Die Grenze zwischen Turbulenz und Ordnung
Schloss aus Glas„ Unsere Fahrten mit Elvis erinnerten mich daran, wie leicht es war, einfach seine Sachen zu packen und weiterzuziehen, wenn man den Drang dazu verspürte. Sobald man fest dazu entschlossen war, zu gehen, ...
„ Unsere Fahrten mit Elvis erinnerten mich daran, wie leicht es war, einfach seine Sachen zu packen und weiterzuziehen, wenn man den Drang dazu verspürte. Sobald man fest dazu entschlossen war, zu gehen, war wirklich nichts dabei.“
Inhalt
Die Familie Walls lebt ziemlich bewusst ein Vagabundenleben und zieht mit ihren vier Kindern und einer motorisierten Schrottkiste quer durch Amerika. Der Vater Rex ist nicht nur ein eingefleischter Alkoholiker, sondern auch ein ambitionierter Träumer, denn er verspricht seinen Kindern, sobald er mit dem selbst gebauten Goldsucher erfolgreich war, hätten sie soviel Geld, dass er für die Familie mitten in der sonnigen Wüste ein Schloss aus Glas bauen könnte, in dem sie dann friedlich leben werden. Die Mutter lebt für ihre Kunst und malt, dichtet und schreibt den lieben langen Tag. Sie tapeziert die Wände mit Bildern und taucht mehrere Stunden am Tag in ihre eigene Welt ab. Nur die 4 Kinder überlegen tagaus, tagein, wovon sie leben können, was sie essen sollen, wie sie die Miete bezahlen können. Mit Gelegenheitsjobs hält sich Familie Walls gerade so über Wasser, doch immer nur ein paar Wochen, dann ist das Geld wieder verspielt oder versoffen … Und was die Eltern kaum oder nur unwesentlich stört wird für Jeannette und ihre Geschwister zur Bürde: Wann wird es ihnen gelingen aus ihrem Zuhause, was es genau genommen gar nicht gibt, auszubrechen?
Meinung
Prinzipiell habe ich mit autobiografischen Romanen keine große Erfahrung, weil mich das Leben und Wirken echter, aber mir unbekannter Menschen nicht direkt am Herzen liegt, zwar beanspruchen Biografien oftmals einen hohen Informationswert und eröffnen neue Perspektiven, dennoch habe ich eher durch Zufall und Lesertipps zu diesem Buch gegriffen. Doch diese Erzählung konnte mich definitiv packen, denn mal abgesehen von dem autobiografischen Hintergrund trifft man hier auf Menschen, die sich irgendwie und täglich aufs Neue durchs Leben kämpfen müssen und dennoch immer einen Weg finden obenauf zu bleiben.
Jeannette, selbst die Zweitgeborene schildert dem Leser sehr realistisch und erschreckend zugleich die Erlebnisse ihrer frühen Kindheit, bis hinein in ihr Erwachsenenleben. Als Lieblingstochter ihres Vaters beschreibt sie die Höhen und Tiefen des Alltags in einer Familie mit leeren Schränken, fehlenden finanziellen Mitteln und weitreichenden Sehnsüchten. Sie kann natürlich, weil aus erster Hand erlebt, sehr differenziert und nachhaltig die Charaktere ihres Romans zum Leben erwecken. Und so heben sich die Eltern ganz deutlich von den Kindern ab, die älteren Geschwister distanzieren sich viel schneller vom elterlichen Lebensstil, während die jüngeren einfach erfinderisch die Lücke im System suchen. Sie zeigt aber auch die zwiespältigen Gefühle ihrer Eltern, die eine freie, selbstbestimmte Erziehung favoritisieren und sich lieber um die Bildung als ums Essen kümmern, die irgendwie gefangen in sich selbst und andererseits doch so ungebunden wie nur denkbar leben. Auch das Geflecht der handelnden Personen untereinander wirkt sehr dicht und zeugt von Zusammenhalt und Stärke. Denn selbst als ungeliebte, ungern gesehene Außenseiter stehen die Mitglieder der Familie geschlossen beieinander und nehmen sich gegenseitig in Schutz.
Über die Jahre hinweg begleitet der Leser die Ereignisse, sieht die Entwicklung der Familie und muss feststellen, dass die Eltern eine ungewisse Turbulenz immer der gleichbleibenden Routine vorziehen. Dort, wo sie sesshaft werden, geht es ihnen schlechter als auf den langen Reisen durchs Land. Im Gegensatz dazu versuchen die Kinder jede Bruchbude, in der sie hausen zu verschönern, die Dächer zu reparieren und die Wände zu streichen und irgendwie an Essen zu gelangen. Der Traum, von dem der Vater seinen Kindern erzählt, rückt in immer weitere Ferne und Jeannette hakt das „Schloss aus Glas“ bald als Hirngespinst ab und versucht sich auf die tatsächlichen Möglichkeiten des Lebens zu besinnen. Und so erziehen Eltern Kinder, denen größter Wunsch es wird, ihrer Familie den Rücken zu kehren, um ein anderes, sorgenfreieres Leben zu führen.
Die große Stärke des Romans liegt an der Intensität der aufgegriffenen Beziehungen, an Begriffen wie Zuneigung, Liebe, Gemeinsamkeit aber auch generell an Dramatik, Enttäuschung und Rissen in der Gefühlswelt zwischen Eltern und Kindern. Stets hat der Leser das Gefühl, all die Einschränkungen und fehlenden Gesetzmäßigkeiten sind für die Kinder durchaus zumutbar. Denn anders als man es vielleicht von einer assozialen Bettlerfamilie erwartet, bekommt hier jeder Zuspruch, gibt es die kleinen alles wieder gutmachenden Gesten, gibt es Hoffnung und Perspektiven, die sich Kinder in jungen Jahren noch nicht vorstellen können und doch so nötig haben. Und so kann man das Elternpaar zwar nicht wirklich verstehen, doch man nimmt ihnen ihr Handeln auch nicht so übel.
Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diesen ungewöhnlichen, bewegenden Roman über die Kindheit, das Erwachsenwerden und die Möglichkeiten Einzelner sich aus misslichen Situationen durch puren Überlebenswillen zu befreien. Dieses Buch hallt lange nach und stimmt nachdenklich, zeigt differenzierte Lebensmodelle und ganz unterschiedliche Empfindungen von Glück. Allen voran stellt es aber die unausgesprochene, einfach vorhandene und unbesiegbare Liebe zwischen den Mitgliedern einer Familie ins Zentrum der Erzählung, die ihr Alltag derart zusammengeschweißt hat, dass sie Jahrzehnte später immer noch von gemeinsamen Erlebnissen, bitteren Erfahrungen und lustigen Anekdoten schwärmen. Berührend, anders, chaotisch und mit viel Lebensweisheit gespickt präsentiert uns hier Jeannette Walls die Wahrheiten ihrer Familie.