Zwischen Kriegen, Gräbern und guten Freunden
Das Ministerium des äußersten Glücks„Der Augenblick war so kurz wie ein Herzschlag. Aber das war unwichtig. Wichtig war, dass er existierte. Es war ein himmelweiter Unterschied, ob man in der Geschichte präsent war, oder ob man darin abwesend ...
„Der Augenblick war so kurz wie ein Herzschlag. Aber das war unwichtig. Wichtig war, dass er existierte. Es war ein himmelweiter Unterschied, ob man in der Geschichte präsent war, oder ob man darin abwesend war, völlig aus der Geschichte herausgeschrieben.“
Inhalt
Indien ist ein Land voller Absurditäten, voller Einwohner mit kreativen Ideen, voller Proteste und Konflikte auf den Straßen aber auch ein Land der Besonderheiten, der bescheidenen Ansprüche und der Aufrichtigkeit zwischen Menschen mit reinem Herzen. So beginnt Anjum, ein anfangs recht einsames Leben, aus der Not heraus auf einem Friedhof. Sie schläft zwischen Gräbern, kommuniziert mit den Besuchern des Friedhofs und beginnt, aus ihrer Misere eine stabile Lebenssituation zu schaffen, indem sie ein „Gästehaus“, eine Art Pension aufbaut, in der Fremde willkommen sind und wo es keinen Unterschied macht, woher man kommt, was man ist, wer man sein möchte und wohin einen der Weg führen wird.
Bald ist Anjum bekannt und ihr Freundeskreis wächst. Sie beherbergt Menschen mit einer bewegten Vergangenheit aller Altersgruppen und urteilt nicht über deren Leben. Gemeinsam mit Anjum entdeckt der Leser viele Geschichten über das Leid eines Landes, die Zerbrechlichkeit der Liebe, die Unbeständigkeit der Zeit, die Willkür des Lebens und die Gewaltverbrechen Einzelner an einer scheinbar hilflosen Minderheit. Doch zwischen den Grabsteinen erblüht auch die Hoffnung, die Zuversicht deren, die trotz ihres Schicksals an ein Morgen glauben und die sich einfach nicht unterkriegen lassen.
Meinung
Nach zwanzig Jahren hat die indische Preisträgerin Arundhati Roy ihren zweiten Roman veröffentlicht. Nach ihrem Erfolg mit „Der Gott der kleinen Dinge“ schließt sie nun ein monumentales Zeugnis der inneren Situation ihres Landes an, in dem sie eine Geschichte erzählt, die so besonders und aufwühlend geschrieben ist, dass sie sich ins Gedächtnis einbrennt und Lust darauf macht, sie ein zweites Mal aus einer anderen Perspektive, mit mehr Hintergrundwissen und anderen Vorstellungen zu lesen.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Roman um ein äußerst intensives, komplexes Leseerlebnis mit zahlreichen Namen, diversen Gedichtzeilen, einzelnen Erzählungen und einer Gesamtkomponente, die sich erst nach gut der Hälfte des Werkes erahnen lässt. Es gibt einen roten Faden, an dessen Rändern Menschen mit dramatischen Schicksalen, Ereignisse mit unbeschreiblichen Gewaltszenen und Weisheiten aus einer fremden Kultur stehen. Und erst nachdem man glaubt, diesen Faden fast verloren zu haben, schwingt sich die Erzählung zu Neuem auf und verrät plötzlich das, was man verzweifelt gesucht hat. Erst in der zweiten Buchhälfte wird der Leser mit dieser Geschichte vertraut, die laut Klappentext „in Scherben liegt“.
Dieses Buch prägt sich ein, es hinterlässt Spuren und Fragen, es ist wie ein Vorhang, der sich kurz öffnet um ein Szenario zu zeigen, welches voller Bilder und Emotionen ist und er schließt sich bald schon wieder um die Gedankengänge des Lesers anzuregen. Gerade dieses anspruchsvolle, sprachlich auf hohem Niveau angesiedelte Experiment, bringt den Zusatznutzen für Literaturbegeisterte.
Dennoch erfordert das Lesen höchste Konzentration und in gewisser Weise auch die Bereitschaft, sich auf vollkommen fremde Situationen und Menschen einzulassen, die so rein gar nichts mit dem eigenen Leben gemeinsam haben. Das fiel mir besonders schwer, weil es keinen Protagonisten gab, mit dem ich mich hätte identifizieren können und weil das Denken hier so universell ist wie der Glaube, die Politik und die Gesamtheit der Welt. Eine Beurteilung kann man nur in Ansätzen schreiben, jeder wird hier etwas anderes finden aber jeder kommt auf seine Kosten.
Fazit
Ich vergebe 4 Lesesterne, für diesen Roman, der auf mich wie ein Manifest wirkt, den ich nicht wirklich ins Herz geschlossen habe, der mich aber zutiefst bewegt hat und in seiner schriftstellerischen Form absolut überzeugen konnte. Dieses Buch trifft man irgendwann wieder, in einer anderen Situation, vielleicht mit anderen Ansichten und tieferen Bezügen zum Land selbst. Ein Buch zu dem man auch sagen könnte: „Man sieht sich immer zweimal im Leben.“ Und dessen Nutzwert, jedes Mal auf einer anderen Schwelle stehen wird. Hier hilft nur eins – selberlesen!