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Veröffentlicht am 08.12.2021

Glaubwürdige Zerrbilder der Wirklichkeit

Meeressarg (Ein Fabian-Risk-Krimi 6)
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„Vielleicht hatte er begriffen, dass das Lügengebäude unhaltbar geworden war. Dass er umso tiefer fallen würde, je länger er die Wahrheit vertuschte. Oder er hatte innerlich schon aufgegeben und wollte ...

„Vielleicht hatte er begriffen, dass das Lügengebäude unhaltbar geworden war. Dass er umso tiefer fallen würde, je länger er die Wahrheit vertuschte. Oder er hatte innerlich schon aufgegeben und wollte die Sache so schnell wie möglich beenden.“

Inhalt

Für Fabian Risk ist es eine schwere Zeit, nachdem sein Sohn in der Haftanstalt Selbstmord begangen hat und sich an einem Kabel erhängte. Schlimm genug, dass er ihn dazu gedrängt hat, seine indirekte Beteiligung an einem Verbrechen zuzugeben, nun befand sich der junge Mann anscheinend in einer derart labilen psychischen Situation, dass ihm der Freitod als einzig vernünftige Alternative erschien. Aber Risk glaubt nicht an die Todesumstände, die ihn die zuständigen Stellen als Wahrheit verkaufen wollen, denn bei der Obduktion seines Sohnes wird deutlich, dass er selbst Opfer massiver Gewaltanwendung geworden ist und dafür kann es eigentlich nur einen Schuldigen geben – Kim Sleizner, den Polizeichef von Kopenhagen und Erzfeind von Fabian Risk.

Meinung

Dies ist der sechste Band der Fabian-Risk-Reihe vom schwedischen Erfolgsautor Stefan Ahnhem, der hier den Countdown zwischen den Rivalen Risk und Sleizner auf die Spitze treibt und einen tödlichen Ausgang der Ereignisse heraufbeschwört. Bisher habe ich selbst nur einen Band der Reihe gelesen und zwei weiter stehen noch im Regal. Zugegeben, hier bekommt es dem Leser besser, wenn er sich an die chronologische Reihenfolge hält, damit sowohl Zusammenhänge als auch Charaktere besser zur Geltung kommen und die Vergangenheit nicht immer eine Art Fragezeichen bleibt, welches man sich zwar herleiten kann, aber längst nicht so gut versteht.

Der Schreibstil konnte mich zunächst sehr begeistern und das erste Drittel des Buches hätte das Prädikat „Pageturner“ verdient, weil sehr dicht und intensiv erzählt wird, eine latente Dringlichkeit spürbar ist und ganz klar zum Vorschein kommt, wer hier der Böse ist und warum man ihm nun endlich das Handwerk legen muss. Die übersichtlichen Kapitel und die Einführung diverser Protagonisten bringen Perspektivenvielfalt und einen hohen Unterhaltungswert in diesen Thriller. Aber mit jeder Seite verliert die Story etwas an Wert. Denn bereits ab der Hälfte des ca. 500 Seiten umfassenden Spannungsromans, verschwindet die psychologische Komponente des Ganzen mehr und mehr, während das Actionpotential überdurchschnittlich zunimmt. Fast hätte man meinen können in einem James-Bond-Film zu stecken und hautnah die Jagd zwischen den Guten und den Bösen verfolgen zu können. Aber da bin ich dann raus, denn ich mag weder hervorquellende Gedärme, noch Blutlachen und Schusswunden, geschweige denn tödliche Manipulation, mit reißerischen Wendungen.

Zudem hat es mich nachhaltig gestört, dass hier so viele Einzelkämpfer versuchen, irgendwie Licht ins Dunkel zu bringen und sich einfach nicht absprechen oder klare Ansagen machen – jeder kocht sein eigenes Süppchen und kommt immer nur minimal voran, zumal der Hauptverdächtige einen langen Atem, wichtige Freunde und gekaufte Loyalität auf seinem Guthabenkonto aufzuweisen hat. Die Rache des Einzelnen steht der Gewaltverherrlichung des anderen gegenüber und von „normaler“ Polizeiarbeit ist man hier wirklich meilenweit entfernt, denn ermittelt wird hier nur wenig, stattdessen spricht die Gewalt und die Selbstjustiz.

Fazit

Das werden leider nur 3 Lesesterne, obwohl ich zunächst gerne 5 vergeben hätte, aber das Potential bleibt nicht erhalten und man sollte hier definitiv ein Freund von Verfolgungsjagden, Schusswechseln, Folterszenen und rasanten Entwicklungen sein. Möglicherweise hätte mir hier tatsächlich die Verfilmung besser gefallen, weil dieser Kriminalroman so bildlich geschrieben ist, dass er durchaus an ein Drehbuch erinnert. Während ich vom dritten Band (Minus 18°) der Reihe sehr angetan war, hat mich dieses aktuelle Buch eher desillusioniert. Wahrscheinlich starte ich die Reihe noch mal von vorn (Band 1 und 2 ruhen auf dem SUB) und schaue dann einfach, ab welcher Stelle sich das Aussteigen anbietet, vielleicht ist es ja nur dieser letzte Band, der nicht mehr meinen Geschmack trifft.

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Veröffentlicht am 28.11.2021

Der weiße Tod und seine späten Opfer

FROST
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„Unterm Strich passte es ihr auch ganz gut, dass sich die Aufmerksamkeit auf den armen Mann richtete. Niemand wollte bei Mordermittlungen im Rampenlicht stehen.“

Inhalt

Helgi Reykdal arbeitet noch an ...

„Unterm Strich passte es ihr auch ganz gut, dass sich die Aufmerksamkeit auf den armen Mann richtete. Niemand wollte bei Mordermittlungen im Rampenlicht stehen.“

Inhalt

Helgi Reykdal arbeitet noch an seiner Arbeit über einen Cold-Case am alten Tuberkulose Sanatorium, bevor er als Nachfolger von Hulda in den Polizeidienst der isländischen Behörden einsteigen wird. Aus purem Interesse und einer unterschwelligen Intuition befragt er in seiner Freizeit die ehemaligen Arbeitskräfte der Heilanstalt, an was sie sich noch erinnern und ob die Ermittlungen vor fast 30 Jahren ordentlich zum Abschluss gebracht wurden.

Die Befragten sind mittlerweile alle entsprechend betagt und erinnern sich dennoch sehr genau an die mörderischen Ereignisse. Eine junge Schwester namens Tinna, hatte 1983 beide Mordopfer gefunden und lebt mittlerweile zurückgezogen mit ihrem Mann, dem ehemaligen Ermittlungsleiter zusammen in der Großstadt. Helgi wird stutzig, weil sich das Ehepaar jede Kontaktaufnahme mit ihm verbittet – und der Fall damals mit Mord und anschließendem Selbstmord zu den Akten gelegt wurde, möglicherweise verbirgt sich hinter der Mauer des Schweigens doch eine brauchbare Information für die Aufklärung des Verbrechens …

Meinung

Nachdem ich zu Beginn des Jahres kurz hintereinander die Fälle der Hulda-Hermannsdóttir-Trilogie des isländischen Autors Ragnar Jónasson kennengelernt habe, war ich natürlich sehr gespannt, auf seinen neuen Thriller, der sowohl optisch als auch inhaltlich angenehme Erinnerungen an bereits Gelesenes weckt.

Zunächst einmal bin ich großer Fan von Mordermittlungen, die sich auf Grund eines Cold-Cases ergeben, gerade weil dort neue Spuren in der Gegenwart zu alten Verbrechen führen und Dinge ans Tageslicht kommen, die man schon längst nicht mehr vermutet hätte. Auch der Schauplatz des Geschehens in einem alten Sanatorium, welches selbst eine dunkle Vergangenheit hat, konnte mich überzeugen und sofort fesseln.

Für einen Thriller ist mir dieses Buch etwas zu blutarm, dafür empfinde ich es als gelungenen Spannungsroman, der zwar keinerlei mystische Elemente aufweist aber sehr verlassene Schauplätze, seltsame, rätselhafte Zusammenhänge und Menschen, die alle irgendetwas zu verbergen scheinen. Es entsteht beim Lesen eine ganz eigene Szenerie mit zahlreichen Nebeninformationen und Begebenheiten, deren Verbindung man immer knapp unter der Oberfläche vermutet. Dadurch konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen und hoffe stark auf weitere Fälle des neuen Ermittlers, die nicht so lange auf sich warten lassen.

Einzig das schwierige Privatleben von Helgi und seiner Frau war ein für mich unrelevanter Handlungsstrang, auf den ich hätte verzichten können, wobei er möglicherweise der Ausgangspunkt für den Verlauf der Reihe sein wird, und damit spätere Berechtigung erfährt, da lasse ich mich gern überraschen.

Fazit

Ein sehr kurzweiliger, dunkler Spannungsroman mit einem engagierten, konsequenten Ermittler, der nicht nur Fan von alten Kriminalromanen ist, sondern zielgerichtet seinen Dienst bei der Polizei antritt. Die nordisch-kühle Atmosphäre und das ungelöste Rätsel der Vergangenheit konnten mich auf ganzer Linie überzeugen. Empfehlenswert für alle, die es eher unblutig mögen und dafür Wert auf die Motivation des Täters legen.

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Veröffentlicht am 17.11.2021

Was bleibt ist die Erinnerung

Was bleibt, wenn wir sterben
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„Man kann nicht um die Trauer herumgehen, man kann nur mit ihr oder durch sie hindurchgehen.“

Inhalt

Louise Brown war Journalistin, bevor sie durch den Tod ihrer Eltern in kurzer Folge zu ihrer Passion ...

„Man kann nicht um die Trauer herumgehen, man kann nur mit ihr oder durch sie hindurchgehen.“

Inhalt

Louise Brown war Journalistin, bevor sie durch den Tod ihrer Eltern in kurzer Folge zu ihrer Passion als Trauerrednerin fand und nun für andere Trauernde die Abschiedsreden schreibt und hält. In diesem Buch verarbeitet sie nun ihre vielfältigen Erfahrungen, die sie durch Gespräche, Gedanken und eigenes Erleben gesammelt hat und teilt sie mit dem geneigten Leser.

Meinung

Die Thematik des Sterbens, Trauerns und Abschiednehmens spricht mich persönlich immer sehr an, ich habe schon zahlreiche Bücher aus dieser Kategorie gelesen, egal ob es sich dabei um Romane handelt oder wie hier, um ein eher objektives Sachbuch. Auf gut 200 Seiten beschreibt die Autorin hier einerseits sehr persönliche Gefühle und Alltäglichkeiten, die sie im Zusammenhang mit ihrer eigenen Trauerbewältigung erlebt hat und gibt andererseits durch kurze Episoden aus dem Leben der Menschen, für die sie die Trauerrede geschrieben hat, einige allgemeingültige Aussagen und Erkenntnisse wieder.

Dieses Buch weckt eher das Verständnis für die Trauernden und deren kleine Wünsche während des schmerzlichen Prozesses der Trauerverarbeitung, welcher mit der Beerdigung längst nicht abgeschlossen ist, selbst wenn dieser Höhepunkt einen ersten Meilenstein auf dem letzten Weg manifestiert. Zwischen den Zeilen überwiegt eindeutig die Zuversicht und das Verständnis dafür, dass jeder Mensch anders trauert und unterschiedlich lange braucht, bis er wieder auf dem eigenen Lebensweg ist und beginnt weiterzuleben, selbst wenn es diesmal kein Neuanfang im herkömmlichen Sinne ist, sondern vielleicht nur eine Lebensbiegung, die man gezwungen ist, zu nehmen.

Dadurch das dieser Ratgeber in viele kleine Kapitel unterteilt ist, kann man ihn auch gut stückchenweise lesen oder in einer beliebigen Reihenfolge. Jeder Abschnitt regt zu eigenen Gedankengängen an und eröffnet die Möglichkeit, sich vielleicht schon zu Lebzeiten mit dem eigenen Lebensende reflektierend auseinanderzusetzen und bestimmte Wünsche oder Abneigungen zu formulieren. Sehr interessant fand ich z.B. den Vergleich mit der Geburt, die oftmals geplant, ja gefeiert wird und bei der die werdenden Eltern nur wenig dem Zufall überlassen möchten, während kaum einer sich bewusst Gedanken darüber macht, welche Worte auf der Beerdigung gesprochen werden sollen und an was sich die Trauergemeinde symbolisch erinnern soll. Louise Brown plädiert dafür, dass man sich mit dem Tod und dem Sterben ebenso offen und frei beschäftigen soll und darf, weil der Gesprächsbedarf unendlich groß ist und nur selten als Thematik unter den Lebenden gepflegt wird.

Ein weiterer großer Meilenstein der Lektüre ist die unabdingbare Akzeptanz der Endlichkeit des Lebens, die immer dann besonders belastend empfunden wird, wenn man enge Bindungen aufgebaut hat, wenn man geliebt hat und geliebt wurde, denn nur diese Nähe macht auch den Verlust so schwer erträglich. Andererseits sind es aber auch jene Bindungen, die uns menschlich ausmachen und ein Verzicht auf ein Leben in Liebe würde letztlich eher ein Armutszeugnis sein.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für ein gut aufbereitetes Buch, welches man immer mal wieder zur Hand nehmen kann, welches Denkanstöße bietet und im Trauerfall auch Mut zuspricht. Plädiert wird hier für einen ehrlichen, offenen Umgang mit der Trauer, die ganz verschiedene Gesichter haben kann. Etwas gefehlt hat mir nur die Emotionalität, was aber daran liegen mag, dass es sich um ein Sachbuch handelt, welches eher beratende/unterstützende Funktion haben soll. Ein eigenes Erleben ist unabdingbar und soll hier nicht näher besprochen werden. Dennoch spreche ich dem Buch einen gewissen Mehrwert zu, es begegnet dem Leser mit einer entspannten Präsenz, mit kleinen Anekdoten und schönen Worten – also definitiv eine Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 16.11.2021

Die Wunderwelt seiner Geschichten

Am Ende bleiben die Zedern
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„Du kannst nach weiteren Straßen suchen, und ich bin sicher, du wirst sie finden. Du kannst diese Straßen sogar entlanggehen. Aber immer, wenn du an ihr Ende kommst, wirst du merken: Du stehst wieder an ...

„Du kannst nach weiteren Straßen suchen, und ich bin sicher, du wirst sie finden. Du kannst diese Straßen sogar entlanggehen. Aber immer, wenn du an ihr Ende kommst, wirst du merken: Du stehst wieder an derselben Kreuzung, von der aus du gestartet bist.“

Inhalt

Als Samir gerade einmal 8 Jahre alt ist, verschwindet sein Vater spurlos. Aber was treibt ihn von seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern fort, wo ihm doch erfolgreich die Flucht aus dem Bürgerkrieg im Libanon gelungen ist? Samir ist der festen Überzeugung, dass sein Vater wiederkommt, auch wenn er aus freien Stücken gegangen ist und seither keinerlei Kontakt pflegt. Die Spurensuche nach seinem geliebten Geschichtenerzähler, mit dem ihm so viel verbunden hat, wird für Samir zur Passion, er kann einfach nicht loslassen und verpasst derweil sein Leben in der Gegenwart, wenn es ihm nicht endlich gelingt mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen. Mit fast 30 Jahren begibt er sich erstmals in den Libanon, mit der Hoffnung dort endlich Antworten auf seine drängendsten Fragen zu finden und vielleicht gelingt es ihm ja doch, jenen Entschwundenen aufzuspüren, den er schon so lange und intensiv sucht.

Meinung

Dieser Roman hat tatsächlich schon 6 lange Jahre in meinem Regal geschlummert, bevor ich es nun geschafft habe, ihn zu lesen. Damals habe ich ihn mir auf Grund zahlreicher positiver Leserstimmen zugelegt und ihn dann doch immer mehr aus den Augen verloren. Die Kombination aus einer berührenden Familiengeschichte und dem dramatischen Schicksal des Nahen Ostens, wie es der Klappentext verspricht, klangen sehr vielversprechend, weil ich es mag, literarisch den Spuren einer Geschichte zu folgen und mich mit Menschen zu identifizieren oder ihre Hintergründe kennenzulernen. Nur leider, war meine Erwartungshaltung an diese Story eindeutig zu hoch.

Sprachlich liest sich der Text angenehm, hegt aber keine besonderen Ansprüche, was auch daran liegen mag, dass im ersten Drittel des Buches ein Achtjähriger der Erzähler ist. Doch auch auf den folgenden Seiten bleibt der Anspruch, welchen ich hatte, auf der Strecke. Generell zwar eine interessante Geschichte, die hier aber mehr und mehr ihren Reiz verliert.

Meine Kritikpunkte beziehen sich im Wesentlichen auf den gewählten Fokus, der ganz tief in die Seele eines Betroffenen eindringt, um seine Handlungen deutlich zu machen und alle Beweggründe offenzulegen. Zunächst sind es nur grobe Pinselstriche, die geführt werden, doch dann bekommt der Leser die Scheuklappen aufgesetzt und muss sich fast zwanghaft in die Suche nach dem Vater ergeben, denn mehr Handlungsspielraum bleibt ihm nicht.

Ich habe eindeutig eine zweite Perspektive vermisst, gerade weil sich der Erzähler so zum Träumer mausert und fanatisch seinen verpassten Chancen nachtrauert – so wenig Entwicklungspotential für einen jungen Menschen, dass erscheint mir etwas weltfremd, zumal ich selbst in diesem Alter meinen Vater verloren habe, doch da war meine Gedankenwelt mit 30 Jahren eine ganz andere.

Der Text wird immer pathetischer und hat mich irgendwann verloren, da hilft es dann leider auch nicht, wenn man sehr gute Einblicke in die politische Situation der damaligen Zeit bekommt und gut nachvollziehen kann, welche Alternativen den betroffenen Familien eigentlich blieben.

Fazit

Leider werden es hier nur 3 Lesesterne für eine durchaus lesenswerte Geschichte, die aber um die Hälfte des Textes hätte gekürzt werden können, weil sich die Gedanken immer nur um ein und dieselbe Sache drehen.

Menschlich betrachtet konnte mich die dominante Erzählfigur nicht überzeugen und sie nimmt der Hintergrundgeschichte ihren Reiz, weil die Gegenwart in Anbetracht der traurigen Vergangenheit nur wenig Augenmerk erhält. Samir trauert seinem Vater hinterher, dessen einfühlsamen Geschichten, die wie er später herausfindet, nicht nur der Phantasie des Erzählers entspringen.

Er setzt sich intensiv mit den Begriffen Heimat und Identität auseinander und verfehlt doch eine konkrete Aussage. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, der Protagonist möchte Mitleid beim Leser erwecken, doch damit kann dieser Roman nicht wirklich bei mir punkten.

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Veröffentlicht am 05.11.2021

In meinem Leben, wie es hätte sein sollen

Kleine Paläste
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„Susanne sah ihn nicht mehr an, sprach kein Wort mehr mit ihm. Die halbe Stunde blieb ihm ein Rätsel. Ein ganzer Mensch schien darin verschwunden zu sein, eine Zeitspalte, in die Susanne durch seine Schuld ...

„Susanne sah ihn nicht mehr an, sprach kein Wort mehr mit ihm. Die halbe Stunde blieb ihm ein Rätsel. Ein ganzer Mensch schien darin verschwunden zu sein, eine Zeitspalte, in die Susanne durch seine Schuld gestürzt war, durch irgendetwas, was er getan oder nicht getan hatte.“

Inhalt

Susanne Dreyer hat geduldig gewartet, bis in ihrem Nachbarhaus endlich jener Zustand eintritt, bei dem sie in Erscheinung treten kann, nachdem sie im Sommer 1986 der Familie von außen gesehen den Rücken gekehrt hat, während sie innerlich nie Abstand nehmen konnte. Jetzt ist Sylvia Holtz, ihre Nachbarin, die Frau von Carl gestorben und deren einziger Sohn Hanno kehrt zurück, um sich um den im Rollstuhl sitzenden Vater, der mittlerweile an Demenz leidet zu kümmern. Und Susanne ist da, wie all die Jahre zuvor, als ihr Leben an einem Sommerabend eine alles verändernde Wendung genommen hat, die sie bis heute dazu veranlasst, die Familie Holtz durchs Fenster heimlich zu beobachten. Aber Hanno ist einfach nur froh, dass Susanne ihm nun ihre Hilfe anbietet, nicht ahnend, dass sie eine ganz persönliche Rechnung begleichen möchte …

Meinung

Von diesem Buch bin ich tatsächlich schwer begeistert, nicht nur wegen der Story an sich, die so ganz alltäglich und nebensächlich wirkt, aber bereits auf den ersten Seiten eine immense Dichte und Intensität erreicht. Eigentlich überzeugt mich hier das Gesamtpaket, angefangen bei einem leichten, prägnanten Schreibstil, der mehr beobachtend und distanziert wirkt und dennoch jedwede Gefühlsregung vermitteln kann, über die sich langsam entfaltende Geschichte mit ihren deutlichen Prämissen und klaren Strukturen, bis hin zu einer höchst feinfühligen Persepektivenvielfalt, die selbst Stimmen aus dem Jenseits aktiviert. Äußerst selten kann mich ein Buch so dermaßen in seinen Bann ziehen, dass ich es immer weiterlesen möchte, insbesondere wenn es sich um eine Erzählung der Gegenwartsliteratur handelt, die eine so greifbare, realistische Handlung vorzuweisen hat, die rein theoretisch genau so hätte stattfinden können.

In Erinnerung bleibt nicht nur die Anfangsszene, in der ein Hund zum Mörder wird, sondern auch die schleichende Beklemmung, die sich mit jeder Seite weiter manifestiert und so genau nicht in Worte zu fassen ist. Die Thematiken des Buches sind tatsächlich sehr umfassend, fast schon willkürlich gewählt und folgen keinem bestimmten Ablauf, so dass die Spannung irgendwo zwischen den Zeilen feststeckt und man gezwungen ist, dort weiterzustochern, wo man die Leichen im Keller vermutet. Sehr hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Stimmen aus der Vergangenheit, die immer wieder kleine Episoden in ein anderes Licht tauchen und die Zusammenhänge umso deutlicher hervorheben.

Fazit

Für mich ein absolutes Jahreshighlight, dem ich begeisterte 5 Lesesterne gebe. So genau kann ich meine Faszination gar nicht beschreiben, denn allein die literarische Umsetzung und der Schreibstil sind zwar top aber durchaus nicht so ungewöhnlich.

Auch die Handlung hat keinen wahnsinnigen Reiz, verliert sie sich doch zwischen zwei Einfamilienhäusern, deren Bewohnern und einer langen, langen Zeit.

Und dennoch ist es der rote Faden, dem ich hier nur zu gern um jede Ecke gefolgt bin, mit genau der richtigen Distanz zwischen den Protagonisten und dem Leser, mit dem Zeigefinger auf der Wunde, die immer noch schmerzt, bis zum bitteren Ende. Ein Roman der bei mir sehr lange nachhallt und dem ich viele Leser wünsche, denen es nicht vordergründig um eine spektakuläre Story geht, sondern um die leisen Zwischentöne, bei denen die Melodie aus Vergangenheit, Gegenwart, Schuld und Vergebung zu einem Ohrwurm wird.

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