhen und Tiefen erlebt haben. Besonders intensiv steht dabei nicht nur die Frage nach der tatsächlichen Schuld im Raum, sondern vielmehr die Bedeutung einer scheinbar festgeschriebenen Zukunft, unwiderruflich, bitter und ohne jegliches Entkommen. Gerade Antoine, tritt hier als ein tiefgründiger Charakter auf, der sich zwar, wie wohl jeder eine unbescholtene Weste wünscht, doch überzeugt davon ist, sie längst verloren zu haben.


Damit erzeugt der Autor eine sehr vielschichtige, äußerst spannende Szenerie, die sich auf innerliche Belange ebenso konzentriert, wie auf äußere Entscheidungen. Der Leser weiß mehr als alle anderen, leidet mit Antoine und kann ihm doch nicht ganz folgen, kann nicht restlos verstehen, was ihn zu seinen Taten bewogen hat. Mein einziger Kritikpunkt besteht in dem abrupten Bruch in der Mitte des Textes, nicht nur der Zeitsprung, den man als Leser an dieser Stelle erwartet, sondern in erster Linie der Schwenk auf das Äußere hat mich gestört. Zunächst, fühlt man sich Antoine nämlich so nah, als würde man ihn schon immer kennen, während sein Leben im zweiten Teil immer blasser wird, der Mann von heute, nicht mehr die Verzweiflung von damals ausstrahlt, sich sein Leben irgendwie weiter entwickelt hat, während ich eigentlich auf den großen Knall gewartet habe. Und so verwischt der Verlauf des Lebens, der Zahn der Zeit auch ein wenig die Emotionen des Lesers. Am Ende bleibt mir Antoine fremd und ich habe nicht das Gefühl, ihn tatsächlich verstanden zu haben, was mich zugegeben etwas grämt.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen aufrüttelnden, bewegenden Roman über einen Menschen in der absoluten Ausnahmesituation. Intensive Momentaufnahmen, ergreifende Schicksale und traurige Wahrheiten inbegriffen. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen und für einen kurzen Augenblick sehr froh zu sein, anders, unbescholten und hoffnungsfroh durchs Leben gehen zu können und dennoch zu spüren, dass es ganz anders sein könnte, wenn das Schicksal einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Gespannt werde ich mich nun dem preisgekrönten Roman „Wir sehen uns dort oben“ des Autors zuwenden und auf ebenso ergreifende Lesestunden hoffen.