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Veröffentlicht am 30.12.2017

Die Grenze zwischen Turbulenz und Ordnung

Schloss aus Glas
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„ Unsere Fahrten mit Elvis erinnerten mich daran, wie leicht es war, einfach seine Sachen zu packen und weiterzuziehen, wenn man den Drang dazu verspürte. Sobald man fest dazu entschlossen war, zu gehen, ...

„ Unsere Fahrten mit Elvis erinnerten mich daran, wie leicht es war, einfach seine Sachen zu packen und weiterzuziehen, wenn man den Drang dazu verspürte. Sobald man fest dazu entschlossen war, zu gehen, war wirklich nichts dabei.“


Inhalt


Die Familie Walls lebt ziemlich bewusst ein Vagabundenleben und zieht mit ihren vier Kindern und einer motorisierten Schrottkiste quer durch Amerika. Der Vater Rex ist nicht nur ein eingefleischter Alkoholiker, sondern auch ein ambitionierter Träumer, denn er verspricht seinen Kindern, sobald er mit dem selbst gebauten Goldsucher erfolgreich war, hätten sie soviel Geld, dass er für die Familie mitten in der sonnigen Wüste ein Schloss aus Glas bauen könnte, in dem sie dann friedlich leben werden. Die Mutter lebt für ihre Kunst und malt, dichtet und schreibt den lieben langen Tag. Sie tapeziert die Wände mit Bildern und taucht mehrere Stunden am Tag in ihre eigene Welt ab. Nur die 4 Kinder überlegen tagaus, tagein, wovon sie leben können, was sie essen sollen, wie sie die Miete bezahlen können. Mit Gelegenheitsjobs hält sich Familie Walls gerade so über Wasser, doch immer nur ein paar Wochen, dann ist das Geld wieder verspielt oder versoffen … Und was die Eltern kaum oder nur unwesentlich stört wird für Jeannette und ihre Geschwister zur Bürde: Wann wird es ihnen gelingen aus ihrem Zuhause, was es genau genommen gar nicht gibt, auszubrechen?


Meinung



Prinzipiell habe ich mit autobiografischen Romanen keine große Erfahrung, weil mich das Leben und Wirken echter, aber mir unbekannter Menschen nicht direkt am Herzen liegt, zwar beanspruchen Biografien oftmals einen hohen Informationswert und eröffnen neue Perspektiven, dennoch habe ich eher durch Zufall und Lesertipps zu diesem Buch gegriffen. Doch diese Erzählung konnte mich definitiv packen, denn mal abgesehen von dem autobiografischen Hintergrund trifft man hier auf Menschen, die sich irgendwie und täglich aufs Neue durchs Leben kämpfen müssen und dennoch immer einen Weg finden obenauf zu bleiben.


Jeannette, selbst die Zweitgeborene schildert dem Leser sehr realistisch und erschreckend zugleich die Erlebnisse ihrer frühen Kindheit, bis hinein in ihr Erwachsenenleben. Als Lieblingstochter ihres Vaters beschreibt sie die Höhen und Tiefen des Alltags in einer Familie mit leeren Schränken, fehlenden finanziellen Mitteln und weitreichenden Sehnsüchten. Sie kann natürlich, weil aus erster Hand erlebt, sehr differenziert und nachhaltig die Charaktere ihres Romans zum Leben erwecken. Und so heben sich die Eltern ganz deutlich von den Kindern ab, die älteren Geschwister distanzieren sich viel schneller vom elterlichen Lebensstil, während die jüngeren einfach erfinderisch die Lücke im System suchen. Sie zeigt aber auch die zwiespältigen Gefühle ihrer Eltern, die eine freie, selbstbestimmte Erziehung favoritisieren und sich lieber um die Bildung als ums Essen kümmern, die irgendwie gefangen in sich selbst und andererseits doch so ungebunden wie nur denkbar leben. Auch das Geflecht der handelnden Personen untereinander wirkt sehr dicht und zeugt von Zusammenhalt und Stärke. Denn selbst als ungeliebte, ungern gesehene Außenseiter stehen die Mitglieder der Familie geschlossen beieinander und nehmen sich gegenseitig in Schutz.



Über die Jahre hinweg begleitet der Leser die Ereignisse, sieht die Entwicklung der Familie und muss feststellen, dass die Eltern eine ungewisse Turbulenz immer der gleichbleibenden Routine vorziehen. Dort, wo sie sesshaft werden, geht es ihnen schlechter als auf den langen Reisen durchs Land. Im Gegensatz dazu versuchen die Kinder jede Bruchbude, in der sie hausen zu verschönern, die Dächer zu reparieren und die Wände zu streichen und irgendwie an Essen zu gelangen. Der Traum, von dem der Vater seinen Kindern erzählt, rückt in immer weitere Ferne und Jeannette hakt das „Schloss aus Glas“ bald als Hirngespinst ab und versucht sich auf die tatsächlichen Möglichkeiten des Lebens zu besinnen. Und so erziehen Eltern Kinder, denen größter Wunsch es wird, ihrer Familie den Rücken zu kehren, um ein anderes, sorgenfreieres Leben zu führen.



Die große Stärke des Romans liegt an der Intensität der aufgegriffenen Beziehungen, an Begriffen wie Zuneigung, Liebe, Gemeinsamkeit aber auch generell an Dramatik, Enttäuschung und Rissen in der Gefühlswelt zwischen Eltern und Kindern. Stets hat der Leser das Gefühl, all die Einschränkungen und fehlenden Gesetzmäßigkeiten sind für die Kinder durchaus zumutbar. Denn anders als man es vielleicht von einer assozialen Bettlerfamilie erwartet, bekommt hier jeder Zuspruch, gibt es die kleinen alles wieder gutmachenden Gesten, gibt es Hoffnung und Perspektiven, die sich Kinder in jungen Jahren noch nicht vorstellen können und doch so nötig haben. Und so kann man das Elternpaar zwar nicht wirklich verstehen, doch man nimmt ihnen ihr Handeln auch nicht so übel.


Fazit



Ich vergebe 5 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diesen ungewöhnlichen, bewegenden Roman über die Kindheit, das Erwachsenwerden und die Möglichkeiten Einzelner sich aus misslichen Situationen durch puren Überlebenswillen zu befreien. Dieses Buch hallt lange nach und stimmt nachdenklich, zeigt differenzierte Lebensmodelle und ganz unterschiedliche Empfindungen von Glück. Allen voran stellt es aber die unausgesprochene, einfach vorhandene und unbesiegbare Liebe zwischen den Mitgliedern einer Familie ins Zentrum der Erzählung, die ihr Alltag derart zusammengeschweißt hat, dass sie Jahrzehnte später immer noch von gemeinsamen Erlebnissen, bitteren Erfahrungen und lustigen Anekdoten schwärmen. Berührend, anders, chaotisch und mit viel Lebensweisheit gespickt präsentiert uns hier Jeannette Walls die Wahrheiten ihrer Familie.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Mein Sommer, mein Freund, meine Berge

Acht Berge
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„Denn ein Ort bewahrt immer auch die eigene Geschichte, damit man sie bei jedem Besuch aufs Neue Revue passieren lassen kann. Und solche Berge kann es nur einmal im Leben geben. Im Vergleich dazu sind ...

„Denn ein Ort bewahrt immer auch die eigene Geschichte, damit man sie bei jedem Besuch aufs Neue Revue passieren lassen kann. Und solche Berge kann es nur einmal im Leben geben. Im Vergleich dazu sind alle anderen bedeutungslos, sogar der Himalaja.“


Inhalt



Pietro und Bruno lernen sich als Heranwachsende in den Alpen kennen, während der erste jedes Jahr mit seinen Eltern den Sommer in den Bergen und die restlichen Jahreszeiten in der Stadt verbringt, lebt Zweiterer immer dort und wächst als Sohn eines Bergbauern auf. Gemeinsam erkunden sie die Natur, unternehmen Ausflüge auf die Berge und teilen Geheimnisse. Bruno ist unschlagbar, was die Ortskenntnis und das Verhalten der Natur betrifft und Pietro hat immer wieder neue Ideen, so dass ihre Freundschaft, wenn auch zeitlich begrenzt jedes Jahr in eine neue Spielzeit wechselt und nicht abbricht. Doch Pietro beginnt ein Studium, zieht nach Turin, lebt in Mailand und führt als junger Mann ein allzu städtisches Leben, während Bruno eine klassische Maurerausbildung absolviert und seine Heimat nicht verlässt. Als Pietros Vater stirbt und ihm eine Schutzhütte in den Bergen von Grana vermacht, finden die beiden erneut zueinander. Denn Pietro möchte die Hütte gerne bewohnbar machen und Bruno weiß, wie das geht. Noch einmal verbringen sie viel Zeit gemeinsam und müssen doch erkennen, dass jeder ein eigenes Leben hat und ganz andere Ansprüche an die Menschen stellt …


Meinung



Dieses Buch prägt nicht nur ein ganz besonders stimmungsvolles Coverbild und ein interessanter Titel sondern es verspricht auch eine Antwort auf eine philosophische Lebensfrage: Ist es besser dort zu bleiben, wo man alles kennt oder liegt der größte Nutzen darin, sich ins Ungewisse zu wagen und Neuland zu erschließen. Der Leser begegnet in diesem italienischen Bestsellerroman, der sich allein in seinem Heimatland mehr als 70.000 mal verkauft hat zwei Freunden, die versuchen einen richtigen Weg zu finden, jeder für sich erkennt, was ihn ausmacht und muss gleichzeitig Abschied nehmen, von dem was er nicht vermag, obwohl ein Gefühl der Unzulänglichkeit dadurch bestehen bleibt.


Sehr positiv aufgefallen ist mir das ausführliche Vorwort zum Roman, in dem man nicht nur ein Interview mit dem Autor präsentiert bekommt, sondern auch erfährt, wie viel Wahrheitsgehalt in der folgenden Erzählung steckt und welche Handlungsschwerpunkte gesetzt werden. Eine wirklich gelungene Einführung in die Thematik Mensch und Natur, Selbstfindung und Abgrenzung, Gemeinschaft und Alleinsein.


Der Autor arbeitet intensiv an seinen beiden Hauptcharakteren, er beschränkt sich nicht nur auf die Schilderung ihrer jeweiligen Lebensumstände, sondern grenzt sie deutlich voneinander ab. Er beschwört eine Männerfreundschaft herauf, die kontinuierlich gewachsen ist und auch von Rückschlägen nicht außer Kraft gesetzt wird. Trotzdem legt er besonderes Augenmerk auf die Entwicklung des Individuums, zeigt wie Herzen, die einst im gleichen Takt geschlagen haben, nun eher holprig nebeneinander schlagen. Werte wie Lebenserfahrung, persönliche Einsichten, differenzierte Wahrnehmung nehmen einen immer größeren Stellenwert ein, so dass der Leser zwei sehr unterschiedliche Männer vorfindet, die zwar eine gemeinsame Vergangenheit haben, denen es aber nur mäßig gut gelingt, ihre Unvoreingenommenheit aus jungen Jahren in ihre Gemeinschaft der Gegenwart mitzunehmen.


Es ist ein Buch der leisen Töne, unaufgeregt und beständig, mit wenig Spannung und seltenen Highlights. Damit fügt sich die Erzählung fast unsichtbar in die heraufbeschworene Bergwelt ein, eine Natur voller schroffer Felsen, endloser Schneefelder und saftiger Wiesen. Unantastbar, majestätisch und über alles Irdische erhaben. Menschen werden wieder klein im Angesicht der Bergwelt und sind nur winzige Rädchen im großen Getriebe. Und so wie sich der Bergbach über die Jahre verändert, tun es auch die Menschen – manchmal mit Getöse, meist jedoch im Vorbeigehen ohne genau sagen zu können, warum derjenige genau an dieser Stelle in ebenjene Richtung gegangen ist.


Kritikpunkt


Was mir an diesem naturinspirierten Roman gefehlt hat, waren eindeutig die Emotionen, das Zwischenmenschliche, die Gespräche, die Nähe mittels Worten. Dadurch, dass man die Charaktere nur in ihren Handlungen beobachten kann, war es mir nicht möglich eine echte Bindung zu ihnen aufzubauen. Zu vieles bleibt ungesagt, weil es nie angesprochen wurde. Es gibt kaum Streit, keine Versöhnung, keine Aufregung, kein echtes Gefühl zwischen den Protagonisten. Meist schweigen sie sich an und versuchen durch ihre Handlungen etwas auszudrücken. In der Realität mag das vielleicht funktionieren, doch in einem Roman, der sich mit Freundschaft auseinandersetzt, war es mir eindeutig zu wenig.


Paolo Cognetti schafft es dennoch einen aussagekräftigen Roman zu schreiben, der einfach und beständig daherkommt und viele Werte aufnimmt, sie aus diversen Perspektiven betrachtet und ein abschließendes Urteil fällt. Mit diesem Buch schließt sich ein Kreis, zeigt sich der Lauf des Lebens, die verschlungenen Pfade der Menschen und die Unabänderlichkeit des Einzelnen. Man kann sich anpassen, sich verbiegen oder ausbrechen, kann suchen oder akzeptieren, kann neugierig bleiben oder in sich ruhen – man wird einander nicht ändern, auch wenn das bedeutet sich irgendwann fremder zu werden und allein weiterzugehen, wenn eine allumfassende Gemeinsamkeit nicht mehr möglich scheint.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen ruhigen, naturverbundenen Roman, in dem Menschen agieren, deren Liebe zur Bergwelt ganz elementar und umfassend ist und die sich in Hochgebirgen bewegen wie die dort lebenden Zeitgenossen – einsam, schweigsam, zufrieden, genügsam und auf dem Sprung, immer auf der Suche nach einem guten Versteck vor sich selbst und der Kraft der Natur. Wenn man mit etwas weniger Zwischenmenschlichkeit leben kann und sich in eine Szenerie hineinversetzen möchte, ist dieses Buch sehr empfehlenswert, wer mehr Gefühlsnähe sucht, könnte etwas enttäuscht werden.



Veröffentlicht am 15.12.2017

Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell

Dominotod (Ein Nathalie-Svensson-Krimi 2)
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„Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell – das war eine Gleichung, die nie aufgehen würde. Einsparungsberater, Sparpakete und verantwortungslose Politiker. Er biss sich die Lippen blutig und trampelte mit ...

„Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell – das war eine Gleichung, die nie aufgehen würde. Einsparungsberater, Sparpakete und verantwortungslose Politiker. Er biss sich die Lippen blutig und trampelte mit den Füßen im Benzin herum.“


Inhalt


Nathalie Svensson wird als Beraterin in einem heiklen Mordfall hinzugezogen, ein Arzt musste sterben und ein weiterer wurde entführt. Die schwedische Polizei vertraut der Kompetenz ihrer psychologischen Ausbildung, auch wenn in diesem Fall die Schwester der Psychiaterin als angestellte Krankenschwester direkt involviert ist. Nathalie ist der Ansicht, dass der Mörder etwas Bestimmtes mitteilen möchte und die Dominosteine, die in den Leichen gefunden wurden, sind wichtige Spuren innerhalb der Ermittlung. Das Polizeiteam arbeitet auf Hochtouren, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bevor das Entführungsopfer ebenfalls zum Mordopfer wird. Doch alle Spuren, die nach und nach auftauchen führen direkt zum abgelegenen Hof von Estelle Ekman und ihrem Mann und Nathalie ist sich überhaupt nicht mehr sicher, was ihre Schwester möglicherweise zu verbergen hat, vor allem weil sie für die Morde durchaus ein Motiv hätte und für die Tatzeit kein plausibles Alibi vorweisen kann …


Meinung


„Dominotod“ ist der zweite Band aus der Krimireihe um die Psychiaterin Nathalie Svensson. Und obwohl ich den ersten Band „So tödlich nah“ nicht kenne, fehlte mir nur selten das Vorwissen, so dass daraus kein Nachteil entstand. Erwartet habe ich einen spannenden Fall, wie man ihn in zahlreichen schwedischen Spannungsromanen geboten bekommt, doch leider konnte mich der Autor mit seinem Zweitwerk nicht so recht fesseln.


Zunächst einmal steht die Ermittlungsarbeit der Polizei, das mühsame Suchen der Puzzleteile, die akribische Verfolgung jeder noch so kleinen Spur und die ständigen Enttäuschungen im Laufe der Ermittlungen im Zentrum des Geschehens. Dadurch bekommt der Leser zwar ein ausgesprochen gutes Gespür für die Polizeiarbeit, aber nur wenig Einzelheiten aus dem Fall geboten. Tatsächlich kamen mir sowohl die Umstände als auch die Personen sehr austauschbar vor. In sehr wenigen kurzen Episoden lässt Jonas Moström den Täter zu Wort kommen und genau diese Passagen haben mir wesentlich besser gefallen, weil sie Hintergründe und Motive klarer erscheinen lassen. Vermisst habe ich auch eine aussagekräftige Psychiaterin, die dem Fall mehr Würze verleiht und die Suche nach dem Mörder vorantreibt. Doch auch da bleiben Lücken, denn der Autor zieht es vor, das private Umfeld und die Schwierigkeiten der beiden Schwestern zu fokussieren. So konnte ich weder zu Nathalie noch zu Estelle eine echte Beziehung aufbauen, denn für den Kriminalfall erscheint mir das Verwandtschaftsverhältnis der beiden sehr irrelevant und wirkt eher als schmückendes Beiwerk.


Positiv beurteile ich die logische Abfolge und eine gewisse Realitätsnähe in Bezug auf den Täter und die Zusammenhänge zwischen dem Mord und einer gesellschaftlichen Kritik. Als Leser erscheint die Aufklärung stimmig, die Beteiligten sind nicht wirklich psychisch krank, keine Extremisten, die wahllos nach Opfern Ausschau halten und so schließt sich der Kreis und die Frage, warum gerade Dominosteine als probates Kommunikationsmittel gewählt wurden. Vermisst habe ich dennoch eine ganze Menge, so dass ich den ersten Band nicht zwingend nachholen möchte.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen soliden, klassischen Kriminalroman, der sich mit Ermittlungsdetails auseinandersetzt und gleichzeitig Gesellschaftskritik und persönliche Schicksale miteinander verbindet. Das Buch liest sich gut und hält das Niveau bis zum Schluss, doch weder die Protagonisten noch die Atmosphäre konnte mich überzeugen, so dass ich mich hier mit einem eher durchschnittlichen Roman auseinandergesetzt habe, der mich nicht wirklich bewegen und fesseln konnte. Irgendwie schade, denn gerade die Leseprobe hat mich neugierig gemacht und durchaus höhere Erwartungen aufkommen lassen.

Veröffentlicht am 13.12.2017

Ein Leben in der sprachlichen Dunkelkammer

Kirchberg
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„Hier hat er sich auf die Suche begeben, nach Klarheit, nach Heimat, nach sich selbst. Nichts davon hat er final gefunden, dieses Leben, diese Welt sind einfach nicht klarzukriegen. Jedes Land, jede der ...

„Hier hat er sich auf die Suche begeben, nach Klarheit, nach Heimat, nach sich selbst. Nichts davon hat er final gefunden, dieses Leben, diese Welt sind einfach nicht klarzukriegen. Jedes Land, jede der beiden Städte kehrt andere Facetten in ihm hervor, und es bleibt das Bedauern, dass sie ihn jenseits des Kirchbergs kaum kannte.“


Inhalt


Hanna kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit, in das Haus in dem sie jahrelang mit ihren Großeltern gelebt hat, nachdem ihre Mutter sie nicht haben wollte und sich aus der Erziehung ausgeklinkt hat. Doch beide Großeltern sind verstorben und Hanna ist nicht mehr die offene, interessierte junge Frau, die sie noch vor wenigen Monaten war. Ein Schlaganfall hat ihr nicht nur die Sprache geraubt und den Sinn für komplexe Zusammenhänge, sondern drängt sie immer weiter aus dem Leben. Das Haus auf dem Kirchberg soll ihre Zufluchtsstätte werden, ein Ort der Einsamkeit und inneren Abkehr, ein Platz an dem sie nichts mehr muss und nichts mehr soll, nur noch ein bisschen leben, vor sich hin träumen und die Tage in aller Langsamkeit verbringen. Für ihren Jugendfreund Patrizio, ist klar, das er Hanna zur Seite stehen wird und sie unterstützt, auch wenn die Zeit für eine echte Liebesbeziehung nun vergangen ist, auch wenn er die Vergangenheit nicht mehr ändern und die Zukunft mit ihr nicht mehr gestalten kann, so bleiben ihm doch wenige glückliche Momente an der Seite einer Frau, der das Schicksal den Boden unter den Füßen weggerissen hat …


Meinung


„Verena Boos erzählt groß von einer kleinen Welt, von der unseren.“ Das verspricht der Klappentext und diesem Urteil kann ich mich voll und ganz anschließen. Es ist diese Echtheit und Realitätsnahe, die „Kirchberg“ zu einem bewegenden, eindrucksvollen Roman über das ganz normale Leben macht, über die Wendungen des Schicksals, die Menschen in unserer Nähe, die Verfehlungen im zwischenmenschlichen Bereich und die Bedeutsamkeit geliebter Menschen für den Verlauf des eigenen Lebens. Die junge Autorin die bereits mit ihrem Debütroman „Blutorangen“ bekannt geworden ist, fängt hier nichts anderes als den Alltag einer jungen, von einer Krankheit gezeichneten Frau ein, die große Pläne hatte, innige Gefühle hegte und nicht mit dem Ende ihrer Selbstständigkeit in so jungen Jahren gerechnet hat.


Es ist faszinierend aus nächster Nähe zu erleben, wie es sich anfühlen muss, wenn man sich in einer Art sprachlichen Dunkelkammer bewegt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, die einfachsten Dinge zu artikulieren und sich eingestehen muss, dass man auf andere angewiesen ist. Und es stimmt sehr nachdenklich und traurig, wahrzunehmen, wie der Alltag aussieht, den man sich ganz gewiss niemals so erhofft hat. Verena Boos konzentriert sich bei dieser Erzählung nicht nur auf die Gegenwart, sondern entwirft das Bild eines Lebens mit einer bewegten Vergangenheit, einer nicht ganz einfachen Kindheit und einer großen unerfüllten Liebe. Und sie setzt es in Verbindung mit der Zeit nach dem Schlaganfall, einer Zeit des Neubeginns, in dem alles an Sinn und Bedeutung verliert nur nicht die Menschen, die uns begleiten, Menschen die vorher nur Randfiguren in einem Spiel waren werden nun zu Ankern in der Bitterkeit des Augenblicks.


Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und fordert den Leser, immer mal wieder wechselt die Zeitebene oder auch die Erzählstruktur, doch diese leicht holprige Schreibweise passt ausgesprochen gut zur Thematik, zeigt wie das Erleben funktioniert, wenn nicht mehr alles begriffen wird. Und eine klare Abgrenzung der Kapitel sowohl im Schriftbild als auch durch die Jahreszahlen, lässt den Leser den Überblick behalten.


Das Besondere an diesem stillen, melancholischen Roman, der eine Traurigkeit an sich ausstrahlt, ist die Griffigkeit der Situation. Selten findet man ein Buch, welches sich so intensiv in die Sicht des Beschädigten vertieft, welches zeigt, was fehlt, wenn vieles verloren ist und es dennoch vermag eine durchgehende Lebenslinie aufzuzeigen mit Kanten, Sprüngen und schönen Tagen, die langsam aber sicher verblassen. „Kirchberg“ kratzt sehr am Menschlichen, es macht betroffen und sprachlos, es fängt Gefühle ein ohne sie direkt zu benennen und es beansprucht Raum für die vielen Gedanken, die aufgegriffen und nicht zu Ende gedacht werden. Und obwohl es in keiner Weise sentimental geschrieben ist, brachte mich die Erzählung doch nahe an den Abgrund zur traurigen Wahrheit und lässt die Frage: „Was bleibt von uns in dieser Welt, wenn wir nicht mehr sind, was wir waren?“, voller Absicht im Raum stehen.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne und eine Leseempfehlung für alle, die gerne tiefgründige Romane mit viel Aussagekraft und Gefühlsreichtum lesen. Für Leser die sich Gedanken machen möchten, worauf es im Leben ankommt und welche Dinge man regeln sollte, bevor einen das Schicksal unerbittlich einholt. Man sollte aber keine Wohlfühllektüre erwarten und muss bereit sein sich auf das geschriebene Wort einzulassen, insofern kein Buch für Zwischendurch dafür eines, was nachwirkt und mich sehr betroffen gemacht hat, insbesondere was die Kostbarkeit des Augenblicks anbelangt.

Veröffentlicht am 07.12.2017

Komplizenhafte Nachbarschaft

Babylon
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„Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?


Inhalt


Elizabeth kennt sich mit Partys nicht aus, eigentlich ...

„Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?


Inhalt


Elizabeth kennt sich mit Partys nicht aus, eigentlich hat sie weder die Wohnung noch den Freundeskreis dazu, aber spontan entschließt sich die in die Jahre gekommene Frau, ihr Wohnzimmer für ein Frühlingsfest auszustatten und bei dieser Gelegenheit gleich mal ihr Sortiment an diversen Sekt- und Weinkelchen aufzustocken, denn wie sie mit Erschrecken feststellt, hat sie nicht mal genügend Stühle geschweige denn Gläser für die geladenen Gäste. Einem mäßig unterhaltsamen Abend folgt eine umso schlaflosere Nacht, denn nach der Party erwürgt ihr befreundeter Nachbar Jean-Lino seine Frau und bittet die schockierte Elizabeth um Hilfe – es muss doch möglich sein, die Leiche unbemerkt aus dem Haus zu schaffen, wenn da nur nicht der für den Mörder unpassierbare Personenaufzug wäre. Ein kleiner Freundschaftsdienst ist doch kein Verbrechen und Elizabeth sieht die Notwendigkeit ihrer Mithilfe durchaus ein …


Meinung


Dieser Roman klang für mich nach einer bitterbösen Erzählung mit unglücklichen, skrupellosen Menschen, die durch eine Vereinbarung zu Komplizen werden und deren Lebensgeschichte vielleicht noch weitere Leichen im Keller offenbart. Doch leider konnte „Babylon“ diesen Anspruch nicht erfüllen, denn es fehlt der Geschichte einerseits an Format, dann wieder an Tiefgang und letztlich vor allem an einer klaren Erzählstruktur. Deshalb konnte mich dieses skurrile Geschehen, über eine aus der Norm gelaufene Party nicht überzeugen obwohl es sich stellenweise ganz amüsant lesen lässt.


Durch einen durchweg kurzen, szenenhaften Schreibstil, der mich sehr stark an die Regieanweisung zu einem Bühnenstück erinnert hat, kam kein rechtes Gefühl für die Belange der Protagonisten auf. Oberflächlich betrachtet, entsteht sehr wohl ein Bild von der Nachbarin in ihrer Hello-Kitty Schlafanzughose und den Plüschpantoffeln oder auch vom Ehemann, der einen gesegneten Schlaf trotz Leiche im Obergeschoss hat und natürlich auch vom unfreiwilligen Mörder, der Katzen liebt aber Hühnchen nichts menschliches abgewinnen kann, doch das reduziert sich auf ihre Rolle, den Part den sie innerhalb der Erzählung einnehmen und verrät leider gar nichts zu Hintergründen, Gedankengängen und tatsächlichen Eigenschaften. Letztlich wirkt das ganze wie ein bizarr arrangiertes Kammerstück ohne tieferen Sinn.


Dennoch führt die französische Autorin mit leichter Hand durch ihr Buch, sie lässt hin und wieder sehr schöne, tiefgründige Sätze an die Oberfläche dringen und verbindet gekonnt eine abstrakte Handlung mit sehr normalen, alltäglichen Begebenheiten. Deshalb war der Realitätsfaktor nicht so gering wie befürchtet und das mag ich nun wiederrum an solchen Geschichten, die mehr beschreiben als bewerten, die einen ungetrübten Blick auf eine ungewöhnliche, fast unvorstellbare Situation werfen.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen kurzen, unterhaltsamen Roman über eine Wohngemeinschaft, die zwischen komplizenhafter Nachbarschaft und abschreckendem Beispiel angesiedelt ist und die den Leser in eine gar absonderliche Aufführung mitnimmt, die weder besonders erschreckend noch bitterböse wirkt. Gezeichnet werden Menschen, die handeln, die unterlassen und denen es nicht nur um ihre eigene Meinung geht, sondern auch um die Interaktion miteinander. Leider bleibt „Babylon“ sehr oberflächlich und lässt mich eher ein argwöhnisches Auge auf große Koffer in kleinen Fahrstühlen werfen, als auf die Schuld, die ein Mord normalerweise hervorruft.