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Veröffentlicht am 06.11.2018

Ich wäre so gerne Astronaut

Raumpatrouille
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„Wenn ich schon nicht so leben konnte, wie ich fühlte, warum konnte ich dann nicht einfach so tun, als ob? Wäre das dann, wenn ich nur überzeugend genug wäre und fest an die Täuschung glaubte, nicht dasselbe ...

„Wenn ich schon nicht so leben konnte, wie ich fühlte, warum konnte ich dann nicht einfach so tun, als ob? Wäre das dann, wenn ich nur überzeugend genug wäre und fest an die Täuschung glaubte, nicht dasselbe wie die tatsächliche Erfüllung meiner Sehnsucht?“


Inhalt


Matthias, der Ich-Erzähler ist der Sohn des Bundeskanzlers Willi Brandt und wächst in einem durchaus behüteten Kosmos auf, der ihn hin und wieder daran erinnert, dass seine Jugend nicht zwangsläufig mit der seiner Klassenkameraden vergleichbar ist. Es gibt Tage, da drängt sich dieser Umstand mit Präsenz in seine Freizeit hinein, wenn er z.B. seinen Vater beim ungewohnten Fahrradfahren begleiten muss und dann scheint wieder alles normal, zwischen den Nachmittagen auf dem Bolzplatz und dem Anspruch nicht nur Briefmarken zu sammeln, sondern gleich noch Postbote als Berufswunsch zu entwickeln. Noch besser wäre aber eine Zukunft als Astronaut, jenseits der hiesigen Verpflichtungen, mit viel Spielraum für Ruhm und Ehre …


Meinung


In diesem kurzen Debütroman von Matthias Brandt, widmet sich der Autor kleinen Episoden aus dem Leben eines Heranwachsenden mit viel Humor und Fingerspitzengefühl. Bereits im Auftakt stimmt er den Leser auf die folgenden knapp 200 Seiten ein: „Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“ Damit wird deutlich, dass nicht unbedingt die wahrheitsgetreue Schilderung der Erlebnisse im Vordergrund steht, sondern vielmehr das Gefühl ein junger Mensch mit klaren Vorstellungen und motivierten Zielen zu sein. Und diesen Anspruch erfüllt das Buch auf jeden Fall.


Trotzdem erwartet man etwas mehr Besonderheiten, etwas weniger Unruhe und stellenweise größere Bedacht. Ausgeglichen wird dieser Umstand durch die vielen eindrücklichen, bildhaften Episoden, bei denen sich der Leser tatsächlich in den Kopf des Kindes hineinversetzen kann. Sei es bei der Vorstellung eines Lebens als gefeierter Fussballer, selbst wenn der Hauch jeder Begabung fehlt oder auch als magischer Zauberkünstler, dem dieser einfache, elementare Fehler einfach nicht passieren darf. Mit Matthias Brandt kann man wieder Kind sein und das macht für die wenigen Lesestunden, die man mit der Lektüre verbringt richtig Spaß.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen individuellen, unterhaltsamen Roman, der weniger tiefgründig und erhellend ist, als man sich das wünscht, dafür aber einen anderen Nerv trifft. Wer damit leben kann, kleine Bagatellen, Kinderweisheiten und scheinbar wahllos herausgegriffene Aspekte eines Heranwachsenden in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schmackhaft gemacht zu bekommen, der fühlt sich mit dieser Lektüre wohl. Wer auf Tiefgründigkeit und Weitsicht spekuliert und seine Prioritäten auf Eckpfeiler der wahren Ereignisse setzen möchte, der sucht vergebens. Ich schwanke zwischen beidem und vergebe daher eine mittlere Bewertung - doch kurzweilig ist das Buch definitiv.

Veröffentlicht am 21.10.2018

Kate Miller im Undercover Einsatz

Böse Seelen
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„Durch Wertschätzung kann man etwas Banales in etwas Schönes verwandeln. Damals war ich zu jung, um die Weisheit hinter ihren Worten zu verstehen.“


Inhalt


In ihrem 8. Fall wird die Polizeikommissarin ...

„Durch Wertschätzung kann man etwas Banales in etwas Schönes verwandeln. Damals war ich zu jung, um die Weisheit hinter ihren Worten zu verstehen.“


Inhalt


In ihrem 8. Fall wird die Polizeikommissarin Kate Burkholder als Undercover-Ermittlerin unter falschem Namen und mit einer erfundenen Identität in die amische Gemeinde Roaring-Springs versetzt, da der Bischoff vor Ort Eli Schrock angeblich Kinder misshandelt, Gemeindemitglieder züchtigt und nach aktueller Lage vielleicht sogar mit dem Tod eines jungen Mädchens in Verbindung gebracht werden kann. Und keine Polizistin kennt die Gepflogenheiten der Amischen besser als Kate, war sie doch selbst einmal Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft. Sie mietet sich einen alten, windschiefen Trailer und verzichtet für die nächsten Wochen auf jeglichen Komfort. Dafür gibt sie sich als Witwe aus, die nach dem Tod ihres Mannes einen Ortswechsel angestrebt hat, um ganz neu anzufangen. Unrechtmäßige Entdeckungen lassen nicht lange auf sich warten und schon bald bekommt Kate Insider-Informationen zugespielt. Doch der Bischoff misstraut ihr und setzt seine Schergen auf ihre Fährte, denn die Kate Miller, die sich in seinem Obrigkeitsgebiet niederlassen will, steckt ihre Nase viel zu tief in Dinge, die sie nichts angehen …


Meinung


Der Titel dieses achten Falls verspricht leise Gruselstimmung und abermals dunkle Geheimnisse im Verborgenen einer abgeschiedenen Glaubensgemeinschaft. Und auch die Idee, Kate Burkholder diesmal auf eine Undercover-Reise zu schicken klingt vielversprechend, kennt man doch als treuer „Stammleser“ bereits die Akteure vor Ort. Trotzdem bleibt das Spannungsniveau nach den ersten 100 Seiten etwas flach und lediglich die Treffen zwischen den amischen Frauen beim Quilten und die Begleitung eines Gottesdienstes haben mich tiefer in die Grundsätze der Amischen hineinblicken lassen, doch leider ist das etwas wenig. Der Fall selbst bleibt lange im Verborgenen und da sich an allen Seiten neue Vergehen auftun, bekommt man für den eigentlichen Mordfall kein richtiges Gespür. Wie immer konnte mich der Schreibstil an das Geschehen binden, denn ich mag die Erzählweise der amerikanischen Bestseller-Autorin Linda Castillo einfach zu gern, auch wenn ihr beim Voranschreiten ihrer Kate-Burkholder-Reihe zunehmend die Ideen auszugehen scheinen, insbesondere was die Verbrechen selbst betrifft.


Das alles hat nur wenig Bestand und über ein paar unterhaltsame Lesestunden bleibt nicht mehr viel übrig. Fraglich war in diesem Band auch die Bedeutung von Kates Lebensgefährten Tomasetti, der hier zu einer ziemlich blassen Randfigur verkommt und längst nicht mehr den Stellenwert einnimmt, den ich erwartet habe. Immer nur die gleichen Sorgen, Ängste und Vorbehalte – die Komponente des interessanten Privatlebens wird also auch nicht wieder aufgegriffen.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen schwächeren Teil der Kriminalreihe. Die Spannung und der Nervenkitzel bleiben hier in den Kinderschuhen stecken, obwohl der Undercover Einsatz durchaus neues Potential bietet. Leider drängt sich mir das Gefühl auf, dass die wirklich guten Bände (1-6) nun abgeschlossen sind und die neueren Geschichten einfach nicht mehr so viel Ideenreichtum und Faszination ausüben, möglicherweise entsteht dieser Eindruck aber auch, da ich alle Bücher mehr oder weniger in kurzer Abfolge lese. Kann sein, dass man besser kommt, wenn man zwischen den Fällen mehr Zeit verstreichen lässt, um die Protagonisten dann wieder neu zu entdecken. Aber da es aktuell nur noch den 9. Band gibt („Ewige Schuld“), werde ich diesen noch folgen lassen, bevor ich mir ein Gesamturteil bilde.

Veröffentlicht am 13.10.2018

Lass deinen Schmerz zu Wort kommen

Du springst, ich falle
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„Abwesend, lange Zeit habe ich dich abwesend erlebt. Abwesend vom Leben, von der Mutterschaft, von jeglichem Verlangen. Einverständig lächelnd triebst du langsam über dem Leben dahin.“


Inhalt


„Du springst, ...

„Abwesend, lange Zeit habe ich dich abwesend erlebt. Abwesend vom Leben, von der Mutterschaft, von jeglichem Verlangen. Einverständig lächelnd triebst du langsam über dem Leben dahin.“


Inhalt


„Du springst, ich falle“ ist ein autobiografischer Roman der 1980 in Teheran geborenen Maryam Madjidi, die sich mit ihrem Debüt auch ein Stück weit persönliche Lebens- und Leidensgeschichte vom Herzen geschrieben hat. Und das spürt man über alle Seiten hinweg, eine allumfassende, nicht wegzudenkende Auseinandersetzung mit den Wurzeln, die sie so sehr vermisst hat und der Sehnsucht nach der Heimat im Herzen. Die kleine Maryam hatte aber nicht die Möglichkeit, selbst über ihr Leben zu entscheiden, sondern wurde von den Überzeugungen der Eltern förmlich überrollt. Und dann ist da diese schmerzhafte Lücke, die nie zur Ausbildung gekommene Liebe, die Einsamkeit in einem fremden Land, im Haushalt von Menschen, die mit ihrem eigenen Schicksal hadern und kein Verständnis für die Befindlichkeiten ihrer Tochter haben…


Meinung


Die Gegensätze in der Erzählung haben einen gewissen Reiz, denn angefangen über eine dramatische Kindheit, in einem kommunistischen Elternhaus, mit Revolutionären als Erziehungsberechtigten, bis hin zu einem ruhelosen Erwachsenenleben, immer auf der Suche nach dem echten, wirklichen Platz im Leben, fließen alle Gedankengänge in den Handlungsverlauf ein. Dabei sind es kurze Episoden, fast schon Momentaufnahmen, die erst in ihrer Vielzahl ein schlüssiges Bild ergeben – und was der Leser erkennt ist eine verletzte Seele, die sich nach allen Seiten wehrt und jedwede Beeinflussung ablehnt. Aus einer kindlichen Ohnmacht folgt eine latente Unzufriedenheit und ein unterdrückter Groll auf vereitelte Chancen. Die Sprache ist poetisch, klar und formschön zugleich, man könnte auch sagen niveauvoll ohne allzu dominant zu wirken – ein klares Plus bei dieser Erzählung.

Was mir hingegen wahrhaft Bauchschmerzen bereitet hat, ist der Unterton, der Hintergrund, der sich für mich immer mehr in den Vordergrund gespielt hat. Denn die Identitätssuche der Protagonistin ist nicht nur sehr pessimistisch und schmerzhaft auf Grund ihrer fehlenden Heimat, sondern vor allem, weil sie Eltern hat, die ihr keinerlei Halt bieten können, die sie manchmal unterschätzen, dann wieder überfordern und eigentlich zu keiner Zeit das echte Wesen ihres Kindes entdecken. Demnach entwickelt sich die Geschichte weniger zu einer Abhandlung über das Leben in der Fremde mit all den nachempfindbaren Entbehrungen, als vielmehr zu einer Anklageschrift gegen die Eltern und ihre aufgezwungene Lebensweise. Immer wieder habe ich mich gefragt: „Wo ist die Liebe hin, war sie überhaupt jemals da?“ Und ich möchte mich emotional auf die Seite der mir unbekannten Eltern stellen und ihr Handeln irgendwie verteidigen, denn die Undankbarkeit, mit der die Tochter ihnen entgegentritt, bereitet mir Sorgen. Die Eltern wollten Freiheit und nahmen sie mit allen Konsequenzen, die Tochter wollte eine Heimat, hat sie aber nirgends gefunden – traurig, dramatisch und sehr bedrückend.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich gerne zu 4 Sternen aufrunde, denn sprachlich ist die Lektüre genau nach meinem Geschmack. Nur die alles überlagernde Schwermut, die Anklage, die innere Unzufriedenheit, all das war nicht Teil meiner Erwartungshaltung. Zu sehr ging es mir um einen innerfamiliären Konflikt, der durch die vordergründige Erzählung einer Emigration, nicht an seiner Schärfe verliert. Möglicherweise hätte mir das Geschriebene weniger abverlangt, wenn es fiktionaler und nicht so deutlich autobiografisch angelegt gewesen wäre. So bleibt aber ein bitterer Beigeschmack und die für mich erschütternde Erkenntnis, wie wenig man in den Kopf enger Familienangehöriger schauen kann und wie differenziert die Betrachtung objektiver Dinge erfolgt, wenn man ganz anders tickt. Definitiv kein Buch, mit dem ich mich identifizieren möchte und das finde ich schade, denn bedeutet es doch, dass mich die Emotionen nicht erreichen konnten.

Veröffentlicht am 17.08.2018

Die Kuckucksuhr und der Hungerengel

Atemschaukel
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„Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts ...

„Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit. Sie hat mit Schadenfreude nichts zu tun. Ich glaube, je kleiner die Scheu vor den Toten wird, umso mehr hängt man am Leben.“


Inhalt


Der 17-jährige Leopold Auberg wird nach Ende des Krieges in ein russisches Arbeitslager deportiert, in dem er fortan für 5 endlos lange Jahre, körperliche Schwerstarbeit zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen verrichten muss. In dieser Zeit sieht er viele Sterben, erlebt er eine brutale Gleichgültigkeit, gegenüber Befindlichkeiten jeder Art. Das einzige was zählt, ist das Überleben, das Nicht-Verhungern, das Abschalten, die Anpassung. Begriffe wie Demütigung, Scham, Gerechtigkeit und Toleranz kommen ihm schnell abhanden, ebenso wie seinen Leidensgenossen. Manch einer zerbricht, viele verlieren den Kampf und deshalb beschließt Leopold, einen inneren Frieden mit seinem Schicksal zu schließen. Er wird nicht aufbegehren, nicht flüchten, nicht hadern, er schenkt sein junges Leben dem Lager selbst, kämpft den Kampf mit dem allseits aktiven Hungerengel und übt sich in stoischer Haltung. Heimweh lässt er nicht zu, doch die Worte seiner Großmutter bei der Verschleppung durch die Patrouille bewahrt er im Herzen, um sie eines Tages wahrwerden zu lassen: „Ich weiss du kommst wieder.“


Meinung


Der auf Tatsachen beruhende Roman der deutschen Autorin Herta Müller, war 2009 für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert und basiert auf Gesprächen mit Überlebenden der russischen Kriegsgefangenenlager. Allein die gewählte Thematik lässt auf einen bitteren, schwermütigen Roman schließen, der Menschen in den Mittelpunkt rückt, die nichts mehr hatten, niemand mehr waren und doch ein Leben besaßen, in das sie vielleicht eines Tages zurückkehren könnten. Einige haben es geschafft und diese dürfen nun erzählen, was sie verloren haben, was sie besiegen konnten und was ihnen letztlich bleibt. Die Autorin bemüht sich, ihre Stoffsammlung über die Grausamkeiten in Form einer Geschichte zu formulieren, dennoch bleibt das Buch für mich ein Bericht, eine sehr sachliche, nüchterne Abhandlung mit wenig Romancharakter. Natürlich ist es kein Sachbuch, doch vermittelt es mehr Wissen als Gefühl und lässt mich so zwar teilhaben am Lagerleben und der endlosen Eintönigkeit in der Steppe, doch es findet keinen Weg in mein Herz. Vielleicht auch, weil ich persönlich keinerlei Bezug zu Gefangenenlagern habe und sich für mich nur ein Bild der Menschenunwürdigkeit zu einem unheimlich hohen Preis aufdrängt. Doch das habe ich anderen Büchern auch schon gelesen.


Die Charaktere selbst bleiben etwas blass, ihr Leid wird jedoch in zahlreichen Facetten aufgegriffen. Leopold war erst 17 Jahre als er interniert wurde, immer wieder musste ich mir das vor Augen halten, denn gefühlt war der schon viele Jahre älter, im letzten Drittel des Buches dann die Rückkehr nach Hause, ein Leben jenseits der abgeschnittenen Freiheit und doch nichts anderes als ein seelisches Gefängnis. Nie mehr ist er der Mann geworden, der er hätte sein können, wenn es dieses Kapitel nicht gegeben hätte.


Es gibt zwei Punkte, die mich dazu bewogen haben, das Buch besser zu bewerten, als ich es tatsächlich empfunden habe. Zum einen ist es die Tatsache, dass Herta Müller hier einen Roman gegen das Vergessen geschrieben hat, mit Hilfe jener Zeitzeugen die mittlerweile nicht mehr leben. Sie hat ihnen eine Stimme gegeben, die auch Generationen später noch wirkt– ein wichtiger, sehr elementarer Faktor der zeitgenössischen Literatur.

Und zum anderen ist es die Kraft ihrer Sprache, die Wortwahl, die bedeutungsschwangeren Sätze, die mich immer wieder haben innehalten lassen und die für mich das Glanzstück dieses Werkes sind. Ganz philosophische Betrachtungen, schön formuliert, teilweise in selbstgewählten, abstrakten Begriffen wie „Atemschaukel“, „Hungerengel“, „Herzschaufel“ oder „Wangenbrot“. Dieser nicht ganz alltägliche Schreibstil, bleibt mir in Erinnerung und ich könnte mir dieses Stück Literatur auch sehr gut im Unterricht vorstellen, weniger wegen der Einprägsamkeit, vielmehr, um zu zeigen, wie es war, zum Gedenken und Erörtern. Denn all das verspürt man beim Lesen: den Wunsch sich auszutauschen über die Inhalte und Erkenntnisse.


Fazit



Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen klaren, aussagekräftigen, sachlichen Roman über ein Leben in der Einöde, immer an der Grenze zwischen Sterben und Überleben, fernab der Menschlichkeit, fernab der emotionalen Zuwendung, beschränkt auf die nächsten 24 Stunden, die überlebt werden müssen. Erschreckend und bewegend ist das Gesamtszenario, die Gründe für diese verachtende Lebensweise, die Sinnlosigkeit des Menschseins im Angesicht der Willkür anderer. Gerechtigkeit kann man nicht erfahren, sich nicht auf Glück und Zufälle berufen, noch nicht einmal begreifen, welche seelischen Verwundungen entstanden sind und doch setzt sich ganz zum Schluss ein überwältigender Gedanke fest: es wird immer, irgendwie weitergehen. Nicht unbedingt hoffnungsfroh aber zumindest überlebensfähig. Ein Roman, bei dem man das Gefühl verspürt, sich mit der Gemeinschaft darüber auszutauschen, selbst wenn er es nicht in die Riege der persönlichen Favoriten schafft.

Veröffentlicht am 14.08.2018

Ich sterbe nicht!

Mercy Seat
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„Es ist wie die Erinnerung an Schmerz, nachdem der Schmerz abgeklungen ist. Es ist eine Erinnerung. Der Schmerz hat aufgehört.“


Inhalt


Will Jones wartet geduldig auf seine Hinrichtung, denn ihm bleibt ...

„Es ist wie die Erinnerung an Schmerz, nachdem der Schmerz abgeklungen ist. Es ist eine Erinnerung. Der Schmerz hat aufgehört.“


Inhalt


Will Jones wartet geduldig auf seine Hinrichtung, denn ihm bleibt nichts anderes übrig, nachdem er an der Vergewaltigung einer jungen weißen Frau angeklagt wird, die in Wahrheit seine große Liebe war. Zu diesem Zweck wird extra der elektrische Stuhl in die kleine Ortschaft St. Martinsville in den Bundesstaat Louisiana transportiert. Seine letzten Tage erträgt er still, in Erinnerung an eine Zeit, jenseits all seiner Sorgen. Er hat sein Urteil akzeptiert, möchte es nur noch schnell vollstreckt wissen und erfasst den unmenschlichen Sinn des Vorhabens dennoch nicht. Wäre er kein Mensch mit schwarzer Hautfarbe, so hätte es sich möglicherweise zu kämpfen gelohnt, doch so freut sich der Mob bereits auf ein grausiges Spektakel und wartet mit Spannung auf den letzten Atemzug des jungen Mannes. Und selbst die berechtigten Zweifel einzelner Beteiligter werden beiseite geschoben, um ein weiteres Beispiel zu demonstrieren, zu welch grausamen Strafen, die Spezies Mensch im Namen der Gerechtigkeit bereit ist …


Meinung


Basierend auf einer wahren Begebenheit schildert die junge amerikanische Autorin Elizabeth H. Winthorp das besondere Schicksal eines Mannes, vor dem Hintergrund eines sehr fragwürdigen Rechtssystems, geprägt von korrupten Mitbürgern, abhängigen Staatsanwälten und sensationslüsternen Bewohnern einer Kleinstadt, denen zwar allerlei Gedanken bezüglich menschlichen Versagens durch den Kopf gehen, die aber eine anscheinend unumkehrbare Entscheidung getroffen haben, die sie nun um jeden Preis vollziehen werden. Gleich zu Beginn des Buches wird der Leser mit einer Vielzahl von Akteuren konfrontiert, die alle ein winziges Puzzleteilchen im Getriebe der angesetzten Vollstreckung sind und aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus schildern, was sie antreibt, was sie bewegt und welche Dinge chronologisch passieren. Doch gerade diese Vielfalt der Erzählstimmen hat mir den Roman etwas vergällt, weil den Mensch Will Jones dadurch nicht die für mich erhoffte Präsenz hatte und alles sehr distanziert und objektiv beschrieben wurde.


Jeder Charakter im Buch hat sein eigenes Päckchen zu tragen und eine mitunter für den Fall unerhebliche Sichtweise auf die Dinge. Hätte sich die Autorin auf weniger Protagonisten berufen und diese mehr von ihrem Innenleben erzählen lassen, wäre mir die an sich bedrückende Geschichte einer geplanten Hinrichtung sicherlich näher gegangen.


Etwas schade empfand ich auch die Tatsache, dass man als Leser schnell erahnt, auf was diese Geschichte hinausläuft, dass nimmt der Sache die Spannung, die Unvorstellbarkeit des Ganzen und versetzt die Leserschaft in die Rolle des stillen Beobachters. Und obwohl sich die Autorin große Mühe gibt, ihre Wahrheiten und Einsichten in schöner Sprache zu vermitteln, konnte ich mich in keinem, vor allem nicht in den unrechtmäßig Verurteilten Will hineinversetzten – sehr schade. Mag sein, dass sie keinen fiktiven Roman über eine historische Begebenheit schreiben wollte, dass sie sich lieber an die Tatsachen gehalten hat und ihre zur Verfügung stehende literarische Freiheit ganz bewusst nicht nutzen wollte, doch mich hat das etwas enttäuscht.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen historisch inspirierten Roman, der ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte aufarbeitet, der sich mit Themen wie Schuld und Reue, Angst und Akzeptanz, Glauben und Wundern beschäftigt und dennoch sachlich bleibt. Echte Nähe und Emotionalität habe ich vermisst, dafür aber ein unterhaltsames, kurzweiliges Buch gefunden, in dem Einige über sich selbst hinauswachsen, andere trotz ihres Unverständnisses auf der Strecke bleiben und die Hoffnung auf ein Morgen durchaus spürbar wird.